Aufregender ArbeitstagVon der Tuchrolle bis zum fertigen Segel beim Segelmacher

Nils Leiterholt

 · 02.10.2024

Segelmachermeister Lennard Peilicke bei der Fertigstellung einer schwarzen Genua
Foto: YACHT/Jozef Kubica
Die Entstehung moderner Segel beginnt heute mit ihrem Design am Computer. Gefertigt werden sie aber immer noch in traditioneller Handarbeit mit Nadel und Faden. Wir haben dabei zugeschaut

Tak, tak, tak, tak, tak … Das unverkennbare Geräusch der Nähmaschine hallt durch das Loft. An ihr sitzt Lennard Peilicke. Der 26‑jährige Segelmachermeister ist dabei, den Saum einer Genua zu vernähen. Stück für Stück schiebt er das schwarze Tuch mit beiden Händen an der Nadel entlang. Die Maschine bedient er mit dem Fuß. Peilicke sitzt, wenn man so will, unter dem Hallenboden. Denn seine Nähmaschine ist in die riesige Arbeitsfläche eingelassen.

Wir befinden uns in der Halle der Segelwerkstatt Stade. Morten Nickel zeigt uns stolz den Betrieb, den er 2022 gemeinsam mit Klaas Simon von seinen Eltern, Britta und Jens Nickel, in der Hansestadt übernommen hat. Das Ehepaar Nickel gründete die Segelwerkstatt Stade 1985. Britta Nickel war damals die erste und einzige Segelmachermeisterin Deutschlands. Im kommenden Jahr feiert das niedersächsische Unternehmen sein 40-jähriges Firmenjubiläum.

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Eigentlich hatte Sohn Morten mit seiner Ausbildung zum Schifffahrtskaufmann in Hamburg, dem folgenden Bachelorstudium und dem Master in BWL ursprünglich einen anderen Weg eingeschlagen. „Ich habe aber schon immer viel gesegelt und natürlich auch hier in der Halle geholfen“, erzählt der 32‑Jährige. Im Jahr 2021 kündigte er dann seinen Job bei Airbus in Hamburg und wurde Geschäftsführer des elterlichen Betriebes. „Seit Mitte 2022 sind meine Eltern auch faktisch auf dem Papier raus aus der Firma“, sagt der gebürtige Stader.

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Zu den Kunden gehören vor allem Fahrtensegler

Bereits im Jahr 2015 bekam der langjährige Mitarbeiter Klaas Simon die Möglichkeit, in das Unternehmen der Nickels mit einzusteigen, und nahm sie wahr. Heute teilen sich Morten Nickel und Klaas Simon die Arbeit in der Geschäftsführung. Während Nickel mit den betriebswirtschaftlichen Aufgaben, dem Einkauf und der Angebotserstellung beschäftigt ist, kümmert sich Simon vor allem um das Design und die Endabnahme der einzelnen Segel. Der Segelmachermeister unterstützt aber auch bei der Angebotserstellung und anderen Aufgaben.

Lennard Peilicke, der Jüngste im Führungsteam, kümmert sich um das operative Geschäft in der Halle, die Umsetzung der Segeldesigns sowie die Entwicklung der Auszubildenen. Auch er soll die Chance bekommen, künftig Gesellschafter der ­GmbH zu werden. „Lennard ist jung, hat aber schon seinen Meister absolviert und ist supergut in dem, was er tut“, kommt Nickel regelrecht ins Schwärmen.

Zu den Kunden der Segelwerkstatt Stade gehören vor allem ambitionierte Fahrtensegler, „auf die haben wir uns schon ein bisschen spezialisiert“, sagt Nickel. „Unsere Kunden segeln auf der Elbe, im Weser-Dreieck und auf Nord- und Ostsee“, so Nickel. Dennoch habe er in den letzten Jahren beobachtet, dass immer mehr Langfahrer zu ihrem Kundenstamm gehören. „Das sind für uns natürlich auch reizvolle Kunden, die kaufen sich einmal ein hochwertiges Tuch, das richtig gut segeln und lange halten soll. Und das können wir liefern“, so Nickel.

Auf die Frage, was die Stader Segelmacher besonders auszeichne, antwortet Nickel: „Das ist sicherlich unser Service. Wenn der Kunde meint, etwas würde nicht passen, fahren wir hin und kümmern uns.“

Made in Germany

Für das Design der Segel ist Klaas Simon verantwortlich. „Auch wenn ich in meiner Freizeit auf dem Wasser unterwegs bin, geht mein erster Blick in das Segel der anderen“, sagt er und lacht dabei. „Mittlerweile erkenne ich oft am Schnitt, von wem es ist, da hat jeder seinen eigenen Stil.“ Bei komplexen Bestellungen verbringt Simon häufig viele Stunden vor dem Rechner, bis er zufrieden ist und die handwerkliche Arbeit beginnen kann. Dabei gibt er zunächst alle vom Kunden oder den Segelmachern gemessenen Werte in sein Programm ein. Das ermöglicht es ihm, die diversen Parameter des Segels anzupassen. Außerdem sind der Einsatzzweck und die Erwartungen des Kunden an das Segel für sein Design von Bedeutung.

