40 Jahre ARCDie abenteuerliche Atlantikfahrt einer YACHT-Crew im Jahr 1986

YACHT-Redaktion

 · 21.11.2025

YACHT-Artikel über die erste ARC 1986
Foto: YACHT/Klaus Bartels
Zwei YACHT-Redakteure waren vor 40 Jahren bei der allerersten ARC dabei. Auf der „Wann-O-Zeven“ starteten die Redakteure Klaus Bartels und Michael Bohmann gemeinsam mit ihren dänischen Freunden John und Knud ins große Abenteuer. Der in Teilen heute haarsträubend zu lesende Bericht von Bartels erschien seinerzeit in der YACHT. Hier drucken wir ihn noch einmal ab. Eine erkenntnisreiche Lektüre - nicht nur für die Teilnehmer der am Sonntag startenden 40. Atlantic Rally for Cruisers.

​Von Klaus Bartels

John und Knud stelzen mit steifen Bewegungen über das Vorschiff der „Wann-O-Zeven“ und schlagen den Spinnaker an. Wir sind bereits um 10.00 Uhr – zwei Stunden vor dem Start – aus dem Hafen von Las Palmas ausgelaufen, um uns wieder mit dem Schiff vertraut zu machen. Immerhin sind fast vier Monate vergangen, seitdem wir zum letzten Mal gemeinsam auf der Bianca 107 segelten.

„Wirf mal das Spifall los!“ – „Welches?“ Wir sind noch keine eingespielte Crew.

Auch mir fehlen noch die Seebeine. Als ich mich in Richtung Vorschiff bewege, halte ich mich sicherheitshalber mit beiden Händen fest, und beim Bergen des Vorsegels bleibt nur eine Hand für die Arbeit frei. Liegt es an dem für uns Ostseesegler ungewohnten hohen Seegang vor der Hafenausfahrt oder am Wein, der gestern Abend zum Abschied etwas zu reichlich geflossen ist?

15 Minuten vor dem Start verlässt das spanische Kriegsschiff, das mit einem Kanonenschuss die Regatta anschießen soll, den Hafen und legt sich auf Position. John, der die meisten Regatten von uns vieren gesegelt ist, blickt dauernd auf die Uhr und schlägt vor, genau beim Startschuss über die Linie zu gehen. Skipper Michael will jedoch keinen Stress. Auch mir leuchtet ein, dass man bei einer Distanz von fast 2800 Seemeilen beim Start nicht unbedingt um Sekunden kämpfen muss. Der Meinung ist auch Eigner Knud. John gibt sich geschlagen.

Startschuss. Wir segeln ungefähr als 40. Schiff über die Linie und nehmen Kurs auf die Nordspitze der Insel. Der Seegang nimmt zu. Meine drei Mitsegler machen sich seefest. Sie kleben sich Skopolamin-Pflaster hinter die Ohren. Mir ist etwas flau in der Magengegend. Aber ich bin doch nie seekrank geworden, darum verzichte ich auf das Medikament. Nach zwei Stunden bin ich froh darüber. Bei John und Michael machen sich Nebenwirkungen bemerkbar, beide klagen darüber, dass sie schlechter sehen können. In der aufgewärmten Erbsensuppe sieht John sogar ständig Gurken.

Gran Canaria zieht langsam an Backbord vorbei. Wir setzen den großen Spinnaker. John am Ruder ist in seinem Element. Die Bianca läuft zwischen acht und neun Knoten. Eigner Knud lächelt wissend, als sein Schiff an anderen vorbeisegelt. John freut sich über jedes „Überholmanöver“. Nur der Skipper sieht manchmal sorgenvoll auf den Windmesser. In einer Bö klettert das Log sogar auf zwölf Knoten. Um 18.00 Uhr, zum Sonnenuntergang, schläft der Wind jedoch ein. Mit der einsetzenden Dunkelheit blinken an Steuerbord die ersten Lichter von Teneriffa über das Wasser. Noch 2750 Meilen bis Barbados.

