Jan Jepsen
· 25.02.2024
Über die Brücke, dann gleich links. Da liegt – vis-à-vis von Stralsund – der Ort Altefähr auf Rügen. Und in Altefähr liegt eine neue Hanse 348. Die wartet auf uns und ihren Einsatz auf dem Greifswalder Bodden. Das Motto dieses Törns: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah ist. Doch wie gut das Nahe aus norddeutscher Sicht wirklich ist, gilt es zu erkunden. Ganz spontan, weil die Saison noch nicht vorbei ist und das Wetter ein paar spätsommerliche Tage verspricht. Bloß mit mehr Wind, wie es scheint.
Die Wetter-App zeigt schreiend pinkfarbene Felder für Mitte nächster Woche. Der Herbst lässt grüßen. Über den Bildschirm des Handys jagen die kleinen Pfeile regelrecht. Und was man so hört und liest, kann der Greifswalder Bodden dann ganz schön holperig werden. Sprich, sehr kurze, sehr steile Welle und davon ziemlich viele, quasi im Sekundentakt.
Knut, der Chef von Sail & Surf Rügen, der das Boot zur Verfügung stellt, glaubt nicht, dass es so dicke kommt. „Schaut mal bei den Dänen.“ Er habe gute Erfahrung mit deren amtlichem Wetterbericht gemacht (fcoo.dk), wie wir im Rahmen einer angenehm unbürokratischen Bootseinweisung erfahren. Schnell noch ein paar Reviertipps in die Karte gezeichnet und ab dafür. Segel setzen und ein wenig vor der Silhouette Stralsunds auf und ab kreuzen. Bis sich die Ziegelgrabenbrücke um 17.20 Uhr öffnet und die Fahrt gen Osten in den Strelasund freigibt.
Samstagnachmittag wollen nicht viele Boote in diese Richtung. Die meisten Schiffe sind bei südöstlichen Winden auf Gegenkurs Richtung Hiddensee unterwegs. Aber das bisschen gegenankreuzen ist nicht weiter schlimm. Im Gegenteil, es macht dank Selbstwendefock sogar Spaß. Nur Mitsegler Simon fühlt sich etwas unterfordert, so beim Selbstwendesitzen. Alles, was er während der Manöver zu tun hat, ist, die Cockpitbank zu wechseln, um von der hohen Kante in Luv die Aussicht besser genießen zu können. Gleich hinter Stralsund fällt der Blick dann auf unverbaute, grüne Ufer, gesäumt von jeder Menge Schilf. Die Seglerseele seufzt ein erstes Mal und streckt sich.
Da die Tage bereits merklich kürzer und die Nebenfahrwasser nicht befeuert sind, biegen wir schon nach wenigen Meilen in die Gustower Wiek ein. Der Anker fällt in selten flaches Wasser. Kurz darauf lauschen wir dem Geschnatter der Wasservögel. Über uns ein rot-violetter Himmel.
Morgens dann Nebel. Kein Wunder Mitte September. Die Wiek zeigt sich wie durch einen Weichzeichner. Erst allmählich bricht sich die Sonne Bahn und schärft die Konturen. Gleichzeitig setzt Wind ein, der genutzt werden will.
Zurück auf dem Strelasund, segeln wir eine Wiek weiter nach Puddemin. Bei gewöhnungsbedürftigen geringen Wassertiefen, die man anderswo meiden würden. Umso wichtiger, dass wir uns brav an den Tonnenstrich halten. Keinesfalls sollte man sich von den zahlreichen Angelbooten am Schilfrand täuschen lassen. Fahrfehler werden hier selbst einer Yacht mit geringem Tiefgang nicht verziehen.
Vor dem kleinen Hafen in Puddemin zeigt das Echolot gerade noch 15 Zentimeter Wasser unterm Kiel. In Schleichfahrt tasten wir uns zu einer freien Box vor. Und das auch nur, weil ein ortskundiger Dehler-Eigner mit ähnlichem Tiefgang vorausfährt und uns ermuntert, zu folgen. „Was habt ihr, 1,55 Meter? Das passt schon!“, ruft er. Glücklicherweise behält er recht, wir gelangen unbeschadet an den Steg.
