Ein Mittwochmorgen mit Nieselregen. Norddeutscher Sommer in Bremerhaven. André Stöters Mobiltelefon klingelt, er entschuldigt sich – „irgendwas ist immer“ – und nimmt den Anruf an. Es ist die Kollegin aus dem Büro des Vereins, der das „Schulschiff Deutschland“ betreibt. Auf dessen Achterdeck steht Stöter nun telefonierend und widmet sich dem Gespräch ebenso ruhig wie allen anderen Aufgaben, die nahezu im Minutentakt auf ihn einprasseln.
André Stöter ist Schiffsbetriebsmeister auf dem Rahsegler von 1927. Ein Bootsmann oder, wie er es nennt: „Das Mädchen für alles“. Das Schiff in Schuss halten, Gäste empfangen, freiwillige Helfer mit Arbeit versorgen, Reportern einen Einblick in den Schiffsbetrieb gewähren – dies und mehr gehört zu seinen Tätigkeiten, die er vor drei Jahren übernommen hat und die für ihn längst eine Herzensangelegenheit geworden sind.
Stöters Tag auf dem “Schulschiff” beginnt morgens um sieben. Dann dreht er den Messingknauf des lackierten Holztors an der Gangway zum ersten Mal. Er ist zu der frühen Stunde nicht der Erste auf dem Schiff, das niemals unbewacht ist. Heute ist Wachgänger Herbert Küster schon da, einer von zahlreichen Engagierten, „ohne die es nicht funktionieren würde“, so Stöter.
Der Betrieb des ehemaligen Ausbildungsschiffes der deutschen Handelsflotte beruht zum Großteil auf dem Engagement der Ehrenamtlichen. Etwa die Gästebetreuung bei Großveranstaltungen wie den „Maritimen Tagen“ oder der „Sail“, wenn sich Bremerhaven in ein Meer aus Großseglern und Besuchermassen verwandelt.
In den Morgenstunden prüft Stöter die Einnahmen des Vortages und dreht die erste Runde über die Decks, die in der Werkstatt endet – einem imposanten Gewölbe im Bauch des Schiffes. In diesem Paradies für Handwerker wird die besondere Geschichte des „Schulschiffs Deutschland“ besonders greifbar. Im ehemaligen Frischwassertank, einem mannshohen Bereich, wurden später Schweißkammern eingebaut, in denen die angehenden Seemänner und Schiffsbetriebstechniker lernten und arbeiteten. In einem weiteren Raum stehen Maschinen und Werkzeuge, von denen längst nicht mehr alle im Einsatz sind: Stoßmaschine, Schleifmaschine, Drehmaschine, Walze, Bohrmaschine – und ein erstaunlich modernes Schweißgerät. „Das ist mein eigenes“, sagt Stöter und lacht.
Der 52-Jährige hat Schiffbau auf einer Werft an der Unterweser gelernt. Seine Erfahrung aus jahrelanger Werftarbeit und seine Kontakte helfen ihm hier an Bord heute noch – egal ob er ein spezielles Ersatzteil, einen Reparaturbetrieb oder nur einen Tipp braucht.
Auf einer Werkbank dudelt neben einem Eimer voller Pinsel Musik aus einem verstaubten Radio. Popmusik, doch nur weil heute Betrieb herrscht. Wenn Stöter allein ist, spielt der CD-Player Punk für den Bootsmann. „Ohne meine Musik geht nichts“, sagt er und lacht.
Ab halb zehn kommt Leben ins Schiff. Montags und mittwochs unterstützen die ehrenamtlichen Helfer Stöter bei der Instandhaltung des Schiffes. Um zehn wird der Tag besprochen. Heute sitzen sechs Männer und eine Frau in Arbeitskleidung um den Tisch im gemütlichen Raum des Wachgängers. In der Mitte stehen Kaffeetassen und Schokokekse. Stöter lehnt am Tresen und verteilt locker die Aufgaben. Eine Plane soll auf dem Seitendeck gespannt werden – nur das Wetter macht nicht mit. „Um elf wird’s aufhören“, bringt jemand schnell am Handy in Erfahrung.
