Wer allein über den Ozean segelt, provoziert unangenehme Fragen. Zu Recht. Solo segeln ist gefährlich. Man kann es nicht in Kursen lernen. Es bleibt nur der harte Weg, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Seit vier Jahren bin ich dran und werde seither mit dem Stärksten belohnt, dass das Segeln bietet: Grenzerfahrungen und Überwindung von Grenzen.
Lord Howe Island im Pazifik. 500 Meilen östlich von Sydney. Gestern zog ein Sturm durch die Lagune. Nachdem die Böen schneller als 50 Knoten wurden, zerlegten sie meinen Windgenerator. Während ich noch überlegte, wie ich dieses wild gewordene Stück Technik bändigen kann, ohne dabei meine Hand zu verlieren, flogen mir die Kohlefasern um die Ohren wie 100 Dollar Noten. Ich habe Ersatz, ich weiß, was sie kosten. Die unberechenbare Heftigkeit der Böen hatte die elektrische Bremse überfordert. Und mich auch.
Am nächsten Tag bläst bester Segelwind, 15 Knoten aus der richtigen Richtung. Aber es steht eine hohe Brandung. „Willst du unter diesen Bedingungen raus?“, fragt der Port Operator, der vor allem ein Lagunen Operator ist und die schmale Ausfahrt überwacht. Ich will. Rechts und links bricht die Brandung am Riff. Ich schätze die Wellen auf drei Meter und nehme Kurs auf die Mitte.
Genau jetzt fällt mir ein, dass ich noch mit der GoPro-Kamera filmen wollte. Ich lasse das Steuerrad allein und hole sie aus dem Salon. „Reykja“, mein Schiff, beginnt auf und ab zu tanzen. Ein erster Brecher steigt ins Mittelcockpit ein und strömt zielsicher Richtung Salon. Oh nein. Ich vergaß den Niedergang zu schließen. Erneut das Steuerrad verlassen, im wild stampfenden Schiff die Schlagscheiben in die Führung würgen. Geschafft, und geschafft auch die Ausfahrt.
Draußen steht eine vier Meter hohe See. Imposant, aber nicht gefährlich, sie bricht nicht. Nun das Großsegel entrollen. Es klemmt. Ausgerechnet jetzt. Aufs Vordeck möchte ich nicht laufen, da fliegt viel nasse Gischt und das Deck flattert wie ein startendes Huhn. Hätte ich das Großsegel probeweise am Ankerplatz ausrollen sollen? Ich setze allein die Fock und stelle den Motor ab. Endlich segeln. Und Zeit zum Nachdenken über diese Fehler, die vor allem beim Alleinsegeln ärgerlich sein können.
Vier Jahre mache ich das jetzt. In Fehmarn gestartet, liegen inzwischen zwei Ozeane hinter mir. Ich bin nicht über Bord gegangen. Ich habe mich nie schwer verletzt. Leicht schon, dazu gleich mehr. Aber ich habe mich auch nie gestritten mit mir, musste Fehler anderer ausbügeln, habe nie schlecht gegessen oder etwas gegen meinen Willen machen müssen. Ich bin frei und ich bin zu hundert Prozent verantwortlich. Habe ich aus vier Jahren Fehlern gelernt? Einiges, denke ich, aber längst nicht alles.
Der Systematik halber unterscheide ich in passive und aktive Sicherheit. Passive Sicherheit ist alles, was ich am Boot fürs Einhandsegeln nach und nach baulich verändert habe. Aktive Sicherheit ist, was ich heute anders mache als früher.
Ein Beispiel passiver Sicherheit: „Reykja“ hatte früher einen 63 cm hohen Seezaun wie viele Yachten. Hübsch. Seit Griechenland hat sie eine 85-cm-Reling aus Edelstahl. Hässlich. Aber ein Riesengewinn. Ich kann aufs Vordeck laufen, ohne mich umständlich an einer Sicherheitsleine anzugurten und im dümmsten Moment wieder losgurten zu müssen, weil das Strecktau nicht lang genug ist. Ich halte mich fest. Und begebe mich nicht in Lebensgefahr, wenn ich das Vordeck betrete und eingreifen muss.
