YACHT-Redaktion
· 07.11.2022
Mehrere Mitglieder einer Familie vom Niederrhein haben ein Faible für die Arktis. Mit einer Expeditionsyacht gehen sie alle zusammen auf eine außergewöhnliche Fotosafari nach Spitzbergen. Die Reportage
Nur einige Hundert Meter trennen uns noch vom Seeeis in der Borebukta-Bucht. Vollkommen flach und nur von ein wenig Schnee bedeckt, liegt es wie ein dünner Film auf dem Wasser. Ganz langsam schiebt sich unser Schiff an die Eiskante heran, bis es mit einem Rums zum Stehen kommt. Das hatten wir so nicht erwartet, das Eis sah doch so dünn aus. Der entspannte und leicht belustigte Blick unseres Kapitäns Phil verrät uns jedoch, dass er keineswegs überrascht ist. Wir sind wohl nicht die Ersten, denen er mit seinem unorthodoxen Manöver einen kleinen Schrecken eingejagt hat.
Dass wir mit unserer Annahme, eine zerbrechliche Eisschicht vor uns zu haben, letztlich doch nicht ganz verkehrt lagen, bestätigt uns später Marcel. Er ist als Guide auf dieser Nordexpedition dabei und kennt sich bestens aus. Seeeis sei salzhaltig, erklärt er. Damit es richtig fest werde, müsse die Temperatur deutlich unter null Grad fallen. „Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt hat es weniger Stabilität als zum Beispiel abgebrochenes Gletschereis, das im Wasser treibt. Dafür friert es meist zu riesigen Eisschollen zusammen“, erfahren wir.
Anfang Mai beginnt das Seeeis allmählich zu schmelzen. Wir müssen vorsichtig sein und entscheiden uns, zunächst zu zweit und in Überlebensanzügen vorsichtig auf die gefrorene Fläche hinabzuklettern, um deren Tragfähigkeit zu testen. Tatsächlich fühlt sich der Untergrund eher weich und nachgiebig an, wie gefrorenes Gras auf einer Wiese, und gar nicht so hart wie auf einer Schlittschuhbahn.
In den dicken Anzügen bewegen wir uns Schritt für Schritt voran, erst behutsam und vorsichtig, dann immer entspannter an der Eiskante entlang. Wir machen uns schließlich sogar einen Spaß daraus, von einer Eisscholle zur nächsten zu springen. Kommen wir mal nicht weiter, schiebt uns Phil einfach mit dem Schiff zur nächsten Scholle.
Nach der Vorhut traut sich der Rest der Truppe ohne Überlebensanzüge aufs Eis. An kleinen Spalten können wir sehen, dass es etwa 30 Zentimeter dick ist – also keine Gefahr! Die lauert woanders: Mächtige Tatzenspuren im Schnee verraten, dass hier vor Kurzem erst ein Eisbär entlanggelaufen ist. Marcel entdeckt das Tier dann auch nach kurzer Zeit. Etwa 400 Meter entfernt liegt der Bär in einer Schneekuhle direkt am Gletscher und beobachtet uns. Wenngleich es nicht so aussieht, als wäre er hungrig, ziehen wir uns lieber aufs Schiff zurück.
Die Idee für diese Reise entstand vor etwa zwei Jahren. Wir sind eine Familie bestehend aus zwei Amateurfotografen, einem Amateurfunker und drei Seglern. Uns allen gemein ist die Faszination für die Arktis. Unsere Segler überzeugten uns, diese sensible Landschaft mit einem kleinen Segelboot statt auf einem Kreuzfahrtschiff zu erkunden. Ende Mai dieses Jahres haben wir uns unseren gemeinsamen Traum erfüllt und sind nach Longyearbyen geflogen. Dort angekommen, stiegen wir um auf die „Qilak“.
Bei unserer Ankunft liegen die Temperaturen um den Gefrierpunkt, die komplette Region ist noch schneebedeckt. Wie anders die Welt hier ist, wird uns bewusst, als wir Einheimische sehen, die auf Skiern unterwegs sind. Zu ihrer Ausrüstung gehören nicht nur Ski, Stöcke und Helm, sondern auch Gewehr und Schreckschusspistole. Wer den Ort verlässt, muss beides dabeihaben. Longyearbyen selbst gilt aufgrund des regen Treibens als relativ sicher. Pick-ups und Baumaschinen, Schneescooter und Lkw, die auf schlammigen Pisten fahren, machen genug Lärm, um Eisbären abzuschrecken. Auch auf uns wirkt der Ort wenig einladend. Zu dieser Jahreszeit, in der es zu tauen beginnt, ist das Wetter nasskalt, der verbliebene Schnee entlang der Wege schmutzig braun. Erst auf den zweiten Blick merkt man, mit wie viel Mühe es sich die Einheimischen hier wohnlich gemacht haben. Jedes Haus und jede Hütte ist liebevoll eingerichtet, und die Bewohner, zusammengewürfelt aus den verschiedensten Nationalitäten, freuen sich, uns ihre Geschichten zu erzählen.