Unter Deck soll die Arbeit an der alten Schiffselektrik vorangetrieben werden. Es geht um das Nachrüsten von FI-Schutzschaltern. Eine wahre Mammut- und mitunter auch Knobelaufgabe. „Das ist abenteuerlich“, weiß Stöter. „In fast hundert Jahren haben sich hier schon viele Elektriker ausgetobt.“ Schaltpläne hat er nicht.
Fast alle ehrenamtlichen Helfer sind Rentner. Unter anderem ist ein Tischlermeister im Team, ein Gas-/Wasser-Installateur und ein Elektriker. „Die brauche ich dringend“, so Stöter. Ich habe schon bei Werften angefragt, ob sie mir nicht ihre Rentner schicken können“, sagt er schmunzelnd. „Mir fehlt ein Farbminister!“
Eine besondere Aufgabe kommt den sogenannten Wachgängern zu. Sie sind rund um die Uhr an Bord, immer drei Tage am Stück. Dann ist Wachwechsel. Tagsüber nehmen sie Besucher in Empfang und helfen bei anfallenden Arbeiten. Nachts schlafen sie in den ehemaligen Offizierskabinen. „Sie haben eine große Verantwortung“, erklärt Stöter. Herbert Küster ist einer von wenigen, die schon zu der Zeit an Bord waren, als das Schiff noch in Bremen lag. „Man muss Bock auf Schiff mitbringen“, lautet seine simple Einschätzung zur Qualifikation für sein Amt.
Während sich André Stöter und sein Team besprechen, bimmelt immer wieder der Bewegungsmelder. Er verrät dem Wachgänger, dass gerade jemand über die Gangway an Bord kommt. Ab zehn Uhr klingelt er ständig. 20 bis 300 Besucher schauen sich täglich das Schiff an, das an 365 Tagen im Jahr für den Publikumsverkehr geöffnet ist. Mal kommen mehr, mal weniger, je nach Jahres- und Ferienzeit. Alle Instandhaltungsarbeiten finden daher im laufenden Betrieb statt. Teile des Schiffes werden zwar dafür abgesperrt, „oft hilft das aber nichts“, weiß Stöter. „‚Ich wollte nur mal gucken …‘, heißt es dann oft.“
„Kommt rein“, begrüßt der Bootsmann die ersten Tagesgäste. „Die Großen müssen den Kopf einziehen.“ Jeder kann an Bord gehen und den Eintritt vor Ort zahlen. Ab zehn Personen können Führungen gebucht werden. Manchmal erklärt Stöter auch spontan einiges. Die Besucher bewegen sich frei an Bord und folgen dem ausgeschilderten Rundgang. Die meisten respektieren Hinweisschilder und Absperrungen. „Aber ich habe auch mal einen entdeckt, der in einer Kammer gepennt hat“, erzählt Stöter.
Fast alle Bereiche auf dem Schulschiff können so entdeckt werden. Etwa der ehemalige Funkraum oder das Kartenhaus, in dem die Nautiker die Kurse des Segelschulschiffs, das nie eine Maschine besessen hat, bestimmt haben. „Jemand müsste mal den Staub vom Kompass wischen“, schmunzelt Stöter, während er durch den Navigationsbereich führt.
Von hier fällt der Blick über das touristische Zentrum Bremerhavens: Yachthafen, Schleuse, Zoo am Meer, Holzboote, Klimahaus, vorbeifahrende Ausflugsschiffe und natürlich über das Deck des Schulschiffs. Das Achterdeck wurde gerade frisch überholt, die imposante Rudermaschine ebenfalls. Der verzierte, frisch lackiert Kasten steht da wie neu.