Aus dem Logbuch: 18.00 Uhr; Besegelung Genua, Groß; Kurs 245 Grad; Wind westlich 2 bis 3 Beaufort; Temperatur 19 Grad.

Meine erste Nachtwache beginnt um Mitternacht. Hinter uns sind einige Lichter anderer Regatta-Teilnehmer zu erkennen. „Wir sind die ersten“, empfängt mich Knud. Vier Stunden sitzen wir gemeinsam im Cockpit, sprechen aber wenig. Die Selbststeueranlage hält in der ruhigen Nacht gut den Kurs, und das gleichmäßige Rauschen der Bugwelle hat eine einschläfernde Wirkung. Die Zeit will nicht vergehen. Um 4.00 Uhr bei der Wachablösung ist Teneriffa immer noch querab.

Das ganze Schiff riecht nach gebratenem Speck, als ich nach vier Stunden aufwache. Zum Frühstück serviert Michael Rühreier mit Speck. In Las Palmas haben wir unter anderem ein großes Stück Speck, 100 Eier und sogar einen luftgetrockneten Schinken gekauft.

Wir beschließen nach längerer Diskussion, dass die Wachzeiten verkürzt werden müssen. Drei Stunden reichen.

Kaum ist der letzte Kaffee ausgetrunken, wird der über 100 Quadratmeter große Spinnaker gesetzt. „Wir segeln ja schließlich Regatta“, meint John. Vier Stunden später hat der Wind jedoch stark aufgefrischt. Die große Blase wird durch den 60-Quadratmeter-Spi ersetzt. Dabei haben wir den ersten Materialschaden. Beim Setzen bleibt das leichte Vormwindsegel am Achterliek des Lattengroßsegels hängen und zerreißt.

Aus dem Logbuch: Barometer 1023; Wind 4 Beaufort mit Böen; 24.00 Uhr Flaute; Temperatur 18 Grad.

„Wann bist du eigentlich zum letzten Mal als Crew gefahren?“, will John von mir wissen. Auch bei ihm ist es schon Jahre her. Auf dem eigenen Boot fährt man ja immer als „Kapitän“. Weil Michael als einziger von uns die Astronavigation beherrscht und Hochsee-Erfahrung hat, haben wir ihn als Skipper ausgeguckt.

Um 06.00 Uhr nach der ersten Nacht lege ich mich in die Koje. Eine Stunde später bin ich wieder hellwach. Das Schiff rollt stark. Unter Deck poltert es, Geschirr klirrt, dumpf schlagen Wellen gegen die Bordwand. Obwohl wir Kojensegel gespannt haben, muss man sich in das Polster krallen, damit man nicht hin und her geschleudert wird.

Windstärke 6. An Schlaf ist nicht zu denken. In jedem Wellental schlagen die Segel mit lautem Knall back. Der Mast klappert und rüttelt.

Die Atlantik Dünung hat weiße Schaumköpfe bekommen. Mit Blister und einmal gerefftem Groß segelt die Bianca sogar in Lee der Wellenberge fast ständig 8 Knoten.

Die Zubereitung der morgendlichen Rühreier ist nur mit vier Händen möglich. Gefrühstückt wird auf dem Cockpitboden. Wir sind jedoch noch ungeübte Atlantikbezwinger. Das Ei rutscht vom Teller, Kaffeetassen kippen um. Zum ersten Mal wird an Bord der „Wann-O-Zeven“ geflucht.