Einem Grundsatz folgt aber die Herstellung eines jeden Segels: Zum Vorliek hin wird das leichteste Tuch verwendet, Richtung Achterliek wird das Material schwerer und stärker. „Ab einer gewissen Größe verwenden wir in der Mitte ein mittelstarkes Tuch, um den Unterschied auszugleichen. Sonst wäre der Übergang zu hart“, erklärt Simon.

In der kommenden Woche geht er wieder einmal auf eine Dienstreise. Sie wird nach Griechenland führen, vor Ort muss er das Rigg und die Besonderheiten des Schiffs ausmessen, etwa die Positionierung der Hole­punkte für das Vorsegel. „Es ist bei uns Standard, dass der Kunde nur die Flüge bezahlt und die Arbeitszeit nicht berechnet wird“, so Simon. „Einige Kunden messen aber auch selber aus.“

Wer Produkte der Segelwerkstatt Stade kauft, kann sicher sein, dass sie in der Hansestadt gefertigt wurden. Auch bei ihren Lieferanten, ­etwa dem Tuchhersteller Dimension-Poly­ant, ist den Segelmachern wichtig, dass sie aus Deutschland kommen. So können Lieferwege kurz gehalten werden. „Natürlich sind wir deshalb preislich eher im höheren Segment zu verorten“, meint Geschäftsführer Morten Nickel. Allerdings habe gerade die Corona-Krise gezeigt, wie wertvoll es sei, in Deutschland und nicht etwa in Asien zu produzieren.

Zusammenarbeit von Mensch und Maschine

Für Morten Nickel geht das auch mit den Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter einher. „Die Standards, unter denen unsere Segel entstehen, sind deutlich höher als die in Asien“, so Nickel. Für ihn sei es ebenso wichtig, die Mitarbeiter angemessen zu entlohnen, das trage auch zum Betriebsklima bei und spiegele sich außerdem in der Qualität der Arbeit wider. „Unsere Belegschaft ist in den letzten Jahren deutlich jünger geworden“, erzählt Morten Nickel. Zwei Auszubildende gehören derzeit zum Team. Mit Wadi arbeitet nur noch ein Mitarbeiter seit der Gründung hier. Er heißt eigentlich Sven Rausching und kennt sein Handwerk und den Betrieb in- und auswendig. „Wadi ist im Grunde die wandelnde Firmenchronik, man kann ihn alles fragen, und meistens hat er dann die passende Antwort“, erzählt Nickel über den dienst­ältes­ten Mitarbeiter der Segelwerkstatt. „Er hat einfach Megaspaß an der Sache, steht aber auch Veränderungen positiv gegenüber, und das ist super.“

Während Lennard Peilicke im Laufe des Tages zu einem Aufmaßtermin am Steg des Segler-Vereins Stade (SVS) aufbricht, wechselt Morten Nickel vom Bürostuhl an die Maschine, mit der das Segeltuch zugeschnitten wird. „Das ist ein guter Ausgleich zu meinem Alltag, der ja eher aus Kundenkontakt und Büroarbeit besteht“, sagt der Firmeninhaber.

Das Tuch wird vor dem Nähen auf dem rund 11,60 Meter langen Tisch von unten angesaugt, damit die Maschine beim Darüberfahren keine Falten produziert. Zunächst werden die Nummern des jeweiligen Streifens automatisch auf das Material gemalt. Danach wird das Tuch maschinell in die vom Computer berechneten Stücke zugeschnitten. Dazu wird eine Software verwendet, die die Tuchstücke so anordnet, dass beim Schneiden möglichst wenig Verschnitt produziert wird. „Bei horizontalen Segeln haben wir meist eine Ausnutzung von 95 bis 97 Prozent des Segeltuchs. Da bleibt nicht viel übrig“, sagt Klaas Simon und erzählt, dass regelmäßig Kunden fragen, ob sie noch Reste vom Tuch bekommen könnten. „Das sind aber meist nur kleine Stückchen. Bei dem Segel jetzt haben wir eine Ausnutzung von 86 Prozent, das heißt 13,5 Prozent Verschnitt. Der breiteste Streifen ist allerdings nur 8 Millimeter hoch, damit lässt sich gar nichts anfangen“, so Simon.

