Nils Leiterholt
· 16.10.2024
Wenn Simon Heindl sein bisheriges Zuhause besuchen will, muss er einen riesigen Betonkomplex aus den siebziger Jahren durch eine große Glastür betreten. Heute sitzen dort drei junge Segler auf einem Sofa. Vor ihnen auf dem Tisch steht gerade das Mittagessen. Für die Nachwuchs-Athleten gibt es Pasta. Wir befinden uns in Kiel-Schilksee. Hier betreibt der gemeinnützige „Trägerverein Olympiastützpunkt Hamburg/Schleswig- Holstein“ ein eigenes, kleines Segelinternat. Unterstützt wird er dabei unter anderem vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem Deutschen Segler-Verband (DSV). Heindl war bis zum Abi im vergangenen Frühjahr Schüler hier.
Hinter einer weiteren Glastür betritt der Ehemalige einen langen Flur. Auf der Wasserseite befinden sich die Zimmer der Sportler. Jedes hat ein eigenes kleines Badezimmer. Eingerichtet sind sie mit einem Schrank, einem Schreibtisch und einem Bett. Durch bodentiefe Fenster kommt viel Licht hinein. Außerdem praktisch ist der frei stehende Heizkörper, auf dem die Segelinternatsschüler nach dem Training ihre nasse Sachen trocknen können. Auch auf der anderen Flurseite baumelt Segelequipment wie Neoprenanzüge, Spraytopps und Schwimmwesten an Wäscheständern. Außerdem steht auf dem Flur für jeden Sportler ein Spind.
„Das hier war zwei Jahre lang meine Stube“, sagt Heindl, während er auf eine der Türen zeigt. Die Zimmer sind maritim in Blau und Weiß gehalten. Ihre Bewohner haben sie sich sehr persönlich eingerichtet, immerhin leben sie hier mindestens zwei Jahre. Der 19-jährige Heindl hat schon viel Einsatz für seinen Traum von einer Olympiateilnahme im Segeln gebracht. Vor knapp zweieinhalb Jahren zog er in das Internat, um am Bundesstützpunkt in Schilksee die bestmögliche Förderung zu erhalten.
Im Alter von 17 Jahren aus seiner nordrhein-westfälischen Heimat Gruiten, östlich von Düsseldorf, in die deutsche Hauptstadt des Segelsports zu ziehen, hat er nicht bereut. „Ich wusste, dass es die einzige Möglichkeit ist, um den nächsten Schritt zu machen“, so Heindl, „für meinen Weg war es auf jeden Fall das Richtige, deshalb würde ich es wieder tun“.
Seinen Sport hat Heindl während eines Segelcamps am Unterbacher See in Düsseldorf für sich entdeckt. Dementsprechend logisch ist damals auch der Schritt, in den dort ansässigen Düsseldorfer Segelclub Unterbacher See (DSCU), einzutreten, wo er segeln lernt und seine ersten Erfahrungen sammelt. Mittlerweile startet der 49er-Steuermann unter dem Stander des Kieler Yacht-Clubs (KYC). Auch sein Segelpartner, der ebenfalls 19 Jahre alte Conrad Jacobs, segelt für den KYC. Gemeinsam wurden sie in der vergangenen Saison 49er-Weltmeister ihrer Altersgruppe U 21. Auch Heindls Vorschoter Jacobs kommt aus Nordrhein-Westfalen. Ursprünglich stammt er vom Möhnesee, der nord-östlich vom Unterbacher See liegt. Wer sie nach ihrem übergeordneten Ziel fragt, dem antworten sie ohne lange nachdenken zu müssen. „Für uns sind das schon die Olympischen Spiele in Los Angeles, 2028“, so Heindl.
Das Leben im Internat hat er in guter Erinnerung: „Es war schon eine megacoole Zeit. Die Vorteile überwiegen für mich eindeutig“, so der Absolvent. Dennoch habe es in den zwei Jahren auch Phasen gegeben, die schwierig gewesen seien. „Natürlich gibt es auch in so einer Gemeinschaft Menschen, mit denen man nicht voll und ganz auf einer Wellenlänge ist. Gerade in unserem jungen Alter war es dann schon belastend, wenn man sich nicht richtig aus dem Weg gehen kann“, erzählt Heindl freimütig.