Ich habe Konzentrationschwierigkeiten, versuche, noch ein paar Stunden zu schlafen. Das gelingt nur eingeklemmt zwischen Polster und Kojensegel. Niemand fühlt sich mehr richtig wohl. Allen fällt das Sitzen schwer. Ich spüre jeden Knochen. Michael, der bereits viermal den Atlantik überquert hat, tröstet uns: „Das ist immer so am dritten Tag.“

Kurz nach 18.00 Uhr scheint die Sonne ins Meer zu fallen. Innerhalb von Minuten ist sie hinter dem Horizont verschwunden. Ich habe einen neuen Wachplan entworfen, der von allen akzeptiert wird. Ab 18.00 Uhr hat jetzt immer ein Crewmitglied drei Stunden Wache. Ein zweiter Mann muss mit angelegtem Sicherheitsgurt in Bereitschaft sein. Er kann sich auch unter Deck aufhalten. Nachts, das ist ein ungeschriebenes Gesetz, müssen sich alle mit dem Sicherheitsgurt an der im Cockpit gespannten Leine einpicken.

Der fünfte Tag. Als ich um 06.00 Uhr geweckt werde, ist es noch dunkel. Der Wind schläft weiter. Die Bianca segelt auch bei wenig Wind mit fünf Knoten. Das knallen der Segel in den Wellentälern hört man schon fast nicht mehr. So schnell kann sich der Mensch an Lärm gewöhnen. Nur Knud guckt nach jedem Schlagen der Segel sorgenvoll in den Mast.

Michael gibt mir eine erste Lehrstunde in Astronavigation. Die Sonne scheint, eine leichte achterliche Brise treibt uns an. Dabei habe ich gar nicht das Gefühl, dass wir uns vorwärts bewegen. Stunde um Stunde sieht der Atlantik gleich aus. Er kommt mir vor wie eine Scheibe, die „Wann-O-Zeven“ ist Ihr Mittelpunkt. Nur am immer länger werdenden Bleistiftstrich auf der Seekarte registriere ich Fahrt. Irgendwie habe ich immer noch das Gefühl, dass vor uns gleich Land auftauchen muss. Dabei liegen 2000 Seemeilen vor uns.

Ein lauter Knall: Die Yacht ist mit einer halb unter Wasser treibenden Bohle zusammengestoßen. Das etwa drei Meter lange Holzstück hat glücklicherweise nicht einmal das Gelcoat beschädigt.

Aus dem Logbuch: 12.00 Uhr; Etmal 138 Seemeilen; Barometer 1021; Kompasskurs 270 Grad; Temperatur 25 Grad.

Die Flaute, von der fast jeder Atlantiksegler berichtet, der von den Kanarischen Inseln Richtung Westen segelt, holt uns am Nachmittag ein. Die Sonne brennt, die Crew wetteifert im Gebrauch von Sonnenschutzcremes. Nach meiner ersten Standortberechnung haben wir trotz der lauen Winde noch ein Etmal von 136 Meilen zurückgelegt. Die am Heckkorb befestigte Bananenstaude reift schnell. Aber auch die Tomaten werden mit einem Schlag überreif. Es wird ein Obst- und Gemüsetag.

Weil der große Spi immer einfällt, setzen wir unseren Blister. Die Windsteueranlage macht Feierabend. Für den Sailomat ist der Wind zu flau. Wir steuern abwechselnd per Hand. Je geringer die Bootsgeschwindigkeit wird, umso stärker sind die Rollbewegungen der Yacht. Irgendwann fällt auch der Blister ein. Barbados ist noch weit. Sollen wir den Motor anwerfen? Die Diskussion endet mit der strikten Weigerung des Skippers: „Wir segeln Regatta!“, sagt er, wischt sich den Schweiß von der Stirn und hantiert geschäftig mit seinem Sextanten herum. John liest. Knud sieht auf den Horizont.

Um 23.00 Uhr bergen wir den Blister. Er schlägt ohnehin nur noch am Mast hin und her. John bleibt als Wache in Cockpit.