Vor den Bären müssen die Einwohner Spitzbergens und auch jeder Besucher des Archipels auf der Hut sein. Ohne Gewehr darf hier keiner in die Wildnis”
Wir erfahren, dass Longyearbyen ursprünglich wegen der hiesigen Kohlevorkommen gegründet wurde. Da es im Ausläufer des Golfstroms liegt, bleibt der Fjord das ganze Jahr über meist eisfrei. Davon profitieren auch die Betreiber der „Qilak“. Das Schiff liegt an Longyearbyens einzigem großen Schwimmsteg. Zwischen großen Versorgungsschiffen, Tankern und rostigen Stahlschiffen wirkt die 66-Fuß-Aluyacht eher klein. Als wir einchecken, begrüßt uns Phil mit seiner Crew: dem Maat Carlos und dem Koch Thomas. Die „Qilak“ macht einen überaus robusten Eindruck. Dank Deckshaus und Innensteuerstand lässt es sich auch bei widrigem Wetter entspannt an Bord aushalten. Unter Deck befinden sich vier Kabinen für bis zu acht Gäste sowie eine große Messe und eine Küche. Highlight des Schiffes ist aber definitiv die kleine Sauna, von der aus man das Eismeer schwitzend genießen kann. Bei noch strahlendem Sonnenschein motoren wir später am Tag aus dem Isfjord hinaus, setzen die Segel und fahren bei leicht südöstlichem Wind mit ausgebaumter Genua gen Norden.
Nach einiger Zeit stellt sich ein für diese Jahreszeit typischer Seenebel ein, der über dem Wasser liegt. In der Ferne durchbrechen einige Bergspitzen das wabernde Weiß. Wir genießen die Magie dieses Augenblicks und die Ruhe, mit der das Boot durch die kaum vorhandenen Wellen gleitet. Stundenlang sitzen wir warm eingehüllt an Deck und freuen uns, als sich der Nebel lichtet und den Blick auf die vorbeiziehende Landschaft freigibt.
Marcel entdeckt mit dem Fernglas auf einer Sandbank, die zum Teil noch meterdick mit Eis bedeckt ist, eine Kolonie von etwa 30 Walrossen. Mit dem Zodiac landen wir an und nähern uns den Tieren im Schutz des Eises. Natürlich haben uns die aufmerksamen Kolosse längst bemerkt. Einige kommen schwimmend auf uns zu und beobachten uns interessiert vom Wasser aus. Von den an Land liegenden Walrossen steigt Dampf in die kalte Luft auf. Immer nur für kurze Zeit liegen die Tiere ruhig auf dem Bauch oder auf dem Rücken, mit den gewaltigen Stoßzähnen in den Himmel zeigend. Denn ständig versuchen einzelne Tiere, einen besseren Platz zwischen den anderen zu ergattern, sodass die ganze Kolonie permanent in Bewegung ist. Es ist ein Geschiebe und Geschubse, Gestöhne und Gerangel. Kein Wunder, wer will schon gern den 500 Kilogramm schweren Nachbarn halb auf sich liegen haben!
Außer uns und der Crew vervollständigen Rick und seine Frau Annika unser Team. Beide sind ihr Leben lang gesegelt, und Rick ist noch dazu ein fantastischer Regatta- und Naturfotograf. Von ihm erfahren wir, wie weit wir uns den Walrossen nähern können und wie man sie am besten vors Objektiv bekommt. Abends sitzen wir dann zusammen im Salon der „Qilak“ vor einem großen Bildschirm und diskutieren unsere Aufnahmen vom Tag. Es soll ein festes Ritual dieses Törns werden.
Auch unser Kapitän Phil nimmt an den Runden teil. Er gibt uns stets ein Update über den Reiseverlauf und die Wetterprognosen. Anhand dessen bestimmen wir gemeinschaftlich die Route für den nächsten Tag. Da kaum Wind, aber strahlender Sonnenschein gemeldet ist, entscheiden wir uns, anderntags zum Vogelfelsen von Alkhornet zu motoren.
