Seine Einladungskarte zum 80. Geburtstag im August 2020 schmückte ein altes Foto. In Schwarz-Weiß, ein großer Blonder mit Jackett und Krawatte auf einem Motorroller: der junge Angestellte der Versicherungsfirma Pantaenius, Harald Baum, in Fahrt. Lange habe ich darauf geschaut. Und mir daneben das Foto vorgestellt von der heutigen acht Stockwerke hohen Pantaenius-Zentrale an den Hamburger Magellan-Terrassen. Um im Leben von Foto A nach Foto B zu kommen, sozusagen vom Laufburschen des kleinen Versicherungsmaklers zum Kopf des größten Yachtversicherungsunternehmens, braucht es mehr als ein halbes Jahrhundert. Und es braucht mehr als die Kraft einer Vespa. Es braucht Charakter, Verstand und ein Kämpferherz. So wie es gute Skipper haben. So ein Kerl ist Harald Baum.
Er ist sogar einer, der weiß, wie man Journalisten einwickelt – oder, netter gesagt, glücklich macht : Am 14. Juni 2003 startete die Regatta vom amerikanischen Newport in Rhode Island nach Cuxhaven und Hamburg. Für das „Hamburger Abendblatt“ schickte Regattateilnehmer und Segelbuchautor Svante Domizlaff Tag für Tag via Satellit Berichte von See. Jeden Tag räumte die Zeitung für die Kolumne und alles, was mit dem Rennen zusammenhing, fast eine Seite frei. Die Leser waren happy. Und als die Angelegenheit zu Ende war, verlieh Harald Baum, zu dieser Zeit Vorsitzender des Clubs der Kreuzer-Abteilung im Deutschen Segler-Verband, dem „Abendblatt“ für seine besondere Berichterstattung den Medienpreis seines Vereins. Er hatte ihn flugs und extra dafür erfunden.
Der sichtbare Ausdruck dieser Auszeichnung war ein Gemälde des Hamburger Malers Hinnerk Bodendieck. Es zeigt ein Regattaboot in herrlicher Sturmfahrt. Ich, damals Chefredakteur des „Abendblatts“, war begeistert. Noch heute macht mir der Blick darauf Freude.
Wie der Bootsführer Baum handelt, war zu erleben, als ich 2010 für die YACHT mit ihm segeln durfte. Er springt um halb sieben aus der Koje und spürt sein Schiff. „Hast du das Blubbern gehört?“, rüttelt Skipper Baum seinen jungen Bootsmann wach. Aber noch bevor der in die Gänge kommen kann, kniet der Alte vor der kleinen Luke, hinter der der Grobfilter für den Wärmetauscher des Kühlschranks eingebaut ist, schraubt den Deckel auf, holt ein Viertelpfund Seegras und etwas anderes heraus, das er eine „halbe Qualle“ nennt, eine von den weißen. Und ab damit in den Müll. Es hat gewirkt. Die Pumpe läuft nicht mehr trocken. Ruhe im Schiff.
Wer wie er sein Boot lange und gut kennt, hat den direkten Draht vom Ohr ins Aufmerksamkeitszentrum. Er hört auch, wenn er schläft. Und kann handeln, ohne lange nachdenken zu müssen. Bei dem Thema lacht Undine Baum auf und erinnert sich daran, dass ihr Mann unter seiner Koje auf der „Elan“ zig Schraubenzieher, Zangen, Schlüssel und jede andere Art von Werkzeug und auch Ersatzteile gebunkert hatte.
Allzeit bereit. Mit ihm, das weiß sie bis heute, kann dir nichts passieren. Als Privatmann ebenso wie als Kaufmann. Die Mitarbeiter und die Familie, alle wissen, auf ihn ist jederzeit Verlass.
