Die Crew vom Gastlieger am Nachbarsteg kann sich kaum einkriegen: „Ist das schön hier!“, entfährt es ihr. „Jo, kann man wohl sagen“, antwortet ein einheimischer Segler fast schon ausschweifend für die Gegend. So bestimmen bald andere Töne den ersten Eindruck dieses Kleinods zwischen Land und Meer: Unermüdlich ruft der Kuckuck, Singvögel zwitschern um die Wette. In den hohen Weiden und Pappeln rauscht der Wind. Leise tuckern ein paar Boote vorbei, dazwischen flitzen Kinder in ihren Optis übers Wasser und ziehen SUP-Paddler ihre Bahnen.
Nur drei Stunden zuvor wehte uns eine steife, salzige Nordseebrise vor der Jade-Mündung um die Nase, wurden wir von langen Wellen gehoben und vom Gezeitenstrom in die Meeresbucht westlich der Unterweser geschoben. An deren Rand liegen Wangerooge und das Minsener Oog, das Watt und die langen Strände von Schillig und Hooksiel. Wahrer, echter Norden.
Bei der Ansteuerung konnten wir uns an den Kränen des Jade-Weser-Ports, hohen Schornsteinen und dem LNG-Terminal am Kopf einer langen Seebrücke orientieren, einer krass andersartigen, industriellen Kulisse. Aber dann biegen wir nach Steuerbord ab, in den Vorhafen von Hooksiel. Und an dessen Ende öffnet eine Schleuse das Tor zum Binnen-Idyll.
Drüben Salzluft, Wind, Welle und Weite, hüben Ruhe, Wald und Deich. Schon in der Schleuse landet das Ölzeug auf der Salonbank. Denn hier herrscht Behaglichkeit und gefühlt zehn Grad mehr Wärme als an der deutschen Nordseeküste üblich.
Eine gute halbe Stunde tuckern wir durch das Binnentief, das hier alle kurz Hooksmeer nennen, zum Alten Hafen im kleinen Örtchen Hooksiel. Wir passieren an Steuerbord eine Werft, eine Wasserski-Anlage, eine Surfschule und drei Sportboothäfen. An Backbord nichts als Wald, Schilf und im enger werdenden Fahrwasser, fast zum Greifen nahe, Schafe auf den Deichen.
Nur wenige Gastsegler verirren sich hierher, scheint doch das Segeln auf der Nordsee vielen weniger kommod und frei als auf Ostsee oder Mittelmeer. Mit unbeständigem Wetter und oft einer Schippe mehr Wind als gewünscht, mit Gezeiten, welche die Törnplanung diktieren. Doch bedeutet die Wechselhaftigkeit in der Atmosphäre eben auch, dass es selten dauerhaft schlecht bleibt. So haben die Nordsee an sich wie die Jade im Besonderen viele Gesichter.
Ruppig können sie werden, wenn 6 Beaufort oder mehr gegen Strom stehen. Kurze, steile Wellen erzeugt dieser Kampf der Elemente. Spielen Wind und See hingegen zusammen, gleitet man geschwind auf glattem Wasser dahin.
Schweinswale haben hier ihr Zuhause und umspielen gelegentlich das Boot. Auf den Sandbänken liegen bei Ebbe Robben träge in der Sonne. Wattwanderer scheinen bisweilen so nah, dass der Blick besorgt aufs Echolot fällt. Dicht an der Wattkante kann das Spiel mit dem Gezeitenstrom zum Vergnügen werden, wenn das Boot Zonen mit weniger bewegtem Wasser oder gar Neerströmen erwischt. Die Spielräume sind weit größer, als die Tidenkurven vermuten lassen.
Auch visuell bietet die Gegend mehr als klischeehaftes Nordseegrau. Mal blitzt die Sonne vom blauen Himmel, dann türmen sich dunkle Wolkenmassen und verdüstern die sedimentgetrübte Jade – bis Lichtstrahlen sie grau, grün und blau leuchten lassen. Das auflaufende Wasser trägt schaumige Ränder vom Wattboden mit sich, die ein Flach vermuten lassen, wo keines ist.