An Bord laufen viele Instandhaltungsprojekte parallel. „Die Liste der technischen To-dos ist lang“, sagt Stöter. Wesentliche Qualitäten in seinem Job seien organisieren und mit Menschen umgehen zu können. Mitunter begleiten ihn auch Praktikanten, für die er sich kleine Projekte ausdenkt. „Maritimes Interesse ist auch nicht schlecht. Es dreht sich schließlich immer alles um das Schiff.“
Jedoch ist Vorsicht an diesem besonderen Arbeitsplatz geboten, der bei Sturm schon mal ins Schwanken kommt. Einmal ist Stöter die steile Treppe in die Vorpiek hinuntergestürzt. „Das hat so lange gedauert – ich hätte im Flug eine Pizza bestellen können! Alles tat weh.“ Glücklicherweise passiert ihm nichts Schlimmes.
»Mein Lebenslauf ist vier Seiten lang. Ich habe mir viel Wissen angeeignet und kann von allem ein bisschen. Das Maritime hat mich aber nie losgelassen«
Für den Familienvater aus Bremervörde ist seine Tätigkeit dennoch ein Traumjob. „Ich habe mein Leben lang davon geträumt, in Bremerhaven im Hafen zu arbeiten. Das Maritime, das Arbeiten auf dem Wasser war immer meins, das hat mich nie losgelassen.“ Eines Tages entdeckt er eine kleine Anzeige in der Zeitung, in der steht, dass ein Schiffsbetriebsmeister gesucht wird. „Das klang sehr vielfältig, und da ich breit aufgestellt bin, passte es gut.“
Nach seiner Ausbildung im Schiff- und Metallbau arbeitete Stöter bei verschiedeneren Werften, unter anderem in Cuxhaven. Dreimal übernahm er die Bauaufsicht für eine Luxusyacht in Lissabon. „Ich habe oft den Job gewechselt, mein Lebenslauf ist vier Seiten lang“, erzählt er. „Ich habe mir viel Wissen angeeignet und kann von allem ein bisschen was.“ Auch Knoten und Takelarbeiten – wenn also mal etwas Leerlauf ist, knüpft er neue Schlüsselanhänger für den Souvenirshop an Bord.
Im Winter 2021/2022 heuert der Mann mit den freundlichen Augen und den großen Tattoos am Arm schließlich fest auf dem Schulschiff an. Das war kurz nachdem sein Vorgänger von Bord und in Rente ging. Im Sommer zuvor hatten Schlepper das Schulschiff von seinem ehemaligen Liegeplatz in Bremen nach Bremerhaven verholt, in der Hoffnung, dass man im Zentrum der Seestadt mehr Touristen und Gäste anziehen würde als zuvor.
Seitdem liegt der Dreimaster nicht nur als Museumsschiff mitten in der Stadt, sondern bietet auch Übernachtungsmöglichkeiten. Das Schiff oder einzelne Räume können für Veranstaltungen gebucht werden. Etwa für Vereinsabende, ein Frühstück mit Freunden und Hochzeiten. „Wir sind für jeden Spaß zu haben“, sagt Stöter. Er ist immer involviert, übergibt Präsente, sorgt dafür, dass die Veranstaltungstechnik läuft. „Das macht Spaß.“
An solchen Tagen wird es spät, selbst wenn seine Arbeitszeit auf dem Papier um 15.30 Uhr endet. „Mir ist es aber lieber, dass ich vor Ort bin und nachher keine böse Überraschung erlebe, als pünktlich hier rauszukommen“, sagt er. Auch am Wochenende schaut er mal vorbei.