„Da kommt ein rotes Licht auf uns zu“, höre ich seine Stimme rufen. Es ist 00.30 Uhr. Schlaftrunken bewegen wir uns alle an Deck. Tatsächlich: ein rotes Licht und wenige Meter links daneben ein weißes Licht. Wir schalten unsere Positionslampen ein und warten. Durch das Fernglas kann ich ein größeres Fahrzeug erahnen. Einzelheiten sind in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Als die „Wann-O-Zeven“ unter Positionslichtern und Decksbeleuchtung erstrahlt, verringert sich die Fahrt der beiden Lichter.

Michael geht unter Deck und ruft den Unbekannten über UKW-Kanal 16 an. Keine Antwort. Ganz langsam umkreisen uns die Lichter. Ich versuche eine Verständigung mit dem Handfunkgerät. Die Lichter kommen näher. Warum fährt der ein rotes Licht an Steuerbord? Mein Herz schlägt laut. Ich habe Angst. Sind das Piraten? Militär? Was wollen die? Michael stürzt an den Kartentisch und setzt mit zitternden Fingern unsere Position ab. Er hat also auch Angst „Wir sind 300 Meilen von der afrikanischen Küste entfernt“, ruft er hoch. Das kann kein Fischer sein. So weit fahren die Afrikaner nicht mit ihren Schiffen auf den Atlantik.“

Das rote und das weiße Licht nähern sich. „Scheiße“, sagt John plötzlich, „hier kann uns keiner helfen.“ Seine Stimme bebt. Auch er denkt an Piraten. Knud hat plötzlich den Halogenscheinwerfer in der Hand. Das Schiff mit den beiden Lichtern ist jedoch noch nicht nah genug, um es anstrahlen und erkennen zu können. Was sollen wir tun?

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„Wir hauen ab“, sagt Michael. Als der Motor rund läuft, löschen wir die Lampen und schlagen einen Haken nach Backbord. Die Lichter folgen. „Die haben Radar“, sagt Knud. Wir steuern in die entgegengesetzte Richtung. Der Fremde folgt.

Noch einmal versuche ich, Funkkontakt auf Kanal 16 aufzunehmen. Erfolglos. Wir machen wieder das Licht an und laufen langsam weiter. Auch der unheimliche Verfolger reduziert die Geschwindigkeit. Nach einer langen halben Stunde leuchtet drüben ein Halogenscheinwerfer auf. Eine Brücke und ein Mast mit Antennen sind jetzt zu erkennen.

Knud leuchtet unser Schiff ab. „Er bleibt zurück“, schreit John und drückt den Motorhebel auf „volle Kraft“. Wir sehen uns an, atmen sichtbar auf. Was war das nur? Die beiden Lichter verfolgen uns noch bis zum Morgengrauen. Der Abstand wird allerdings immer größer. Als die Sonne aufgeht, ist niemand mehr zu sehen.

Tagelang ist die unheimliche Begegnung das Gesprächsthema an Bord. Wir werden wohl nie. erfahren, was das alles zu bedeuten hatte. Am Mittag des sechsten Tages ziehen schwarze Wolken auf. Der Spinnaker wird geborgen. Und dann ist er plötzlich da, der Wind. Zunächst noch 3, jetzt sind es 8 Beaufort. Die Bianca legt sich weit nach Lee über. Wir müssen reffen. Im Starkwind und dem einsetzenden peitschenden Regen ist es ein hartes Stück Arbeit. Zehn Minuten dauert es, bis das dritte Reff eingebunden ist. Immer wieder reißt der Wind uns das Segelaus den Händen. Der Wind steht genau gegen die große Dünung. Sie wird höher. Eine zweite Welle baut sich auf. Viel grünes Wasser kommt an Deck.

So schnell, wie der Wind kam, ist er nach anderthalb Stunden total eingeschlafen. Die Wellen bleiben aber. Wir setzen die große Genua und reffen aus. Das Schiff macht jedoch kaum Fahrt. Dafür schlagen die Seen auf uns ein. Abwechselnd tauchen Backbord- und Steuerbord-Fußreling ins Wasser.

