Eine klare Stimme durchbricht in der Abenddämmerung das sonore Brummen des Diesels: „‚Naja‘, ‚Naja‘, this is Netherlands Coastguard.“ Keine Antwort. Kurze Zeit später wiederholt sich der Anruf. Wieder keine Antwort. Dann sind wir dran: „‚Valentine‘, ‚Valentine‘, this is Netherlands Coast guard.“ Wir antworten: „Netherlands Coastguard, ‚Valentine‘.“ Der Mann von der Küstenwache möchte wissen, ob uns bewusst sei, dass wir den Korridor, der durch den riesigen Windpark Borssele gut 20 Seemeilen vor der Küste Walcherens im Süden der Niederlande führt, soeben verlassen. Nun, die Wahrheit ist: so halb.
Natürlich ist auf dem Plotter klar zu sehen, dass wir am Rand des erlaubten Weges fahren. Aber weil wir fast durch sind und dann eh nach Süden abbiegen müssen, sind wir vielleicht etwas zu nah an die Begrenzung geraten. Oder womöglich sogar schon darüber hinaus. Das interessiert die Küstenbewacher aber ganz sicher nicht. Also erkläre ich, dass uns da wohl die Tide ein wenig versetzt hat – was tatsächlich stimmt – und dass uns das nicht aufgefallen ist – was, zugegeben, nicht stimmt. Mit der Versicherung, dass wir umgehend unseren Kurs ändern, gibt man sich zufrieden. Allerdings werden wir noch gefragt, ob wir die „Naja“ nicht bitte auch zur Kursänderung überreden können. Können wir, denn: Wir sind gemeinsam unterwegs. Unser Ziel: Felixstowe an der Ostküste Englands.
Mit drei Piepsern bestätigt der Autopilot die Kursänderung, und wir verlassen den nicht ganz legalen Bereich des Windparks. Nett, dass die Coastguard uns auf unser Fehlverhalten hingewiesen und nicht gleich ein Bußgeld verhängt hat. Begonnen hat die Reise viele Monate zuvor, und zwar wie so oft mit einer Idee. Helge von der Linden, Chef des Yachtclubs Wesel, rief seinerzeit an: „Du, anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Städtepartnerschaft zwischen Wesel und Felixstowe wollen wir da eine Flottillenfahrt hin machen. Von dort will ich dann noch ein Stück weiter den River Deben hinauf bis nach Woodbridge. Da ist mein Boot gebaut worden.“ Ob ich nicht mitkommen wolle? Ich überlegte nicht lange: Unbedingt sogar! Erstens weil Urlaub mit Helge und seiner Frau Dorothea stets sehr entspannt ist. Und zweitens: Auf die Insel will ich schon ewig mal. Das hat aber bislang nie geklappt. Jetzt ist die Gelegenheit da. Segelkumpel Karsten heuerte für den Trip spontan bei mir an Bord an.
Mitte Juli geht es los. Wir treffen uns in Zierikzee an der Oosterschelde. Fünf Tage später soll die Jubiläumsfeier in der englischen Partnerstadt beginnen. Bei leider viel zu wenig Wind machen wir uns auf den Weg. Zwei große Windparks, diverse Verkehrstrennungsgebiete, der Gezeitenstrom sowie einige Flachs vor der englischen Küste gilt es nach und nach zu meistern. Vielleicht ja doch ganz gut, dass es nicht mit 20 Knoten weht.
So tuckern wir nach 22 Stunden in den River Orwell. Der Strom läuft wie vorausberechnet mit. Zunächst geht es vorbei an den imposanten Hafenanlagen von Felixstowe. Die berühmte Shotley Marina lassen wir anschließend an Backbord liegen, ebenso das bekannte Fish-and-Chips-Paradies „Butt and Oyster“ in Pin Mill. Unser Ziel ist der Suffolk Yacht Harbour. Hier erwarten uns zwei andere Boote bereits, die ebenfalls an der Flottille teilnehmen. Eine war in Stellendam am Haringvliet gestartet, die andere, eine Motoryacht, kam aus IJmuiden.
Natürlich weht die gelbe Quarantäneflagge unter der Saling. Ohne sie darf man aus der EU kommend England nicht anlaufen. Ferner muss den Behörden zuvor der Passage Plan übermittelt werden. Desgleichen die wichtigsten Daten aller Crewmitglieder. Vor Ort, so hieß es, komme dann der Zoll an Bord, und nach der Einklarierung dürfe man sich dann frei bewegen. Danach gefragt, lacht der Hafenmeister allerdings nur: „Du musst die nur anrufen, dann bist du meist schon einklariert.“ Und genau so ist es dann auch: Ein Anruf, und wir sind offiziell eingereist.