Kurz darauf machen wir in Puddemin fest. Schöner Ort, allerdings: Die Frühstücksbrötchen im Hafenrestaurant hätten wir am Abend vorbestellen müssen. Halb so wild, schauen wir uns eben an der Landschaft satt und essen Müsli. Der schöne Weg war das Ziel. Wäre es nicht so früh am Tag, könnte man sich auch beim Hafenmeister auf den drei Kinoklappsitzen niederlassen. Auf einem Schild steht : „Hafenkino“. Doch ob es hier wirklich viel zu sehen gibt? In der Nebensaison jedenfalls nicht mehr. Da dürfte es anderswo aufregender zugehen.
Später, auf dem Rückweg gen Strelasund, können wir die Fock ausrollen. Die bringt uns zuverlässig bis ins Hauptfahrwasser, wo wir dann auch das Groß setzen. Unser Ziel ist der Zicker See. Dazu müssen wir diagonal über den Greifswalder Bodden zur östlichsten Einbuchtung der Halbinsel Mönchgut. Und zwar einmal mehr gegen den Wind. Aber wie gesagt, das Kreuzen geht wie von selbst. Mit sieben Knoten am Wind nähern wir uns im Zickzack unserem Tagesziel.
Als wir ankommen, fällt mir ein, dass uns Vercharterer Knut den Ankerplatz im Zicker See bei südwestlichen Winden empfohlen hatte, nicht bei Nordost. Macht nichts. Nach einem kurzen, unruhigen Stopp weichen wir für die Nacht einfach ins unweit entfernte Seedorf aus. Das ist seit jeher so etwas wie das maritime Mekka im Greifswalder Bodden. Was Wunder. Der Ort liegt an einer schmalen, perfekt geschützten Zufahrt zum Neuensiener See. Das Wasser ist hier so ruhig wie auf einem Ententeich.
Am Forellensteg machen wir fest, der Hafenmeister heißt uns sichtlich gut gelaunt willkommen. Am nächsten Tag schnappen wir uns bei ihm Leihräder und fragen uns durch nach dem nächsten Bäcker. Wir landen schließlich in Sellin und probieren dort „Omas Grießkuchen“ mit Kirschen. Eine echte Entdeckung. Wie überhaupt der Ausflug per Rad.
Durch schöne Baumalleen und vorbei am auch für Segelboote zugänglichen Selliner See führt uns die Tour an die Ostseeseite Rügens. Die neue Sportbootmarina im Selliner See wirkt – zumindest jetzt im Herbst – ein wenig überdimensioniert. An all den Stegen haben gerade mal eine Yacht und ein Motorboot festgemacht. Im Sommer ist es hier wohl deutlich voller.
Zurück am Schiff, checken wir abermals das Wetter. Die Karte der App für den Greifswalder Bodden ist noch immer ganz schön pink. Für den nächsten Tag sind Böen bis 35 Knoten aus Südost angesagt. Plus Regen. Kurzerhand entscheiden wir, Zuflucht an der Küste zu suchen, und nehmen Kurs auf Wieck. Der Ort liegt am Fluss Ryck, über den man per Boot bis nach Greifswald gelangt.
Im alten Stadthafen von Wieck ließe es sich zwar auch gut abwettern. Doch wir gehen nur kurz längsseits, um auf die nächste Öffnung der historischen Klappbrücke zu warten, die hier den Ryck überspannt. Wenig später ist es so weit. Wir tuckern flussaufwärts und machen im Greifswalder Museumshafen an einem Traditionssegler fest. Ein Liegeplatz mit Aussicht, denn an Land steht einer der ältesten Bauten der Stadt: ein Backsteinturm aus dem Jahr 1270. Der diente einst als Gefängnis, dann als Pulverarsenal. Heute beherbergt er das Büro des Hafenmeisters. Wie praktisch.
Die Atmosphäre in Greifswald ist studentisch, also angenehm entspannt. Von der „Tribüne“ am Hafen blickt man – mit einem Sundowner in der Hand – auf den imposanten St.-Nikolai-Dom und die Marienkirche. Fußläufig liegt ein Restaurantschiff mit Regenbogenflagge und noch näher das obligate Fischbrötchenboot. Das fehlt in kaum einem größeren Hafen rund um den Greifswalder Bodden.