»Die Feinde des Teakdecks sind auch meine, da bin ich ein bisschen pingelig. Das liegt auch daran, dass ich großen Respekt und Ehrfurcht vor dieser Aufgabe habe«
Stöter weiß um die Herausforderungen, die der „Spagat zwischen dem Erhalt des Kulturdenkmals und dem Tourismusbetrieb“ mit sich bringt. Ihm selbst ist die Pflege des Schiffs derart ans Herz gewachsen, dass es ihn nicht kalt lässt, wenn während eines Empfangs etwas Pfannenfett des Caterings auf dem Teakdeck landet oder die Gäste bei Hochzeitsfeiern auf spitzen Absätzen erscheinen – trotz der Bitte, dies nicht zu tun. „Die Feinde des Teakdecks sind auch meine“, sagt er und lacht. „Ich bin da ein bisschen pingelig, fast schon zwanghaft. Das liegt auch daran, dass ich großen Respekt und Ehrfurcht vor dieser Aufgabe habe.“
Unter Deck werden Übernachtungsgäste überall an frühere Zeiten erinnert. Etwa durch Bilder an den Wänden, die schlafende Matrosen in einem Saal mit Hängematten zeigen, oder eine Karte mit den zwölf großen Atlantikreisen des Schiffes.
Wer die ehemalige Kapitänssuite bucht, kann sogar im Kapitänssalon frühstücken. Und das unter den Augen des Großherzogs von Oldenburg, der als Gemälde an der Wand hängt und ein großer Mäzen des Schiffes war. 205 Euro kostet die Suite inklusive Sektfrühstück, verrät Stöter.
Die neueren Kammern sind nüchterner. „Ich nenne das gehobenen Jugendherbergscharme“, grinst der Schiffsbetriebsmeister. Auf vielfachen Wunsch der Gäste gibt es auch eine Kabine mit Doppelbett statt Stockbetten – es könnten deutlich mehr sein. „Die Kammer wird uns aus den Händen gerissen.“ Ein wenig spartanisch geht es dennoch zu: Die Gemeinschafts-WCs und Duschen liegen auf dem Gang.
Dass touristischer Betrieb und Schiffsinstandhaltung gut koordiniert werden müssen, beweist etwa der Zugang zum Farbenlager im ehemaligen „Ankerkasten“. Der liegt heute hinter den Damentoiletten und ist ein Raum im Vorschiff, durch den die armdicken Ankerketten des Großseglers laufen. Da sie nicht mehr im Einsatz sind, der Ort aber gut belüftet ist, wurde er kurzerhand zweckentfremdet.
Viele weitere Verstecke auf dem 86 Meter langen Schiff zeugen von seiner bewegten Geschichte: In der Segelkammer im Heck stapeln sich Tücher bis unters Deck, in der Vorpiek lagern Möbelstücke. „Wir haben schon einiges ausgemistet. Sonst kommst du nicht gegenan“, so Stöter.
Bald erwartet ihn eine neue Mammutaufgabe. Ein Werftaufenthalt steht an. Der letzte fand 2015 statt. Nicht nur der Arbeitsalltag, auch den einen oder anderen Feierabend werde er dann wohl an Bord in der Werft verbringen. Schließlich rücke neben der „Sail 2025“ auch der hundertste Geburtstag des Schiffes 2027 näher. „Und wenn eine alte Lady hundert wird, macht sie sich schließlich gern fein“, witzelt Stöter. Wobei er es durchaus ernst meint.
Man spürt, dass zwischen dem Schiff und seinem Bootsmann ein Band gewachsen ist. André Stöter lebt seinen Job als Rundumbetreuer der stählernen Dame. Ihr Alter sieht man ihr aufgrund der hingebungsvollen Zuwendung nicht an. „Alle sagen immer, sie sei ja super in Schuss. Die Pfui-Ecken kenne nur ich“, sagt der Schiffsbetriebsmeister und schmunzelt.
Er bringt viele Ideen ein, will das Tun und Treiben auf dem Schiff voranbringen. „Ich identifiziere mich damit“, sagt er. Nach Feierabend sitzt er durchaus mit einem Bier in der Hand auf dem Achterdeck und genießt die Atmosphäre.
46 Jahre hat sein Vorgänger den Job gemacht. So lange wird es der sympathische Bootsmann des „Schulschiffs Deutschland“ altersbedingt kaum schaffen. „Aber wenn es nach mir geht, würde ich gern noch viele Jahre bleiben. „Es ist harte Arbeit, aber sie bringt Spaß!“