Baum, der Harald, ist einer, der viele Meilen im Kielwasser hat. Speziell als Unternehmer. In dem Bereich darf man es so nennen: ein Lebenswerk. Nach seiner Lehrzeit in Bern fängt er in Hamburg bei einer kleinen Versicherungsagentur an. Die heißt damals schon Pantaenius. Der Inhaber sucht bald einen Nachfolger. Sein Blick fällt auf den jungen Baum. Bereits in seinem ersten Jahr steigen die Prämieneinnahmen von 250.000 auf 1,5 Millionen Mark. Vor allem dank Gewerbeakquisitionen, die mit den Hamburger Tiefbaufirmen Gustav Sauerland und Otto Dörner beginnen.
Und so steht’s in der Firmenchronik : Nach drei Jahren ist Baum Juniorpartner und mischt den Bundesverband Deutscher Versicherungsmakler auf. Als Vormann der „zornigen jungen Leute“ (Verbandspräsident Oswald Hübener) fordert er mit Erfolg so revolutionäre Dinge wie eine gemeinsame Werbung, eine Satzungsregelung für Neuaufnahmen und eine obligatorische Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung. Harald Baum selbst sagt : „Im Jahr 1965 verdiente der Makler 20 Prozent am Prämienvolumen. Davon musste er Miete und eine Hilfskraft bezahlen. Es blieb kaum etwas übrig.“
1970 kauft Baum, nun 30, die Firma ganz. Als Erstes – ein Boot zu führen und ein Geschäft sind bei ihm eben zwei Seiten einer Medaille – steigt er in die Yachtversicherung ein. Undine Baum kann es erzählen, als wäre es gestern gewesen: „Als ich mit 25 Jahren meinen Mann kennenlernte, da saßen wir mit seiner Firma im Hamburger Chilehaus. Ein paar Quadratmeter mit einem Vorhang davor. Nach 17 Uhr hatte ich Telefondienst bis 20 Uhr. Irgendwann sagt er zu mir: ‚Du, Undine, ich weiß, wo es hingehen kann. Ich will Schiffsversicherungen machen.‘ ‚Ja‘, sag ich, ‚denn man los.‘“
Als im Winter zuvor die Yachtflotte seines kleinen Heimathafens Teufelsbrück, darunter auch die Holzjolle eines guten Freundes, im Scheunenlager an der Elbe verbrannte, hatte Baum direkt mitbekommen, dass die Versicherungen sich weigerten, für Boote zu zahlen. Er und zwei Anwaltsfreunde setzten gemeinsam neue Versicherungsbedingungen auf. Sie erfanden die Yachtkasko mit Neuwertversicherung – ein Meilenstein für Sportbootversicherungen. Eine feste Taxe hatte es vorher nicht gegeben. Wer sein Boot verlor, musste mit absurden Zeit- und Restwert-abschlägen rechnen. Er setzte damit eine völlig neue Yachtversicherung durch. Im Jahr 1973, auf dem Vorläufer der Hanseboot-Ausstellung, kam der Durchbruch.
Ein Stand von einem Versicherungsmakler war etwas Neues. „Wir haben es gemacht, und auf einmal fanden die Skipper einen Ansprechpartner“, sagt Harald Baum. Und wie seine Frau erzählt, ging das so: „‚Du siehst hübsch aus‘, sagte er zu mir. ‚Du stellst dich jetzt vor unseren Messestand und verteilst unsere Prospekte. Und wenn Besucher sie in der Hand halten, schickst du sie zu uns an den Tisch. Wir sagen den Leuten dann, wie ihr Boot versichert werden soll.‘“ Harald Baum ergänzt : „Als die Messe zu Ende war, hatten wir die ersten 1.000 Kunden zusammen.“
Der Slogan „Pantaenius – da kann kommen, was will“ wird in der Yachtszene zum geflügelten Wort. Jahre danach klingt alles so leicht. Aber leicht kann es nicht gewesen sein. Die Firma hatte nun mit der „festen Taxe“ ein wirtschaftlich tragendes Element, das im Marketing sogar noch durch einen zweiten Aspekt ergänzt wurde: Bei Abschluss und im Schadensfall hatten die Kunden stets mit ihrem persönlichen Makler zu tun und nicht mit der Großorganisation eines Versicherungsmolochs – ein Zustand, den sie mit Kundentreue belohnten.