Mein Wunsch als Alleinsegler war, alle Manöver aus dem sicheren Cockpit erledigen zu können. In einer Position hinter dem Steuerrad. Ich muss gleichzeitig steuern, reffen oder dichtnehmen können. Mir hilft dabei, dass „Reykja“ eine dreißig Jahre alte Rollanlage für das Großsegel hat. Ich weiß, über dieses Thema könnte man endlos lange streiten. Es ist nun einmal so, ich muss mit der Rollanlage leben. Auch bei 30 Knoten Wind. Und meistens blockiert sie nicht. In Lord Howe hatte sich bei der schaukeligen Ausfahrt nur ein Fallende in der Spindel verklemmt.
Die wichtigsten Systeme sind inzwischen doppelt, dreifach oder vierfach vorhanden. Für die Steuerung: Innen- und Außensteuerstand, Windfahne, Autopilot, Ersatzpinne, und nicht zu vergessen, die konstruktiv bedingte Kursstabilität des Langkielers. Für die Energie: Wind- und Sonnengenerator, tragbarer Generator, Generator am Motor. Elektronische Seekarten auf Plottern, Tablet und Smartphone. Klingt nach Overkill. Zu viel des Guten. Aber selbst diese Systeme sind schnell am Anschlag. Ein Beispiel? „Reykja“ hat zwei Rollanlagen für Vorsegel. Am Vorstag und am Kutterstag. Genua und Fock können sich gegenseitig ersetzen, dachte ich beruhigt. Dann fielen vorgestern beide Systeme aus. Die Genua am Vorstag verklemmte, keine Ahnung wo.
In den Masttopp klettern wollte ich nicht, die Wellen gingen immer noch hoch. Die Fock, als Ersatz ausgerollt, kam vier Stunden später von oben. Der Schäkel, mit dem sie am oberen Teil der Rollanlage befestigt ist, war gebrochen. Dabei hatte ich ihn extra mit Kabelbindern gesichert.
Sechs Stunden später würde Starkwind einsetzen, 25 Knoten wahrer Wind, in Böen 35. Auf Anwindkurs ist das viel. Die Fock ist zu groß, um sie unaufgerollt bei 35 Knoten gegen den Wind zu fahren. Aber sie ist mein Antrieb, mit Großsegel allein komme ich nirgendwohin. Zum Glück lag eine kleine alte Fock irgendwo in den tiefsten Tiefen der Backkiste. Und ich hatte ein zweites, freies Kutter-Fall. Mein System war also dreifach gesichert. Und trotzdem wurde es knapp.
Redundanz ist das Zauberwort beim Alleinsegeln. Je mehr Systeme sich gegenseitig ersetzen können, desto besser. Es wäre zum Beispiel undenkbar, über mehrere Tage 24 Stunden lang Ruder zu gehen. Es ist schlicht nicht möglich. Wichtig auch: Ich muss alles auch bei Seegang über das Schiff tragen können. Bei einer Genua, die 30 Kilogramm wiegt, komme ich an meine Grenzen. Zum Glück war es in dem Fall nur die leichtere Fock.
Welche Fehler mache ich selbst? Vielleicht habe ich immer noch nicht hundertprozentig verstanden, dass ich der wichtigste Gegenstand an Bord bin. Unter keinen Umständen darf ich mich verletzen oder ausfallen. Alleinsegeln heißt, dass es mir gut gehen muss. Zum Beispiel darf ich nicht seekrank werden. Ich brauche meistens drei Tage, bis ich Seebeine bekomme, und solange müssen Medikamente her, die wirken. Wird mir doch übel, habe ich für den Notfall noch Zäpfchen gegen Erbrechen. Ich habe einmal den Fehler gemacht, das Verfallsdatum nicht zu checken. Es lag zwei Jahre zurück. Die Zäpfchen hatten sich inzwischen verflüssigt und es ist eine langwierige Kunst, sie dann trotzdem zum Wirken zu bringen …
Überhaupt Medikamente. Man muss sich nicht nur für das Richtige entscheiden, sondern auch seine Wirkung kennen. Bei einem Fieberschub mit Erbrechen hatte ich mich für Antibiotika entschieden. Nur wusste ich nicht, dass sie bis zu vier Tage brauchen, um zu wirken. Am dritten Tag wollte ich die Behandlung abbrechen, weil es mir immer noch lausig ging. Am vierten Tag erstand ich schlagartig von den Toten auf.