Am folgenden Tag lässt der Wind gegen Mittag etwas nach. Oder täuscht das, weil wir in Greifswald so geschützt liegen? Versuch macht schlau. Mit zweitem Reff im Groß, noch dazu raumschots, sollte das ein schneller, machbarer Ritt hinüber in den Zicker See werden. Auch wenn außer uns sonst niemand ausläuft. Lediglich ein paar Kitesurfer sind unterwegs. Und das ziemlich schnell. Ein sicheres Zeichen für Starkwind.
Je weiter wir Wieck und damit das Lee-Ufer hinter uns lassen, desto ruppiger wird das Terrain. Das Schiff vollführt Bewegungen, als würde man über Kopfsteinpflaster segeln. Spätestens jetzt wird klar, warum der Greifswalder Bodden bei entsprechenden Bedingungen weniger Jollenrevier als ein großräumiger Whirlpool ist. Immerhin zwölf Seemeilen misst er im Durchmesser.
Jede Menge kurze und steile Wellen, die uns, je näher wir Rügen kommen, Geschwindigkeiten im zweistelligen Knotenbereich bescheren. Aber jetzt bloß nicht zu lange auf die Logge gucken. Obacht ist geboten. Gerade bei den vorherrschenden Legerwall-Bedingungen. Man tut gut dran, sich frei zu halten von Groß- und Kleinstubber in Lee. Das sind großflächige Untiefen mitten im Greifswalder Bodden.
Als wir nach knapp zwei Stunden die Segel bergen, haben wir das Gefühl, einen Hochseeritt hinter uns zu haben. Der angepeilte Ankerplatz ist abermals zu unruhig. Diesmal passieren wir unter Motor den Zicker See und laufen den Hafen von Thiessow an. Bevor wir längsseits an die Pier gehen, kommen alle Fender raus, die vorhanden sind. Die doch recht hochbordige Hanse wird vom Wind ordentlich gegen die Hafenmauer gedrückt.
In Thiessow ist Touristenmarkt. In der Hochsaison drängeln sich hier bis zu 2.000 Leute, erzählt der Hafenmeister. Dann gibt es regelmäßig Stau und Parkplatznot. Nicht sein Problem. Er ärgert sich eher im Sommer über die Tageslieger, die hier festmachen, zum Baden an den Strand wandern und danach wieder ablegen. Crews, die später kommen und über Nacht bleiben wollen, hätten dann oft das Nach-sehen. Jetzt ist kein Strandwetter. Daher vertreiben wir uns die Zeit bei Kaffee und Kuchen vom Bodden-Imbiss mit Blick auf die Kitesurfer.
Tags darauf ist dann alles wieder so, wie es Seglerherzen höherschlagen lässt. Nur der Wasserstand im Bodden ist noch niedriger als sonst. Links und rechts der Fahrwassermarkierungen ist der Zicker See trockengefallen. Nur unter Vorsegel laufen wir aus, bis wir tieferes Wasser erreichen.
Wenig später rauscht das Schiff mit halbem Wind nach Lauterbach. Der Ort liegt an der Südostküste Rügens. Auf dem Weg dorthin geht es vorbei am größten Vogelhäuschen der Ostsee: der ehemaligen Entmagnetisierungsstation der NVA, knapp drei Kilometer östlich der Insel Vilm. Hier wurden früher die Eigenmagnetfelder von Militärschiffen der ehemaligen Volksmarine der DDR gemessen und anschließend durch am Grund liegende Gleichstrom-Kabelschleifen neutralisiert. Auf diese Weise sollten sie für Magnetminen unempfindlicher und für Torpedos mit Magnetzünder schwerer auffindbar werden. Nach dem Mauerfall hatte die Bundesmarine für die Station keine Verwendung. Investoren sprangen ab oder gaben auf. Heute gehört sie den Seevögeln – Hitchcock hätte seine helle Freude gehabt.