Einmal dort an Land, wird es beschwerlich. Der Marsch zu dem Vogelfelsen ist schweißtreibend und anstrengend. Nicht, weil es steil bergauf ginge, sondern weil wir uns mühsam durch noch tiefen Schnee bewegen müssen. Immer wieder sinken wir bis zu den Hüften ein. Erst unterhalb des markanten Felsens haben Wind und Sonne die Tundra vom Schnee befreit. Jetzt stapfen wir über Moose und Gräser – und sinken zur Abwechslung in den nassen Boden ein, zum Glück nur wenige Zentimeter tief.
Ende Mai ist der Felsen noch kaum von Brutvögeln besucht. Schneehühner sind die einzigen Vögel, die das ganze Jahr über auf Spitzbergen leben. Das braun gefiederte Weibchen fällt kaum auf in der Tundra, während der Hahn eher wie ein weißer Schneefleck wirkt. Zwei kleine Rentiere grasen unterhalb des Felsens. Sie sind jetzt ohne Geweih, aber noch in plüschiges Fell gekleidet. Unser Guide klärt uns auf: „Auf Spitzbergen sind die Rentiere kleiner als die auf dem Festland, was wohl dem kargen Futterangebot geschuldet ist.“ Während wir ruhig am Felsen verharren, kommen die neugierigen Tiere bis auf ein paar Meter heran und legen sich dann entspannt nieder.
Die Arktis empfängt uns immer wieder mit einer unglaublichen Ruhe und Stille. Außer dem Zodiac befinden sich auf der „Qilak“ auch zwei Kajaks. Mit diesen können wir das Eismeer um uns herum auf lautlose Weise erkunden. Beinahe ohne jedes Geräusch gleiten wir damit zwischen kleinen Eisbergen hindurch bis direkt vor die Kante eines Gletschers.
Dann stapfen wir erneut über durchnässte Tundrawiesen und viel Geröll zu einem weiteren Vogelfelsen. In der obersten Etage des Felsens lassen sich im Mai Papageientaucher nieder. Nicht nur die Fotografen unserer Truppe sind nun nicht mehr vom Felsen wegzubekommen. Die Vögel sind einfach zu putzig und schön anzusehen. Das Idyll wird getrübt von zwei Skuas, schwarzbraunen Raubmöwen, die eine Sturmmöwe attackieren. Sie verfolgen sie, schneiden ihr den Weg ab und piksen sie in den Bauch. Ein akrobatischer Luftkampf, der sich vor unseren Augen abspielt. Der Grund: Die Sturmmöwe soll ihren gerade gefangenen Fisch wieder hervorwürgen. Friedlicher geht es bei den Eiderenten in der untersten Etage des Felsens zu. Schon von Weitem hört man den pfeifenden Ruf der Erpel. Auf Spitzbergen gibt es auch Prachteiderenten, deren Erpel durch ihren besonderen Kopfschmuck auffallen.
Unser Weg gen Norden führt uns bis in den Kongsfjord. Dann ist Schluss, die Nordküste Spitzbergens ist noch von dichtem Eis umschlossen. Wir nehmen daher Kurs auf Ny-Ålesund, ebenfalls eine ehemalige Bergarbeitersiedlung. Heute ist es ein Zentrum für Wissenschaftler aus aller Welt, die über die Arktis und den Klimawandel forschen. Zahlreiche Gletscher münden in den Kongsfjord, viele schmelzen ab – die Folgen des Klimawandels zeigen sich leider eindrucksvoll. An einer Stelle können wir anhand von Schleifspuren an den Bergwänden erkennen, wie weit sich der Gletscher bereits zurückgezogen hat.
Eine Zodiac-Tour bringt uns in die Nähe des Gletschers. Es wird merklich kälter, eisiger Wind fällt von oben herab. Aus der Nähe erkennen wir, dass das Eis keineswegs durchgehend klar und weiß schimmert, sondern von braun marmoriert bis leuchtend türkisblau gefärbt ist. Immer wieder ist ein lautes Knacken zu hören, wenn sich Spannungen im sich bewegenden Gletscher lösen. Später, wir sind wieder auf der „Qilak“, knallt es derart laut, dass alle zusammenzucken. Ein Stück, so groß wie ein Einfamilienhaus, bricht von der Kante ab, stürzt ins Wasser, taucht kurz unter und rollt dann mehrfach hin und her. Der Gletscher hat gekalbt, und ein Eisberg ist geboren. Wir sind mit dem Schiff mehrere Hundert Meter entfernt, und dennoch spüren wir die erzeugte Welle deutlich.