„Ich segle hier seit Jahrzehnten, und mir ist noch nie langweilig geworden“, erzählt Heinz Martin, Vorsitzender des Wassersportvereins Hooksiel. Die Jade empfindet er als faszinierend vielfältig: „Wir sind so schnell auf den Ostfriesischen Inseln oder auf Helgoland. Bei schlechterem Wetter können wir nach Wilhelmshaven, Dangast oder Varel segeln.“ Wie viele der hiesigen Segler verbringt auch er gern seine Urlaube auf der Ostsee, den Nordfriesischen Inseln oder in Holland – bei passenden Bedingungen alle in nur zwei Tagen erreichbar.
Es wird wohl diese Reisefreude der Dauerlieger sein, die den Gästen trotz langer Wartelisten bei den Clubs das Leben leicht macht. Dichtes Gedränge im Päckchen tut nicht not, nicht einmal lange Irrfahrten durch enge Boxengassen. Von den etwa 700 Liegeplätzen bleiben sommers Dutzende frei. Die Auswahl fiele schwer, würde nicht fast immer jemand am Steg freundlich winken, die Leinen entgegennehmen und mit einer Menge guter Tipps für das Revier schon mal die erwartbaren Fragen der Gäste beantworten.
So speziell die Gezeiten-Segelei draußen vor der Schleuse auch wirken mag: Hier sind keinesfalls nur norddeutsche Salzbuckel mit Plattboden-Schiffen beheimatet, das zeigt ein Blick über den Steg. Neben stäbigen Kimm- oder Schwertkielern liegen Hallberg-Rassys, X‑Yachten und Bavarias. Es bedarf offensichtlich keines flachgehenden Bootes, um das Revier am Rande der Nordsee ausgiebig zu erkunden. So können Yachten mit bis zu zwei Metern Tiefgang und 15 Metern Länge in der Marina festmachen. Deren Eigner müssen dann nur ein wenig spitzer rechnen und der Tide wegen vielleicht mal früher aufstehen.
Die Jade selbst ist als Tiefwasserweg jederzeit befahrbar und bietet reichlich freien Seeraum. Diese Freiheit genießen die hiesigen Crews. „Wir segeln gern auf die Ost- und Nordfriesischen Inseln oder nach Helgoland“, erzählen Gabi und Christian Antons auf ihrer Winner 9.50, „aber wir fahren auch einfach mal nur für einen Tag raus: mit sehr langen Kreuzschlägen über die breite und an den Rändern flach auslaufende Jade, je nach Tide Richtung offener See oder Wilhelmshaven. Abends geht’s zurück an unseren Liegeplatz, zum Ankern im Hooksmeer, oder wir laufen zum Essen in den Alten Hafen.“
Auch eine Werft vor Ort zu haben schätzen sie. Denn was Ostseeseglern keine Erwähnung wert wäre, ist an der deutschen Nordseeküste ein seltenes Plus. Selbst wenn es draußen auf See kachelt, wird einem nicht langweilig. Wander- und Fahrradwege am Ufer des Hooksmeers, an den Deichen und zwischen grünen Wiesen im flachen Binnenland laden zum Entdecken ein. Stand-up-Paddling, Kite- und Windsurfen bietet die Surfschule, an der Wasserski-Anlage lassen sich Runden drehen und Sprünge üben, oder man sieht einfach bei Kaffee und Kuchen denen zu, die’s können. Der lange Sandstrand, ein Schwimmbad, Ponyreiten oder Keschern und Baden im Binnentief machen den Aufenthalt für Familiencrews attraktiv.
Die Dauerlieger kommen nicht nur aus der Region, sondern teils von weit her. Irmgard und Viktor Moser wären schneller in Genua als in Hooksiel, aber sie nehmen regelmäßig die weite Fahrt von ihrem Wohnort nahe Ulm auf sich. „Wir haben unser Boot hier gekauft und nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, es in einen anderen Hafen zu verholen. Uns gefällt das Revier und vor allem der ruhige, geschützte Liegeplatz, der es uns sogar ermöglicht, den Winter über im Wasser zu bleiben und ein paar Tage an Bord zu verbringen.“
Diesen Vorteil nutzen etliche Segler: Zu Saisonende reiht sich deren Flotte an zwei, drei Stegen aneinander, die Buge gen Westen, um den Stürmen zu trotzen. Für eine Handvoll Hartgesottener war es lange Jahre Tradition, Silvester von hier aus nach Helgoland zu segeln. Seit sich an der Schleuse allerdings ein massiver Sanierungsbedarf offenbarte, ist damit Schluss: Von November bis Ostern bleibt die Kammer wegen Bauarbeiten nun leider bis auf Weiteres geschlossen.