Die Boote der angehenden Olympioniken vom Segelinternat liegen wenige Schritte vom Internat entfernt in der Halle des DSV-Bundesstützpunktes. Nachdem die Sportler ihre 49er auf den Slipwagen aus diesem monströsen Gewölbe gezogen haben, bringen sie sie zur Sliprampe, wo ihr heutiger Trainer, der Olympiateilnehmer im 49er von 2004, Max Groy, schon sein Schlauchboot besteigt.
Groy hat kurzfristig das Training des Nachwuchskaders 1 (NK 1) übernommen, nachdem der vorherige Trainer im Frühjahr damit aufgehört hatte. Eigentlich ist er Bundestrainer der 49er Senioren und hat das deutsche Team auch in Marseille betreut. „Die Olympiateilnehmer und alle, die eine auf dieses Jahr gerichtete Kampagne gefahren sind, steigen so richtig allerdings erst im neuen Jahr wieder ein. Deshalb gucke ich, dass die Jungs aufs Wasser kommen und interimsmäßig von mir trainiert werden“, erläutert Groy.
Mit seinem Rib nimmt er Kurs auf die Hafenausfahrt von Kiel-Schilksee und beginnt umgehend damit, seine Schützlinge zu beobachten – die Hauptaufgabe des Trainers. Nach nur kurzer Zeit am Wind hat Groy auch schon seine ersten Erkenntnisse gezogen. Als er umdreht, segeln die Trainees dennoch weiter Richtung Nordosten. „Eigentlich sollten sie langsam in meine Richtung zurückkommen. Wenn wir schon länger zusammenarbeiten würden, wäre das auf jeden Fall so“, sagt er ironisch. Mit seiner Trillerpfeife, die ihm lässig um den Hals hängt, wird er im Laufe des Trainings immer wieder laut vernehmbare akustische Signale geben. Sei es zum Sammeln oder um die Startsignale zu den Regattaläufen zu geben.
In der Leistungssportlerklasse der Gemeinschaftsschule Friedrichsort (IGS Friedrichsort) kommen die besten Nachwuchssportler Schleswig-Holsteins zusammen. Gemeinsam müssen vor allem die Handballer des THW Kiel, die Fußballer von Holstein Kiel und auch die Segler die Schulbank drücken. „Das Portfolio der Schule ist auf die Bedürfnisse, die wir als Nachwuchsathleten so haben, abgestimmt“, sagt Heindl. So können an der IGS beispielsweise schriftliche Prüfungen auch im Ausland abgelegt werden. Während der Klausur betreut dann einer der mitgereisten Trainer die Sportler beim Lösen der Aufgaben.
Hendrik Ismar, der den DSV-Bundesstützpunkt leitet, kann von so einer Prüfung aus der Trainerperspektive berichten. „In meiner letzten Saison als 470er-Bundestrainer habe ich sogar eine schriftliche Abiturprüfung abgenommen“, berichtet Ismar. Seine Sportlerin habe eine Abiturprüfung in Biologie ablegen müssen, für ihn ein lustiges Déjà-vu, weil er damals selbst Biologie als Leistungskurs belegt hatte. Auch eine praktische Segel-Prüfung im Abitur wurde für die Segler in den Leistungssportlerklassen ermöglicht. „Das waren natürlich Aufgaben, die uns als Leistungssportlern mit extrem viel Trainingszeit auf dem Wasser nicht schwergefallen sind“, erzählt Heindl von seiner eigenen Prüfung. Und entsprechend gut war auch sein Ergebnis. Der Segelinternatsschüler konnte die höchste Punktzahl erreichen.
Er wechselte nach der zehnten Klasse ins Segelinternat und auf die IGS Friedrichsort. Hier besuchte er die Q1 und die Q2. Sein Abitur schloss er mit einem Notendurchschnitt von 2,0 ab. „In NRW war ich auf einer Waldorfschule. Abgesehen von Mathematik hatte ich in keinem Fach Probleme“, so Heindl.