Aber in der Rolle des Maklers lauerte für die Firma auch eine große Gefahr. Sobald die Schadensquote der über den Makler versicherten Boote in Richtung 50 Prozent stieg, wurden die Versicherer, die die Schäden zu decken hatten, nervös. Damit wuchs während der achtziger Jahre die Gefahr, dass die Versicherungen die Zusammenarbeit mit dem Makler aufkündigten – eine existenzielle Gefahr, die in den folgenden Jahren immer größer wurde. Harald Baum und einer seiner führenden Mitarbeiter handelten. Sie setzten einen der ersten, noch knapp schrankgroßen Computer ein, eine IBM-Maschine. Sie ließen sie mit allen Daten füttern, die den Kundenverträgen sowie den Schadensfällen zugrunde lagen. Und die Maschine warf aus: Ein Prozent der Versicherten verursachte 80 Prozent der Schäden!
Schnell wurde klar, welche Stellschrauben gedreht werden mussten, um unnötige Belastungen zu vermeiden und für eine Entlastung der Schadensquote zu sorgen. Effizienz an dieser Stelle ist zugleich der beste Weg, um die Prämien für die Versicherten stabil zu halten. Komplexe Schäden durch Naturkatastrophen auf der einen Seite und häufiger auftretende Diebstähle von Yachten auf der anderen Seite waren die Hauptursachen für Totalverluste. Also das Worst-Case-Szenario für Versicherer. Pantaenius gliederte deshalb 1992 die Bearbeitung von Kumulschäden und die Fahndung nach gestohlenen Yachten in einer eigenen Abteilung aus.
Pantaenius-Mitarbeiter wurden zu Detektiven vor Ort. Eine Neuerung im Versicherungswesen, die helfen konnte, die sogenannte Schadensquote – also die Schäden, die von den Versicherungen beglichen werden mussten – deutlich zu begrenzen. Für diese Anstrengungen wurde 1992 eine eigene Abteilung geschaffen.
Auf Deutsch würde sie den recht friedlichen Namen „Schadenservice im Seeverkehr“ tragen. Tatsächlich trug sie die englische Bezeichnung „MCS Marine Claims Service“. Sie sollte sich zum dritten wirtschaftlich wichtigen Element von Pantaenius entwickeln. Das Aufgabenfeld des neu entstandenen Unternehmens entwickelte sich schnell über das allgemeine Schadenmanagement hinaus. Eigenes Bergungsequipment wurde angeschafft. Wer sich zum Beispiel auf Youtube über die Folgen der Ostsee-Sturmflut vom 20. Oktober 2023 für deutsche und dänische Häfen informieren wollte, stellte fest, dass die umfangreichsten Berichte nicht von klassischen Medien, sondern von Pantaenius-Mitarbeitern eingestellt wurden – auch das ist ein Ergebnis von Schadenmanagement.
Aus den ersten 1.000 Kunden vom Messestand auf der ersten Hanseboot sind bis heute mehr als 100.000 Kunden auf der ganzen Welt geworden. Die Firma, längst auch auf Unternehmensversicherungen und den Immobilienbereich spezialisiert, hat Niederlassungen in Europa und Australien. Gerade hat man viel Arbeit in die Erneuerung der griechischen Dependance gesteckt. In den Stockwerken des Hauptsitzes in der Hamburger HafenCity und an den Standorten Kiel, Eisenach, Düsseldorf und München arbeiten über 400 Mitarbeiter. Für sein unternehmerisches Lebenswerk wurde Harald Baum 2018 als „Familienunternehmer des Jahres“ ausgezeichnet. Wer ihn auf solche Sachen anspricht, bekommt den Eindruck, das sei doch alles eher nachrangig. Eigentlich hat er immer nur das gemacht, was er für eine gute Sache hält. Und so übergab er schon vor einigen Jahren die Führung des Hauses an die nächste Generation: an seine Kinder, die Geschwister Anna Schroeder, Daniel Baum und Martin Baum.