Die letzte Meile hinter Vilm müssen wir aufkreuzen und steuern den Stadthafen von Lauterbach an. Dessen Hafenbecken ist groß genug für einen Aufschießer, um in Ruhe die Segel zu bergen. Liegeplätze gibt es hier ebenfalls reichlich. Der Ort ist selbst in der Nebensaison noch sehr touristisch. Wir beschränken uns auf einen kurzen Bummel und ein unerlässliches Fischbrötchen. Lieber das schöne Wetter nutzen und zurück in den ruhigeren Strelasund. Ein Anliegerkurs. Mit letztem Licht und frischer Ortskenntnis schaffen wir es zum Ankerplatz bei Puddemin.
An die Wassertiefen von zwei Metern und weniger haben wir uns mittlerweile gewöhnt, diesen ein, zwei Handbreit unterm Kiel. Irgendwo auf einer Sandbank schnattern die Seevögel. Ansonsten herrscht Stille. Die Nacht ist sternenklar. Das Wasser buchstäblich spiegelglatt. Das Universum plötzlich überall. Über und unter uns. Vierdimensional. Der Rest ist Staunen und Schweigen. Und die Erkenntnis: Man kann auch in der Nähe ins sehr Ferne schweifen.
Der Strelasund ist ein Meeresarm der Ostsee, er trennt die Insel Rügen vom Festland. Im Osten geht er über in den Greifswalder Bodden, er grenzt an den Südosten Rügens, ans Festland und an den Westzipfel Usedoms. Im Norden wird die Küstenlinie des Boddens von Rügens Halbinseln Zudar, Struck und Mönchgut geprägt, die weit in das Gewässer hineinragen. Der Durchmesser des Boddens beläuft sich auf zwölf Seemeilen, die durchschnittliche Wassertiefe beträgt nur 5,60 Meter. Die Inseln im Bodden sind entweder gesperrt oder geschützt; sie dürfen nicht angelaufen werden. Wissenswertes über diese und weitere Schutzzonen im Revier liefert die kostenlose App „WWF Seekarte“.
Aufgrund der kurzen Distanzen zwischen den zahlreichen Ankerplätzen, Anlegern und Häfen sind Sund und Bodden auch für Segelanfänger geeignet. Abgesehen von den flachen Uferzonen, in denen zudem vermehrt Reusen stehen, kann man unbeschwert lossegeln; die Fahrwasser sind gut betonnt und ausreichend breit. Im Bodden muss man insbesondere auf die beiden Flachs Großstubber und Kleinstubber achten. Bei anhaltendem Starkwind schwankt zudem der Wasserstand: Bei südlichen und westlichen Winden sinkt er im Bodden um bis zu einen Meter.
Und: Wegen der geringen Wassertiefe kann sich auf dem Bodden bei viel Wind eine kurze und steile Welle bilden, die für kleine Boote bisweilen unangenehm ist. Dann besser in den geschützteren Strelasund ausweichen.
In der Vor- und Nachsaison hat man es vermehrt mit südlichen bis nordwestlichen Winden zwischen 10 und 15 Knoten zu tun. Im Sommer, wenn sich ein Azorenhoch festsetzt, weht es konstant aus Ost. Zu jeder Jahreszeit muss aber mit dem Durchzug eines Tiefdruckgebiets samt Starkwind und ergiebigen Niederschlägen gerechnet werden. Insbesondere im Sund wird der Wind zudem infolge der Landabdeckung abgeschwächt und abgelenkt. Auf plötzliche Winddreher sollte man vorbereitet sein.
Wir waren mit einer Hanse 348 der Segelschule Sail & Surf Rügen unterwegs. Das Schiff kostet in der Vor- und Nachsaison 1.340 Euro, in der Hauptsaison 2.050 Euro. Infos und Buchung unter: TELEFON 038306/232 53, DEHLERPOINT.DE
Jan Werner: „Törnführer Ostseeküste 2 von Wismar bis Stettin“, 39,90 Euro; Einzelkarten „Greifswalder Bodden“ und „Kubitzer Bodden – Strelasund“, je 12,90 Euro. SHOP.DELIUS-KLASING.DE