„In den letzten Jahren haben meine Eltern hier natürlich nicht mehr viel erneuert“, sagt Nickel. Sein Vater habe nicht mehr in die Firma investiert, weil er lange Zeit nicht gewusst habe, dass er einen Nachfolger haben würde. „Mein Vater hat mich eigentlich nie gefragt, ob ich die Firma übernehmen möchte, er wollte immer, dass wir das sozusagen selber entscheiden“, berichtet Morten Nickel.

Im Herbst drei Wochen für Reparaturen reserviert

Ihre Firma sei immer noch im Wandel. Zuletzt wurde die Internetseite überarbeitet. Außerdem haben die Geschäftsführer in Marketingmaßnahmen investiert und die Corporate Identity modernisiert. Auch der Raum vor der Halle, in dem ein Tisch mit Stühlen steht und verschiedene Anschauungsstücke Segeltuch zu begutachten sind, werde in der kommenden Zeit noch modernisiert. „Momentan haben wir zwei Auszubildene. Vorher waren es drei, aber einer ist diesen Sommer fertig geworden“, berichtet der für die Ausbildung zuständige Segel­machermeister Peilicke.

Bei der Gesellenprüfung müssen die Lehrlinge ein Segel fertigen, bei dem Design gibt es durchaus Unterstützung von Simon, der das Segel gemeinsam mit dem Auszubildenen entwirft. „Bei uns dürfen sich die Azubis ein Segel für ihr eigenes Boot herstellen, das haben die letzten auch eigentlich alle gemacht“, so Peilicke. Sollte ein Lehrling mal kein eigenes Boot besitzen und auch im Bekanntenkreis niemanden kennen, für den er eines anfertigen kann, dann werde in der Regel ein Segel für eines der Jugendboote des SVS gefertigt. „Der SVS bezahlt dann nur das Material für das Tuch und bekommt das Segel zu einem sehr guten Preis“, sagt Peilicke.

Im Herbst steht die Produktion in der Segelwerkstatt Stade rund drei Wochen still. In dieser Zeit werden Reparaturen an Segeln und Persenningen durchgeführt. “Die neue Segelsaison beginnt für uns im Grunde mit dem Jahreswechsel. In der Halle müssen wir dann ordentlich produzieren und viel schaffen, um die Liefertermine im April einhalten zu können“, erklärt Peilicke. Die Vorarbeit von Klaas Simon am Computer muss dann jeweils schon erfolgt sein. „Deshalb versuche ich immer, bis Weihnachten alles am Computer entworfen zu haben, was wir bis Mai bauen können. Dafür müssen wir aber natürlich die Daten schon haben“, erläutert Simon.

Der Bau des Segels, das sich hier gerade in der Endabnahme befindet, hat etwa 40 bis 50 Arbeitsstunden in Anspruch genommen. Es ist für eine Fee­ling 39 bestellt worden und hat unter anderem zwei Reff­reihen. Deren Verstärkungen brauchen, genauso wie das Aufsäumen der Lattentaschen, einiges an Arbeitszeit. „Es ist für einen Kunden, der gleich drei Segel bestellt hat, um damit im Mittelmeer unterwegs zu sein“, sagt Nickel, während sein Kollege Simon dabei ist, die Abnahme durchzuführen. Dabei kontrolliert er auch, ob alle Sonderwünsche des Kunden berücksichtigt worden sind. „Er hat sich zum Beispiel Gummis anstelle der üblichen Gurtbänder für die Mast­rutscher gewünscht“, sagt Simon.

Jedes Segel ein Unikat

Rund 600 Segel hat Klaas Simon mittlerweile entworfen. „Normalerweise sitze ich dafür zu Hause am PC. Dort habe ich meine Ruhe und werde nicht ständig durch das klingelnde Telefon oder vorbeischauende Kunden gestört“, sagt er. Seine Anfänge als Segeldesigner beschreibt er als schleichenden Prozess. „Die Spanier und Italiener nennen ihre Lofts nicht Werkstatt, sondern Atelier. Sie verstehen sich als richtige Künstler“, erzählt Simon von seinen Erfahrungen mit den ausländischen Berufskollegen. Ganz so eng sehe er das nicht, dennoch sei das Entwerfen der Segel für ihn eine wichtige Schaffensphase, in der er ungern gestört werden möchte.

Morten Nickel steht unterdessen schon wieder an der Maschine, mit der die Fragmente zur Herstellung der Segel zugeschnitten werden. Dieses Mal soll aus dem Tuch ein 63 Quadratmeter großer Code Zero für eine Pogo 10.50 entstehen. Und so läuft die Produktion in der Segelwerkstatt Stade mit ihren jungen Machern stetig weiter – trotz der hohen Stückzahlen von ungefähr 400 Segeln pro Jahr ist jedes ein Unikat.

Dieser Artikel erschien erstmalig in YACHT-Ausgabe 21/2024.

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