Zwischen dem Leben des Geschäftsmanns Baum und dem Leben des Skippers gibt es bemerkenswerte Parallelen. Charakter, Verstand, Kämpferherz und schließlich immer mehr Erfahrung – Eigenschaften als Motor des Erfolgs in verschiedenen und vielleicht doch nicht so anderen Welten. Im Februar 2020 wurde Baum, der Commodore des Hamburger Segelclubs ist, mit dem „Lifetime Award“ der German Offshore Owners Association geehrt.
Er ist einer von der Küste. Einer, auf den sich alle verlassen können und bei dem der Handschlag noch zählt”
Fast noch als Kind segelte er mit einer selbst restaurierten Jolle. Mit Mitte zwanzig war er Co-Skipper und danach Skipper auf dem Cruiser/Racer „Diana“. Nach der Hochzeit mit seiner Frau Undine kauften sie eine Swan 44, die erste „Elan“. Die Familie unternahm mit diesem Schiff Reisen in die Karibik und startete bei einigen Regatten in Newport und vor Bermuda. Mit diesem Schiff wurde auch die Europameisterschaft der Swans mit 80 teilnehmenden Yachten gewonnen. 1989 wurde die Familie dann Eigner einer Swan 48, dem Traumschiff von Harald Baum, seiner zweiten „Elan“.
Die Regatta „Rund Skagen“, die seit 1994 von Pantaenius gesponsert wird, erkor er zu seiner Lieblingsroute. 1973 erreichte er mit der „Diana“ den Geschwindigkeitsrekord von 55 Stunden und einer Minute. Eine Benchmark, die 27 Jahre lang ungebrochen bleiben sollte und erst von Dr. Klaus Murmann auf „Uca“ unterboten wurde.
Harald Baum, einer von der Küste. Einer, auf den sich alle verlassen und „bei dem der Handschlag noch zählt“, so seine Frau. Urtyp des Hamburger Selfmade-Mannes, der eine kleine Agentur zu einem internationalen Versicherungsunternehmen entwickelte. Einer, der das Regatta- und Fahrtensegeln seit Jahrzehnten mitprägte. Was bringt einen Mann dazu, seine Leidenschaft für die See ein Leben lang zu leben? Beruflich und privat. Wie ist so einer an Bord? Was treibt ihn um?
Baum segelt seine „Elan“ an unserem Wochenende in jenem Oktober von Glücksburg nach Wedel, von der Flensburger Förde zur Elbe. Nur eine Überführung Richtung Winterlager, ein alljährlicher Zweitagestörn. Er hat ganz andere Fahrten achteraus, längere, härtere. Reicht das, um den Eigner, den Typen kennenzulernen?
»Auf der Kante sitzen, das Wasser unter dem Leebord durchgurgeln zu sehen, das ist für mich das Schönste«
Von der „Elan“ hat man ja schon gelesen. Die Swan 48, 16 Meter über alles, Baujahr 1973. Ein Schiff, das die Patina des Alters tragen müsste, das aber aussieht, wie aus dem Ei gepellt. Ungewöhnlich, dass ein Regattasegler seinem Boot so lange treu bleibt. Er baut aus, baut ein, entwickelt weiter. Der Skipper und sein Schiff, da ist enge Verbundenheit. Warum er damit Regattasilber einsammelt wie seine Enkel Panini-Bilder? Weil das Boot unter besonders freundlicher Vermessung segelt? Eher wohl, weil der Skipper durch und durch Segler ist.