Abends geht es zusammen mit den anderen Crews zum Willkommens-Dinner in den Yachtclub im Hafen. Mit dabei: Andy Robinson vom Felixstowe Ferry Sailing Club. Er ist Yachtcaptain des Vereins und selbst Eigner einer Yacht. Andy klärt uns über die Einfahrt in den River Deben auf, denn an dem befindet sich das Clubheim des Partnervereins der Weseler Segler. Vor dem Fluss liege eine weitläufige und veränderliche Barre, die man bei zu viel Wind besser meiden solle, so sein Rat. Zwei Tage später sind die Bedingungen gut: wenig Wind und Hochwasser zu einer christlichen Uhrzeit. Wir fahren ein in den urigen und für die englische Ostküste so typischen Fluss.
Für den nächsten Tag steht Sightseeing in Felixstowe auf dem Programm. Dann wird ein Fußballspiel Deutschland gegen England anberaumt. Zum Glück sind Abgesandte weiterer Vereine aus Wesel angereist; Fußball ist irgendwie nichts für Segler. Abends wird im „Ferry Boat Inn“, dem „FBI“, wie es die Einheimischen nennen, bei vorzüglichem englischen Essen und leckerem Ale die Überfahrt ausführlich nachbesprochen.
Der Besuch im eindrucksvollen Fort am Nachmittag, das den Hafen und die Einfahrt in den River Orwell unter anderem im Zweiten Weltkrieg schützen musste, hatte zuvor deutlich gemacht, wie wichtig Städtepartnerschaften heute noch sind. Vor 50 Jahren hatte alles mit einem Austausch von Feuerwehrleuten beider Städte begonnen. Inzwischen wird die Partnerschaft auf vielen Ebenen gelebt. Der Yachtclub Wesel und der Felixstowe Ferry Sailing Club sind ebenfalls länger schon miteinander verbunden.
Die Familie von der Linden betreibt seit jeher in Wesel einen Handel mit Schiffszubehör, der sich im Laufe der Zeit zu einer der Top-Adressen für innovative Bootsbaumaterialien entwickelt hat. Seinerzeit galt es zu zeigen, was das neue Material Epoxidharz zu leisten vermag. Ein passender Bootstyp zu Demonstrationszwecken musste her. Über die Städtepartnerschaft entstand der Kontakt zu einer Werft in Woodbridge am River Deben, die gerade eine Vertretung im Ausland suchte. Die Werft baute dann ebenjene „Naja“, mit der Helge und Dorothea von der Linden nun erneut an den Deben gereist sind.
Als das Boot im Bau ist, merkt man, dass hüben wie drüben enthusiastisch gesegelt und Jugendarbeit betrieben wird. Man bleibt in Kontakt, und in den Folgejahren entstehen Freundschaften zwischen den Vereinsmitgliedern.
Einer, der das alles von Anfang an miterlebt hat, ist Palm Heise. Der 86-Jährige ließ es sich partout nicht nehmen, per Boot anzureisen. Das sei ihm wichtig gewesen, um den Freunden vom FFSC seine Aufwartung zu machen. Er kennt viele der Mitglieder des englischen Clubs persönlich. Vor etlichen Jahren ist er mit seinem alten Krabbenkutter auf eigenem Kiel hergesegelt, damals schon als Delegation des Weseler Vereins. In dem war auch die Familie, der früher die Diebels-Brauerei gehörte, Mitglied. Daher nahm man als Gastgeschenk einige Fässer Altbier mit. Es wird kolportiert, dass die Crew sie bei der Einreise außenbords gehängt und als Fender deklariert habe, um nicht beim Zoll aufzufallen.
Es geht herzlich zu an diesen Jubiläumstagen. Mitunter auch offiziell: Sakko und Krawatte werden getragen, zumindest von einigen. Die Crew der „Valentine“ verpasst den offiziellen Charakter des sonntäglichen Lunches und wird von der Commodorin des englischen Clubs gerettet: Auch sie kommt in Shorts. Das traditionelle Sunday Roast hingegen ist förmlich. Man spürt, wie wichtig den Anwesenden diese Begegnung ist und wie sehr sie die Partnerschaft weiterhin mit Leben füllen wollen.
Große Reden gibt es aber nicht, das passt weder zum Chef der Weseler noch zur Commodorin der Engländer. Stattdessen wird gemeinsam gegessen, geplaudert, geschwelgt und gelacht. Ein herrlicher Nachmittag im Clubheim mit direktem Blick auf die Einfahrt in den Deben. Die hatte die deutsche Delegation am Vormittag problemlos gemeistert. Die Betonnung war unlängst noch angepasst worden, auf der Website von Felixstowe Port stehen die Tiefen fast minutenweise genau angegeben. Und wir hatten einen lokalen Lotsen dabei.