Es geht auch weniger dramatisch. Ich habe gelernt, die Barfußroute nicht barfuß zu segeln. Das Deck von „Reykja“ ist ein Fakir-Brett. Gespickt mit Travellerschienen, Blöcken, Leinen, Pollern. Die Bilanz der Barfußroute sind zwei gebrochene Zehen und diverse Blutergüsse. Mein Kompromiss inzwischen heißt: nie ohne Sandalen an Deck.
Ein letzter Punkt: Wann schlafe ich? Die Rechtslage ist klar: Auf einem Schiff muss jederzeit „gehöriger“ Ausguck gehalten werden (Kollisionsverhütungsregeln, Regel 5). Den Ausguck kann Technik übernehmen, aber nicht immer. AIS-Empfänger und AIS-Sender mit ihren Alarmfunktionen sind die wichtigste Technik. Dazu kommen UKW-Funk Kanal 16, Dreifarbenlaterne im Masttopp wegen hoher Wellen, Radar, Radarreflektor und Horn.
Segele ich parallel zur Küste, schlafe ich nur so lange, wie ich bei einer Winddrehung bis zum Crash in die Küste hätte. Zwölf Meilen parallel zur Küste bei sechs Knoten Fahrt ergibt bei mir maximal 90 Minuten Schlaf, der Wind könnte ja zunehmen. Sind Fischer in der Nähe, schlafe ich gar nicht. Sie haben Vortritt beim Fischen und fahren bizarre, unvorhersagbare Kurse. Ansonsten, auf dem Ozean: 90 Minuten Schlaf. Das entspricht einem Schlafzyklus, mit Tiefschlaf und Traumphase. Oder zwei Schlafzyklen, wenn ich tagelang kein Schiff gesehen habe.
Ich weiß: Manche Alleinsegler stellen ihren Wecker auf 20 Minuten. Aber ich habe keinen Organismus, der das über Tage oder gar Wochen durchhält. Meine Regel eins: Dem Alleinsegler muss es gut gehen, gilt auch hier. Schlafmangel beeinträchtigt Reaktionsfähigkeit und Entscheidungsvermögen massiv. Es muss Möglichkeiten geben, mindestens 90 Minuten am Stück zu schlafen.
Und warum mache ich das alles? Warum segle ich allein? Das ist eine philosophische und keine technische Frage. Nur so viel: Der Einhandsegler entscheidet alles selbst. Die Wahl des Kurses, ob er mehr oder weniger Risiko eingeht, welche Fehler er macht und wie sie korrigiert werden. Es gibt keine Crewmitglieder, die Fehler machen, keinen Partner, der reinredet, es gibt keine Ausreden, es gibt keinen Streit, es gibt nur mich. Eine Grenzerfahrung.
Aber wenn ich stundenlang am Bug sitzen kann und in die Wellen schaue, wenn ich niemandem erklären muss, was ich da mache, wenn ich zurückgehen darf, wann ich will, in die Wärme des Salons, den Kurs checke, der mein Kurs ist, meine Segelstellung korrigiere, ohne zu erklären, warum – dann möchte ich mit keinem tauschen, der in einer Crew unterwegs ist.
Der 69-Jährige erwarb die 30 Jahre alte Stahl-Ketsch „Reykja“ 2017. Nach insgesamt dreijähriger Vorbereitung startete er 2020 zu Beginn der Corona-Zeit von Fehmarn aus und erkundete seither das Mittelmeer, die Karibik und die Südsee.