Noch im Glücksburger Hafen frühstücken wir um sieben Uhr morgens in der Messe der „Elan“. Blick und Konzentration des Besuchers gleiten vom Tisch auf das geschnitzte und kolorierte Holzbild, das am vorderen Schott hängt. Es zeigt eine Karavelle, die unter vollen Segeln auf eine exotische Küste zuhält. Zwischen üppigem Grün auf den Felsen am Ufer sitzen zwei Frauen in Rückenansicht und Halbprofil. Die Haltung der beiden strahlt glückliches Hoffen aus. Und ihre fleischfarbene Pracht ist dem Schnitzer gut gelungen. „Wenn du zwei Wochen auf See bist, nur mit Freunden an Bord, und du schaust dann auf dieses Bild, dann beginnen die Frauen, sich zu bewegen“, sagt Harald Baum.
„Auf der Kante sitzen, das Wasser unter dem Leebord durchgurgeln zu sehen, das ist für mich das Schönste“, erzählt er später, als wir die Außenförde hinter uns lassen und auf südlicheren Kurs gehen. „Von weißen Blasenstreifen auf Blau, Grau, manchmal Schwarz träume ich im Winter, wenn ich ein paar Monate nicht an Bord gewesen bin“, sagt er. Macht eine Pause. Hebt den Blick. Sieht eine rollende (fast) Sturmsee mit Gischt auf den Kämmen und vom Wind gebürstetem langen Rücken. „Da sage einer, die Ostsee ist kein Hochseerevier.“
Wir laufen 8,27 Knoten, der Windmesser steht bei 7 Beaufort. 12.15 Uhr, wir reffen. „Seht ihr nicht, dass das Großsegel noch viel zu bauchig ist?“, brüllt der Skipper, „zieht die Lose aus dem Segel und setzt die Reffleine durch!“ Die Nock des Großbaums steht über der Reling. Wir schauen den Skipper an. „Pass auf“, sagt er, steigt auf den oberen Relingsdurchzug und holt dort balancierend die Lose durch.
Der Skipper ist zu diesem Zeitpunkt 70 – und Adrenalin pur. 13 Uhr, Damp querab. In langen Bahnen rollen die Seen in Lee davon. „Du musst mal überlegen, was dieses Schiff mit uns durchgemacht hat“, sinniert Harald Baum. Am Anfang einmal rund ums Mittelmeer. Zypern, Libanon, Griechenland, Albanien, dann zurück in einem harten Törn über die Biskaya. Vor der DaimlerChrysler North Atlantic Challenge wieder über die Biskaya zu den Bermudas, dann nach New York. Auf dem letzten „Bein“ der Regatta, in der Nordsee, schiebt sich die „Elan“ noch auf Platz sechs der Gesamtwertung. Einige, die damals dabei waren, haben immer noch vor Augen, wie der Skipper unmittelbar nach Rückkehr von der Nordatlantik-Regatta bei der Seglerparty durch den Kaispeicher in Hamburg federte, genau da, wo längst die Elbphilharmonie hochgewachsen ist. Keine Spur von Ermüdung in den Knochen, Zufriedenheit im Blick und den Schalk im Nacken. Ein Mann im Einklang mit sich. Es scheint, als sei „Elan“ weniger ein Bootsname als vielmehr Persönlichkeitsprogramm des Skippers.
Kanalschleuse in Kiel. Ein ganzer Pulk von Dampfern. Ihre Schrauben mahlen langsam beim Versuch, Position zu halten. Wir schlängeln uns durch und kommen ohne Stopp in die Schleusenkammer. Die „Elan“ ist gerade fest an der Backbordseite und Baum schon auf den Beinen, unterwegs zu den Schleusenwärtern. Händedruck und wieder zurück. Der Tag wird dunkelgrauer und nass.
Irgendwann biegen wir ab in den Gieselau-Kanal. Fröstelnd im Ölzeug erscheinen uns die Neonlampen an den Anlegestegen links und rechts so heimelig leuchtend wie ein flackerndes Kaminfeuer. Regen pladdert aufs Deck.