Ribs mit Clubmitgliedern begrüßten uns schon während der Ansteuerung. An der engsten Stelle strömte es da gewaltig. Vier bis fünf Knoten sind hier keine Seltenheit. Wer sich verrechnet, hat bei Gegenstrom alle Zeit der Welt, sich auf der einen Seite das Clubhaus der Engländer genauestens anzuschauen und auf der gegenüberliegenden Seite Bawdsey Manor zu bewundern, ein altehrwürdiges Herrenhaus.
Hier wurde ab 1936 das Radar maßgeblich weiterentwickelt, sodass im Verlauf des Krieges anfliegende deutsche Bomber immer frühzeitiger entdeckt werden konnten. Wie ein weiteres Mahnmal für die Wichtigkeit des Austauschs auf allen Ebenen bewacht das Herrenhaus heute die Einfahrt des Deben.
Segeln verbindet. Aus einstigen Feinden sind Freunde geworden. Die Partnerschaft über die Nordsee hinweg ist mit Leben gefüllt.”
Bei uns stimmt die Tidenkalkulation zum Glück, und so steuern wir mit viel Schwung das Muringfeld auf dem Fluss an. Dass Yachten statt an Steganlagen an fest verankerten Bojen im Flusslauf liegen, ist in vielen Gegenden Englands typisch. Kaum haben wir an für uns reservierten Bojen festgemacht, werden wir auch schon mit den Ribs abgeholt.
Einen Tag später, nachdem der offizielle Teil des Festaktes vorbei ist, geht es mit dem Flutstrom weiter den Fluss hinauf. Wir wollen nach Woolbridge, das einige Stromkilometer landeinwärts liegt. An den Ufern zieht die durchaus hübsche ostenglische Landschaft vorüber. Auf den Weiden stehen Kühe, die uns Bootsfahrern stoisch hinterherschauen. Es riecht nach Salzwasser und nach Schlick. Am Ende des schiffbaren Teils des Deben angekommen, erreichen wir die Tide Mill Marina. Die fällt bei Ebbe nicht trocken. Eine Schwelle in der Einfahrt hindert das Wasser im Hafenbecken, abzufließen.
In Woodbridge wird derzeit die Replika eines alten angelsächsischen Langbootes gebaut. Wir besichtigen die Werft. Dort erfahren wir, dass auf der gegenüberliegenden Flussseite das legendäre Sutton Hoo liegt. Dort ist in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Schiff entdeckt worden, das offenbar als Grabbeigabe gedient hatte. Es stammte wohl aus dem siebten Jahrhundert. Nun soll es also neu entstehen. Und das am gleichen Ort, an dem vor vielen Jahren auch die „Naja“ gebaut wurde.
Die „Naja“ wurde einst in Woodbridge am Deben gebaut. Nun kehrt sie an ihren Ursprungsort zurück – ein bewegender Moment.
Nach einem letzten Abend vor Ort wird es Zeit, den Rückweg anzutreten. „Valentine“ und die Crew der Weseler Motoryacht brechen gemeinsam auf, die anderen bleiben noch einen Tag länger. Das Wetterfenster passt. Also fahren wir unter Maschine aus dem River Deben hinaus. Der bei der Anreise aufgezeichnete Track erweist sich hierbei als hilfreich.
Vor der Küste dann setzen wir Kurs auf die Nordseite des Galloper Windparks. Dort angekommen, frischt der Wind endlich auf. Segeln. Leider weht es allerdings mit 20 Knoten zunächst gegen die nordsetzende Strömung. Das macht die See etwas holprig. Das Schiff aber schlägt sich prächtig, auch wenn unter Deck einiges durcheinandergerät. Solch ruppige Bedingungen ist „Valentine“ nicht gewohnt.
Mit Einsetzen der Dämmerung erreichen wir die großen Verkehrstrennungsgebiete. Dank AIS stellt uns die schwindende Sicht nicht vor ein Problem. Ein Frachter, den wir anrufen und um Kursänderung bitten, damit wir die Einfahrt in den Windpark Borssele genau treffen, kommt unserer Bitte gerne nach. Als im Korridor der Wind fast voll ständig einschläft, warten wir zunächst ab, ob er es sich nicht vielleicht noch einmal überlegt. Unsere durch die Strömung verursachten, etwas erratisch erscheinenden Manöver rufen einmal mehr die Küstenwache auf den Plan: „‚Valentine‘, ‚Valentine‘ …“ Ob denn alles in Ordnung sei, will eine Dame diesmal wissen.
Zeit, den Motor zu starten und nach Hause zu motoren. Dort, in der Oosterschelde, kommen wir am nächsten Morgen ganz entspannt an. Einen Tag später sind auch Helge und Dorothea von der Linden mit ihrer „Naja“ wieder zurück. Die Reise ist zu Ende. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass es zwei Segelclubs diesseits und jenseits der Nordsee gibt, die einfach gut zueinanderpassen.