Für die Verpflegung mit den Grundnahrungsmitteln wie Müsli, Milch, Brot und Eiern wird im Internat gesorgt. „Der Kühlschrank wurde immer wieder aufgefüllt. Außerdem gab es immer ein Mittagessen, das gekocht und in den Kühlschrank gestellt wurde“, berichtet der 49er Steuermann. Das Mittagessen hätten die Sportler sich je nach Bedarf aufwärmen können, erläutert Heindl. „Vor allem zum Ende der Internatszeit haben wir aber auch häufig abends noch eine Kleinigkeit zusammen gekocht und gegessen. Die Zutaten dafür haben wir meistens selber gekauft“, so Heindl weiter, „später waren wir dann zum Beispiel noch in der Sauna“.
Für die Organisation der acht Internats-Segler ist Petra Homeyer zuständig. Sie hat die Internatsleitung inne und ist gleichzeitig auch für die Laufbahnberatung am Olympiastützpunkt in Kiel zuständig. „Petra hatte die Aufgabe, unsere schulischen Leistungen zu betreuen. Deshalb hat sie uns auch schon mal einbremsen müssen, wenn es etwa um die kalkulierten Reisetage ging, wenn es zu viele waren. Wir haben dann noch mal umgebucht und sind direkt nach dem Training nach Hause geflogen“, erinnert sich Heindl. „Petra hat auch die Verbindung zur Schule und bekommt die Informationen, wie es dort so läuft. Im Abitur hat sie uns dann intensiv betreut, damit es gelingt.“
Während andere Abiturienten die Zeit nach den Prüfungen und dem Abschluss nutzen, um Urlaub zu machen und sich eine Auszeit nach der stressigen Prüfungsphase zu gönnen, sah der Sommer für Heindl und Jacobs anders aus. Für die beiden ergab sich endlich die Möglichkeit, sich uneingeschränkt ihrem Sport zu widmen und auf ihre Ziele hinzuarbeiten. „Wir haben zwar schon während unserer Abi-Phase das Segeln gegenüber der Schule priorisiert. Wenn man das aber nicht mal mehr im Hinterkopf haben muss, erleichtert es die Sache schon“, so Heindl über die Zeit nach dem Abitur. Ab dem Wintersemester möchte er ein Präsenz-Studium im Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität in Kiel absolvieren. „Wenn das nicht klappt, muss ich mir etwas anderes überlegen, etwa ein Online-Studium“, meint er in Bezug auf seine weitere, nichtseglerische Laufbahn.
Das Boot von Heindl und Jacobs wird vom Logo der Olympischen Spiele in Tokio 2021 geziert. Sie haben den Rumpf im Herbst des vergangenen Jahres gekauft. Bei den Olympischen Spielen in Tokio war es von den Belgierinnen im 49er FX gesegelt worden. Heindl und Jacobs organisierten ein neues Rigg, sodass aus dem FX ein 49er wird, wie er bei Olympia von den Senioren-Männern gesegelt wird. „Den anderen 49er, der mir gehört, wollen wir in den nächsten Wochen verkaufen. Im Winter möchten wir dann ein neues Boot kaufen“, erklärt Heindl das kurzfristige Ziel, ein neues Boot zu bekommen.
Neben dem Training auf dem Wasser liegt vor den beiden Nachwuchs-Athleten viel Arbeit an Land. „Für zwei Stunden Wasserarbeit trainiere ich zwei Stunden im Fitnessstudio. Mindestens die gleiche Zeit geht nochmals für organisatorische Dinge und die Arbeiten am Boot drauf“, sagt Heindl und schlussfolgert: „Für zwei Stunden auf dem Wasser sind wir also mindestens vier Stunden an Land beschäftigt, tendenziell sogar eher mehr.“
Doch das zahle sich schließlich aus. „Es nimmt zwar viel Zeit in Anspruch, aber das müssen wir in Kauf nehmen, damit wir mit Material, das perfekt in Schuss ist, unsere Leistung abrufen und die besten Ergebnisse einfahren können“, so Heindl.