Gefahr droht aber auch von der anderen Seite: Auffrischender Wind hat die Seeeisschollen, die auf der Hinfahrt harmlos im Fjord schwammen, zusammengeschoben. Unser Kapitän entscheidet, nicht zu ankern. Stattdessen lässt er das Boot mit dem Eis driften, um Kollisionen zu vermeiden. Inmitten dieser unwirtlichen Eiswelt übernachten wir.
Am nächsten Morgen schiebt sich die „Qilak“ dann im Slalom zu unserem nächsten Ziel. Unterwegs werden wir überrascht, als sich gleich neben uns ein unscheinbarer Eisberg plötzlich und fast lautlos zu drehen beginnt. Aus dem schwimmenden Hügel von der Größe eines Kleinwagens wird unversehens ein haushohes Ungetüm. Gekonnt manövriert Phil die „Qilak“ zur Seite; nur ein paar Wasserspritzer erreichen unser Schiff. Gespannt sehen wir anschließend zu, wie der in der Sonne funkelnde Koloss langsam zerbricht. Bevor er versinkt, fahren wir dicht heran und sichern uns ein paar Eiswürfel für den nächsten Drink. Kristallklar schwimmen sie im Glas – Whisky on the rocks, wie er besser nicht sein könnte!
Spitzbergen ist zu rund 57 Prozent mit einer festen Eisschicht bedeckt. Noch. Die Gletscher schmelzen aber auch hier – eine Folge des Klimawandels”
Wo aber ist die raue, kalte Arktis, die wir erwartet hatten? Dicke Daunenjacken und Skibrillen sollten uns schützen. Stattdessen genießen wir meist strahlenden Sonnenschein bei angenehmen Temperaturen. Eine Ölzeughose und ein Wollpulli reichen eigentlich völlig aus. Manchmal sogar noch weniger: „Wer kommt mit schwimmen?“, fragt der Spanier Carlos, unser erster Maat. Mit Badehose und Wollmütze bekleidet klettert er aus dem Niedergang. Ungläubig gucken wir von Carlos zu dem mit Eisklumpen gespickten Wasser und staunen nicht schlecht, als er ganz entspannt die Leiter ins Wasser hinabsteigt und zwischen dem Eis ein paar Runden zieht. Da wollen wir nicht länger nur zuschauen und tun es ihm gleich. Wer möchte schließlich später nicht von sich behaupten können, schon einmal in der Arktis geschwommen zu sein!
Wir drehen um und segeln zurück gen Süden in den großen Isfjord, der Spitzbergen fast in zwei Hälften teilt. Dort erwarten uns einmal mehr Windstille und 24 Stunden Sonne am Tag. „So eine Schönwetterperiode ist für Mai sehr ungewöhnlich“, sagt Marcel und fügt dann hinzu: „Draußen steht ein Eisbär!“ Wir vergessen unser gerade begonnenes Frühstück und stürmen an Deck. Tatsächlich entdecken wir in wenigen Hundert Meter Entfernung einen Bären auf dem Eis. Phil setzt den Bug der „Qilak“ ebenfalls aufs Eis, dann warten wir gebannt.
Es muss wohl der Duft nach gebratenem Speck sein, der aus der Kombüse steigt, der den Eisbär neugierig macht. Die Nase reckend, nähert er sich. Phil startet die Maschine und lässt das Boot rückwärts vom Eis rutschen. Besser auf Abstand bleiben, denn der Bär würde ganz offensichtlich nur zu gern an Bord klettern. Ruhelos wandert er die Eiskante entlang, bricht ein paar Mal ein, steigt zurück aufs Eis, schüttelt sich wie ein nasser Hund und stellt sich auf die Hinterbeine. Dieser Anblick aus nächster Nähe ist ebenso beängstigend wie faszinierend.
Was hat uns am meisten auf dieser Reise berührt? Diese unnachahmliche Stille. Die Weite der Landschaft. Die großartige Tierwelt. Da wird einem einmal mehr bewusst, wie klein wir Menschen inmitten dieser Natur sind. Und wie behutsam wir mit ihr umgehen sollten.
Familie Klein