Im Alten Hafen am Ende des Hooksmeers liegen Sportboote und ein Plattbodenschiff am Steg unterhalb historischer Packhäuser aus dem frühen 19. Jahrhundert. Diese zeugen von einstigem Wohlstand durch Seehandel, Krabben- und Fischfang, an ihren Mauern Markierungen historischer Hochwasserstände.
Wir sind in Friesland, und nicht allein der Name der Region erinnert an die niederländischen Nachbarn im Westen. Wie es gelingen kann, dem Meer durch Deiche und Polder Land und Binnengewässer abzuringen, haben sie im großen Stil vorgemacht. In Hooksiel und Umgebung tat man es ihnen in den siebziger Jahren nach. Zuvor führte ein Priel zu dem alten, einst für den Handel und die Fischerei bedeutsamen Hafen, in dem 1967 die Segelei in einem Schlickloch begann.
Früher bestimmten noch die Gezeiten über Ruhe und Geschäftigkeit. Heute geben im Großen die Jahreszeiten, im Kleinen das Wetter den Takt vor. An einem sonnigen Samstag im Mai sitzen vor dem Packhaus Gäste des gleichnamigen Gastronomiebetriebs mit einem Drink unter Sonnenschirmen, andere flanieren. Sie alle blicken auf das Geschehen auf den Booten hinab: Bordleben auf einem hübsch umrahmten Präsentierteller. Der Liegeplatz ist für eine Nacht gratis; man bezahlt mit weitestgehendem Verzicht auf ein Privatleben an Deck. Ein Einhandsegler macht daraus eine Tugend und beschallt, mit einem Bier im Cockpit sitzend, das Hafenbecken mit lauten Shantys vom Band.
Ein Bummel durch den kleinen Ort erscheint da die bessere Option: Fischrestaurants wechseln sich mit Eisdielen, Cafés, typischen Souvenirläden und Shops mit maritimer Kleidung ab, gelber Friesennerz inklusive. Die Betriebe stecken in kleinen, alten und liebevoll restaurierten Häusern, die einst Fischer, Kapitäne oder Handwerker beherbergten.
Deren auffälligstes ist wohl das reich verzierte ehemalige Rathaus, auf dessen Dach ein Zwiebelturm mit einer goldglänzenden Windfahne prangt – das Geschenk eines britischen Kapitäns von 1760 als Dank für die Reparatur seines Schiffes in der Hooksieler Werft. Unter dem gekrönten Dach drückt heute ein kleiner Junge seine Nase an das Fenster des Muschelmuseums und bestaunt die Exponate aus aller Welt. Im Künstlerhaus nebenan zeigen Maler aus der Region ihre Kunst. Vor den Häusern erzählen Hinweistafeln die Geschichte des Ortes.
Übersichtlich ist der alte Ortskern. Mit jedem Schritt hinaus wird die Umgebung ein wenig zweckmäßiger und rustikaler: norddeutsche Handfestigkeit anstelle des mondänen Schicks eines Seebads, wie wir es von der Ostsee oder mancher Nordseeinsel kennen. Am Ortsrand entsteht in der Spezialbootsbau-Werkstatt von Wolfram Heibeck alles, was Yachten schneller macht. Der Meister und sein selbst gebauter Open 40 „Black Maggy“ sind vielen von den großen Ostsee-Wettfahrten ein Begriff.
„Ich segle leidenschaftlich gern dort“, schwärmt der Bootsbaumeister. „Keine Gezeiten, losfahren, wann man möchte, und an jeder Ecke ein Hafen – das ist sehr entspannt. Aber die Jade wie auch die Nordsee sind ausgezeichnete Nachbarreviere mit viel freiem Seeraum.“ Gerade kommt „Wolle“, wie ihn Freunde nennen, von einem Einhand-Tagestraining: einmal Helgoland und zurück, morgens um acht durch die Schleuse, abends vor sechs wieder im Hooksmeer. Gezeiten und Strömungen werden so zur Routine. Zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein lernt man kaum irgendwo besser.