Jeder von uns klammert sich irgendwo fest. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Aber nach zwei Stunden ist der Wind wieder da. Mit der größeren Bootsgeschwindigkeit werden die Bewegungen erträglicher. Wir laufen bei halbem Wind acht bis neun Knoten. Aber die See von achtern sorgt für eine Berg- und Talfahrt.

Knud geht es nicht gut. Er hat morgen Geburtstag, aber er macht ein sorgenvolles Gesicht und legt sich schon um 17.00 Uhr in die Koje. John hat das vierte Buch seit Las Palmas durchgelesen. Ich habe bis 24.00 Uhr Wache. Eigentlich sollte mich Knud ablösen. Wir lassen ihn schlafen. Die Nacht ohne Wache ist unser Geburtstagsgeschenk.

Meine Wache dauert deshalb zwei Stunden länger. Die Zeit will nicht vergehen. Als mich John um 02.00 Uhr ablöst, bin ich nur noch kaputt und müde. Ich kann nicht einmal eine „Gute Wache“ wünschen. Ist das der ruhige Passat, von dem ich so viel gelesen habe?

Heute ist der 7. Dezember. Der Himmel ist den ganzen Tag bedeckt. Haushohe Wellen mit brechenden Kämmen lassen unsere immerhin 10,70 Meter lange Yacht winzig erscheinen. Die Bianca rutscht mit bis zu zwölf Knoten die Berge hinunter. Unter Deck herrscht ein furchtbarer Lärm. Es knallt und rumpelt. Man kann sich nur schwer auf den Beinen halten. An Schlaf ist nicht zu denken. Auch wenn man sich noch so gut zwischen Polstern und Segeln einkeilt, ist man spätestens in einer Stunde wieder wach.

Der total übermüdete Michael meint: „Das kann nur noch besser werden“ Der Anfang dazu soll ein kräftiges Frühstück sein. Die Bewegungen des Schiffes sind jedoch so heftig, dass wir den Petroleumkocher nicht anzünden können. Der Spiritus zum Vorheizen fließt auch beim dritten Versuch brennend aus dem Ofen und kleckert feurig auf den Fußboden. Als plötzlich bei einer heftigen Bewegung brennender Spiritus auf Michaels nacktes Bein spritzt, geben wir es auf. Es gibt Müsli.

„Ein Schiff!“ John hat ein Segel gesehen. Tatsächlich erkennen wir voraus ein weißes Stück Tuch. „So gut, wie wir gelaufen sind“, meint er, „muss das ein großer Kahn sein. Die Kleinen haben wir mit Sicherheit weit hinter uns gelassen.“

Aber dann müssen wir erkennen, dass es sich um eine 30-Fuß-Yacht aus Frankreich handelt. Sie wartet mit backstehender Fock. „Hello, do you have cigarettes?“ fragen die Franzosen über UKW. Haben wir leider nicht. „Na, dann werden wir wohl Nichtraucher“, sagt die Stimme resignierend. Weiter hören wir, dass die Crew drei Tage vor uns von den Kanarischen Inseln gestartet ist. Man will nach Martinique. Nein - vom „Race“ hatten sie nichts gehört und auch keine anderen Schiffe gesehen.Sollten wir so weit vorn liegen?

Aus dem Logbuch: 12.00 Uhr; Etmal 158 Meilen; Barometer 1022; Kurs 244 Grad; Temperatur 24 Grad, zwei Pottwale an Steuerbord; wilde Rollerei.

Der Passat präsentiert sich von einer untypischen Seite. Seine Richtung stimmt, aber er ist von starken Böen und Regenschauern durchsetzt. Wir kommen allerdings gut vorwärts. Unser Etmal: 184 Meilen. Grund genug, eine Flasche Wein aus der Backskiste zu holen. Aber er schmeckt mir nicht. Auch die anderen nippen lustlos an ihren Gläsern.