Auf dem Tisch in der Messe dampft bald ein Topf Reis, daneben einer mit Gulasch. Feierabend im Kanal. Spät heißt es ab in die Koje. Aber wehe, du ruhst am nächsten Morgen nur fünf Minuten länger als die anderen. Dann kommentiert, sobald dein Kopf im Niedergang auftaucht, der Alte: „Ah, der Schläfer ist auch schon da.“
Mit 2.300 Umdrehungen brummt der Diesel bis zur Brunsbütteler Schleuse. Immer noch fällt Regen. Dann kommen wir endlich in freies Wasser. Es gibt diesen einen Augenblick an Bord eines Seglers – wenn du den Stoppzug ziehst, und die Maschine hört auf zu wummern. Genau diesen Augenblick, in dem die Segel Wind fassen. Diesen Augenblick des Übergangs von der einen in die andere Dimension. Stille umfängt dich. Eine große unsichtbare Hand greift unter dein Schiff. Sie trägt es voran, mit dir und allem, was darauf ist. Das Gefühl gleicht dem, das Springer erleben, wenn ihr Schirm sich öffnet.
Baum hat es wohl hundertmal erlebt, und doch spiegelt sich immer noch Begeisterung über den Moment in seinem Gesicht. Wir schauen am Mast und den Segeln empor, die eine Kraft aus dem Himmel saugen, deren Vorräte keine nachkommende Generation je verbrauchen kann.
„Wir sind auf der Elbe“, sagt Baum, Bilder aus seiner Jugend erinnernd. „Jungs, das ist meine Heimat. Da hinten ist die Brammer Bank. Da kommt Pagensand. Und jetzt das Dwarsloch. Da bin ich schon als Junge gewesen. Ich hatte die Dingi-Krankheit. Immer, wenn wir mit unserem Boot irgendwo lagen, musste ich ins Beiboot und losfahren. Einmal kam ich bis in einen Priel. Als ich drin war, setzte die Ebbe ein, das Wasser lief ab. Ich kam nicht mehr raus. Acht Stunden habe ich da gesessen. Mein Vater hat gewartet. 1952 war das. Ich dachte, ich kriege ’ne Tracht Prügel. Aber als ich zurückkam, sagte mein Vater nur: ‚Na, hast Angst gehabt?‘“
Wischhafen querab. Da war mal ein Liegeplatz beim Schießstand. Baum erzählt von der Schwarzmarktzeit, als er mit seinem Vater Erich und seinem Bruder Hans-Peter unterwegs war auf dem Kielschwerter „Alibi“. Der hatte den Krieg unter einer Straßenbrücke im Hamburger Hofweg überstanden. Baums Vater kannte eine Quelle für Zigaretten und für Zündsteine, wie sie in alten Feuerzeugen benötigt wurden. Selten damals, kaum aufzutreiben. Sie tauschten ihre Ware elbabwärts auf dem flachen Land bei den Bauern ein, gegen alles, was satt machte.
Wurde so sein Geschäftssinn geweckt, sein Gespür für das, was ankommt? Erst einmal blieb er auf dem Wasser zu Hause. Schon seinen 16. Geburtstag hat er auf einem Frachter erlebt. Da fuhr er als Steward von Hamburg nach Baltimore und zurück, für seine Jahresarbeit an der Berufsschule. In einer Schublade in seinem Haus liegen das Seefahrtsbuch und das Zeugnis vom Kapitän.
Zurück auf die Elbe, zur „Elan“: Wir haben festgemacht im Hafen von Wedel. Alle gehen von Bord. Baum indes steht noch beim Schiff. Seine Hand liegt auf dem Bugkorb. Leise sagt er: „Tschüs, mien Deern.“
Der hier gezeigte Text ist dem neuen Buch entnommen, das anlässlich des 125-Jahre-Jubiläums von Pantaenius erscheint.