Das, so Heibeck, komme ihm auch immer wieder beim Silverrudder zugute, das an einigen Stellen mit für die Ostsee beachtlichen Strömungen aufwartet. „Ich sehe es auf dem Plotter, spüre aber inzwischen auch intuitiv, wo ich auf dem Strom mitfahren kann – das kann ein entscheidender Vorteil sein.“ Das bestätigt auch die Architektin und engagierte Regattaseglerin Marlene Brudek, deren First 27 am Steg des SLRV liegt. Erst 2017 begann die frühere Windsurferin mit dem Segeln, schon kurz darauf meldete sie zu Klassenregatten, Vegvisir Race oder Silverrudder, bei denen sie mit ihrer „Heartbeat“ als eine von sehr wenigen Frauen regelmäßig vertreten ist.
„Vor dem ersten Mal musste ich Einhand-Nachtfahrten üben. Also bin ich abends durch die Schleuse und die ganze Nacht die Jade rauf und runter gesegelt. Hier ist ja nichts los, so konnte ich mich ganz auf das Boot und das Handling konzentrieren“, sagt sie. Viele aus dem Revier segeln wie Marlene und Wolle aktiv: bei Mittwochsregatten, der Horumregatta, bei Nordseewoche, Rund Skagen oder beim Rolex Fastnet Race.
Christian Herzog, Hafenmeister des WSV Hooksiel, beschreibt die Segelgemeinde treffend so: „Ich liege an meinem Steg zwischen Wolfram mit seiner „Black Maggy“ und Hendrik Busemann, der mehrfach Deutscher Meister im Seesegeln war. Da lerne ich eine Menge. Aber niemand hier geht mit seinen Erfolgen hausieren, man erfährt eher zufällig davon.“
Diese kleine Welt der großen Vielfalt muss man auf sich wirken, sich gedanklich setzen lassen. Wo ginge das besser als an einem ruhigen Ankerplatz? Bei der Einfahrt in das Binnentief haben wir eine kleine Insel passiert, dahinter einige Boote vor Anker beobachtet, deren Crews in der Sonne dösten oder badeten: eine schöne Option auch für eine ruhige Nacht unter Sternen.
Danach kann es weitergehen, vielleicht durch das Watt nach Wangerooge, auch so einem besonderen Ort. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die grüne Tonne H3 vor der Hafeneinfahrt wird südlich passiert. Landseitig markieren zwei Baken (Stundenglas) die Ideallinie in den Hafen. Auf Querstrom achten: Zwar hat die Zufahrt eine Solltiefe von 1,60 Meter bei Niedrigwasser, zu beiden Seiten liegen aber Watt- rücken. Rund um das LNG-Terminal an der Seebrücke befindet sich ein Sperrgebiet, das unbedingt zu beachten ist.
Geschleust wird von Ostern bis Ende Oktober. In der Hauptsaison an den Wochenenden stündlich von 8 bis 12 und 14 bis 20 Uhr, an Wochentagen fünfmal zwischen 8 und 19 Uhr, bei Hochbetrieb auch mehrmals nacheinander. Gastlieger zahlen die Gebühr oben im Turm beim Schleusenwärter, der gegen Pfand auch Schlüssel für die Marina ausgibt.
Wer als Gast ins Hooksmeer fährt, kommt immer irgendwo unter: in der von der Wangerland-Touristik betriebenen Marina oder bei einem der Vereine – auch für mehrere Wochen oder Monate. Die Liegeplätze an der Werft direkt hinter der Schleuse sind jedoch Kunden vorbehalten. Hier die Weblinks der Betreiber der Sportboothäfen:
In der Marina Hooksiel stehen eine Dehler 35 und 38 bereit, die von Sascha Mende betrieben und betreut werden, der die Crews täglich in Bezug auf Wetter und Watt berät (yachtcharter-hooksiel.de). Kojencharter und Segelausbildungen auf See bietet etwa die Nautikschule Nordsee. Binnen unterrichten die Nordsee-Segelschule sowie die Vereine auf Optis, Jollen und Motorbooten. Mehrrumpf-Fans können auf dem Hochseekat „Gerda Martha“ Kojen chartern oder Manövertrainings fahren.