John liest das sechste Buch. Punkt 18.00 Uhr hat der große Souverän an Bord, der neue Wachplan, der mit 'Tesaband über der Navigationsecke angepinnt ist, das Sagen. Es ist zur Gewohnheit geworden, dass ich jedem einen Zettel in die Hand drücke, auf dem Wachzeiten, Ablösung und Bereitschaftszeit notiert sind. Jeder hat nachts sechs Stunden Zeit, sich auszuruhen.

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13 Tage sind wir jetzt unterwegs. Knud braucht ein Beruhigungsmittel. Er kann nicht mehr schlafen, weil die Schiffsbewegungen zu heftig und unregelmäßig sind. Wir haben ausgerechnet, dass die Bianca in den vergangenen zwei Tagen im Schnitt ständig zwei Knoten schneller als ihre Rumpfgeschwindigkeit lief. Dem Schiff macht es offensichtlich nichts aus. Aber für uns als Fahrtensegler-Crew ist es eine Tortur.

Noch nie vorher in meinem Leben habe ich so hohe Wellen gesehen wie heute. Mit gerefftem Groß und ausgebaumter kleiner Genua rauschen wir zuweilen minutenlang auf den Wellenbergen talwärts. Die Windselbststeueranlage ist dabei überfordert. Wir müssen fast ständig mit der Hand steuern.

Wieder sind zwei Tage vergangen, an denen es nicht möglich war, den Kocher anzuzünden. Wir essen Müsli, Schwarzbrot aus der Dose und säbeln uns Stücke vom Trockenschinken ab. Mir schmeckt er nicht mehr. Als völlig ungenießbar erweist sich eine Dose Leberknödelsuppe, die wir öffnen und ungewärmt probieren. Sie fliegt über Bord.

John stellt eine Hochrechnung an: ‚Wenn der Wind so bleibt“, meint er, „sind wir in sechs Tagen am Ziel“ Michael will erst in drei Tagen eine Prognose abgeben. Knud geht es schlecht. Er muss etwas Warmes essen. Immer hat er noch - als einziger – das Pflaster gegen Seekrankheit hinterm Ohr.Wenn er keine Wache hat, liegt er meist in der Koje. Ich glaube, er nimmt jetzt täglich Beruhigungstabletten. John liest — wie immer.

Wir haben ein Etmal von 176 Meilen geschafft. Diesmal feiern wir es mit einer Dose Bier. Seit Tagen ist es die vierte. Als wir den ersten Schluck nehmen, schlägt eine große Welle eine der beiden Feststoffwesten aus dem Haltegestell am Heckkorb. Die Sicherheitsleine muss durchgescheuert sein. Ich sehe auf die Uhr. Es dauert nur 30 Sekunden, dann ist die knallrote Weste nicht mehr zu sehen. Schlimme Aussichten für den Fall, dass jemand über Bord geht...

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Schon über eine Woche haben wir tagsüber Windstärke 5 bis 6. Nachts weht es meist bis 8 Beaufort. Man gewöhnt sich auch daran. Zu zweit machen wir einmal wieder den Versuch, den Kocher anzuzünden. Brennender Spiritus läuft auf den Fußboden. Mit einem nassen Handtuch spiele ich Feuerwehr. Als er endlich vorgeheizt ist und brennt, macht sich bei der Crew zum ersten Mal Unmut breit. Auf den Petroleumherd hatte Michael bestanden. Wir anderen wollten einen modernen Gasherd. Mit dem hätte es solche Schwierigkeiten nicht gegeben. Das ist unsere Meinung. Der Skipper schweigt.

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John fragt, ob ich ihm ein Buch leihen kann.

Mit zehn Knoten zieht die Bianca ihre Bahn. Obwohl die Wellen weiße Spitzen haben, kommt selten Spritzwasser an Bord. Während meiner Mitternachtswache nähert sich von achtern eine besonders dunkle Wolke, Wie immer bedeutet sie mehr Wind, obwohl der Luftdruck konstant bleibt. Das Barometer steht Tag und Nacht fast immer auf 1022 Hektopascal. Dann fängt es plötzlich an zu regnen. Diesmal sind die Tropfen jedoch größer, und dann geht es los. Eben wehte es noch mit 5 Beaufort, schon 30 Sekunden später sind es 7, dann 8.

Der Windmesser klettert weiter auf 9, dann sogar auf 10 Beaufort. Es heult im Rigg. Auf der nächsten Welle beschleunigt das Schiff von acht auf 15 Knoten - sagt das Log. Es ist zu spät, die kleine ausgestellte Genua zu bergen. Auch bleibt keine Zeit, das zweifach gereffte Groß einzupacken. Michael und John brüllen aus dem Niedergang gegen den Wind: „Kurs halten, Kurs halten!“

Was bleibt mir auch anderes übrig. Die rasende Fahrt will kein Ende nehmen. Ich starre auf die Windlupe. Der Wind muss immer von achtern kommen. Immer so steuern, dass der kleine Strich der Windlupe auf Steuerkurs bleibt. Die Konzentration auf den kleinen Strich ist anstrengend. Surfen wir jetzt schon eine Stunde oder erst zehn Minuten? Ich weiß es nicht. Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.

Unvermittelt verstummt das Heulen im Rigg. Die Welle läuft unter uns durch, und die „Wann-O-Zeven“ segelt nur noch neun Knoten. Ich sehe auf die Uhr. Die wahnsinnige Gleitfahrt dauerte fast eine halbe Stunde. Meine Glieder sind bleischwer. Wortlos übergebe ich die Pinne an Michael. Als ich in der Koje liege, frage ich mich zum ersten Mal nach dem Sinn des Unternehmens.

Aus dem Logbuch: 12.00 Uhr; Etmal 188 Meilen; Barometer 1021; Kurs 270 Grad; hohe, steile Seen, Schauer; Temperatur 25 Grad. Noch 720 Meilen bis Barbados.

Die Stimmung an Bord ist auf dem Tiefpunkt. Der ständig starke Wind geht uns auf die Nerven. Auch für Michael, der diesen Törn schon zweimal gemacht hat, ist das eine neue Erfahrung. Wo bleibt nur das gemütliche Passatsegeln? Selbst beim Frühstück muss jetzt jemand ans Ruder. Die Windsteueranlage hat endgültig ihren Geist aufgegeben. Das Pendelruder ist glatt abgebrochen. Die Kräfte, die bei den rasenden Talfahrten entstehen, waren offensichtlich zu stark. Ohne Automatik kommen wir aber auch schneller unserem Ziel näher.

Knud fühlt sich zum ersten Mal seit Tagen wieder besser. Vermutlich, weil sich die Tage auf See schon an einer Hand abzählen lassen. Irgendwie haben wir uns auch an den starken Wind, an die riesigen Wellen und die nächtlichen „Instrumentenflüge“ gewöhnt. Allerdings haben die Anstrengungen sichtliche Spuren hinterlassen. Mir schlackert die Hose am Leib. Ich habe mindestens zwei bis drei Kilogramm abgenommen.

Aus dem Logbuch: Etmal 175 Meilen; Kurs 260 Grad; Wind 5 bis 6 böig; Temperatur 26 Grad.

In der vorletzten Nacht sorgen die schwarzen Wolken für eine neue Variante. Der Wind frischt nicht nur auf 8 Beaufort auf, sondern dreht dabei auch über 30 Grad. Bisher waren nie mehr als zehn Grad Winddrehungen auszusteuern. Als ich das Ruder von John übernehme, hat er gerade eine Böenwalze abgewettert. Ich habe es nicht gemerkt. Unter Deck hört man schon lange nicht mehr hin, wenn der Mast zittert und Böen durch das Rigg heulen. Jetzt blasen 9 Beaufort, und der Wind kommt aus einer ganz anderen Richtung als die Wellen.

Ich reiße am Ruder, um den Kurs zu halten. Die Bianca läuft schräg zur Welle. Immer wieder taucht der Großbaum ins Wasser. Kreuzseen haben sich gebildet. Gischt spritzt von allen Seiten ins Cockpit. Ich starre auf die Windlupe. Es ist wie ein Geschicklichkeitsspiel. Doch hier ist das Spiel ernst. Wenn der Strich der Windlupe auswandert, schlägt das Großsegel back. Einige Male ist es schon an den Vortagen geschehen. Der Bullenstander wurde aus der selbstholenden Winsch gerissen, es knallte furchtbar, aber es blieb glücklicherweise alles heil.

Was geschieht, wenn der Baum bei diesen 9 Beaufort herumknallt? Er darf es nicht: Ich muss mich vollkommen auf den kleinen Strich konzentrieren. Wieder taucht der Großbaum tief ein. Eine Welle schwappt ins Cockpit. Das Wasser läuft mir in den Kragen. Wieder dreht der Wind. Ich fluche, schreie.

Aus dem Logbuch: 12.00 Uhr; Etmal 167 Meilen; Kurs 240; Schauer mit harten Böen, Kreuzseen; Barometer 1021; noch 165 Meilen bis Barbados. Temperatur 28 Grad.

Der Atlantik will uns am letzten Tag versöhnen. Die Sonne scheint, der Wind weht mit 4 Beaufort. Endlich können wir wieder wie normale Menschen essen — jeder sogar vom eigenen Teller. Nach dem Frühstück soll der große Spinnaker gesetzt werden. Hinter uns zieht jedoch eine kleine dunkle Wolke auf. Wir sind atlantikgeschädigt. Wir starren gebannt auf die Wolke. Knud sagt, was wir alle denken: „Lasst uns noch ein bisschen warten mit dem Spi“

Erst als das Wölkchen abgezogen ist, steigt das Vormwindsegel. Da auch nachts keine Wolke zu sehen ist, bleibt der Spinnaker zum ersten Mal 24 Stunden oben. Es wird eine gemütliche Nachtwache. In Anbetracht des nahen Ziels gönnen wir uns sogar eine Flasche Wein. Diesmal schmeckt er.

So wie diesen Tag. hatte ich mir eigentlich die Atlantik-Überquerung im Passat vorgestellt. Am nächsten Morgen klingt auf der Ultrakurzwelle eine fetzige Samba über das Schiff. Barbados grüßt. Dort ist es 08.00 Uhr und laut Radio schon 28 Grad warm. Wir kühlen eine Flasche Champagner mit einem nassen Handtuch. Knud setzt sich vor den Mast und hält nur noch Ausschau. Wo bleibt das Land?

Navigator Michael kommt ins Cockpit und verkündet: „Noch 20 Meilen.“ Es werden 40 Meilen. Aber dann sehen wir die Insel. Knud singt, John lacht, Michael will bei der Ankunft gleich drei Steaks essen und zwei Flaschen Rotwein trinken. Die Champagnerflasche kreist. Die schweren Nächte auf See sind schon fast vergessen.

Aus dem Logbuch: Mittwoch, 17. Dezember; Wind 3 bis 4 Beaufort, sonnig; Barometer 1022, Zieldurchgang 18.05 Uhr. Auf See 18 Tage, neun Stunden, acht Minuten. Distanz 2740 Meilen.

Wir laufen als 39. von 205 gestarteten Schiffen bei Dunkelheit ein. Mehr als 100 Yachten hatten eine längere Wasserlinie als unsere „Wann-O-Zeven“ Sie hätten bei diesen starken Winden eigentlich vor uns da sein müssen.


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