Rückschläge verarbeiten kann Jens Kuphal. Als Manager des Offshore Team Germany musste er bei The Ocean Race vor zwei Jahren mit Bruch beim Start zur letzten Etappe klarkommen. Jetzt muss er wieder Nehmerqualitäten beweisen.
Als Eigner der XR 41 „Exciter“ ist der 62-Jährige von einer Zeitstrafe betroffen, die der Offshore Racing Congress (ORC) Anfang November bei seiner Generalversammlung beschloss. Sie nähme Kuphals Crew in der kommenden Saison absehbar jede Chance auf einen Podiumsplatz bei hochrangig besetzten Regatten.
Bei der im August in Tallinn ausgetragenen ORC-Weltmeisterschaft wurde das Team auf Anhieb Vierter; mit dem jetzt eingeführten Malus wäre bestenfalls Platz 5 drin gewesen. Die Korrektur seines Rennwerts hält er ebenso wie deren Begründung für fragwürdig. „Wenn das so bleibt, machen wir an der Kreuz bei Leichtwind selbst gegen ältere Konstruktionen keinen Stich mehr.“
Für den äußerst erfahrenen Skipper, der 2022 auf seiner Landmark 43 „Intermezzo“ den Titel des ORC-Europameisters errang, ist es nicht die erste Bestrafung im Rating. Schon bei der Umstellung auf das jetzt aktuelle ORC-Berechnungsverfahren büßte er 2023 mit seinem alten Boot bis zu 12,5 Sekunden pro Meile gegenüber einer auf dem Wasser praktisch gleich schnellen ClubSwan 42 ein. Zweifel an der Richtigkeit des Rennwerts buckelte das Internationale Technische Komitee des ORC, kurz ITC, damals einfach weg und ging auch nicht näher auf fundierte Kritik ein.
Das könnte den Verantwortlichen im Verband nun auf die Füße fallen. Ende November brach in den sozialen Medien ein Sturm der Entrüstung los, der geeignet ist, die Reputation des Vermessungssystems insgesamt zu beschädigen. Der Grund: Sämtliche bei der WM in Estland gestarteten XR 41 sind, obwohl beanstandungsfrei nach ORC vermessen, für die Saison 2026 mit Korrekturfaktoren belegt worden – allen voran das Weltmeisterboot, das für X-Yachts unter Skipper Jesper Radich an den Start gegangen war und den Event mit einer nahezu perfekten Serie dominiert hatte.
Das Technische Komitee nahm die Ergebnisse im Herbst zum Anlass einer Re-Evaluierung des Ratings und der Parameter, die in das ORC-spezifische Geschwindigkeits-Prognose-Programm einfließen (Velocity Prediction Program, kurz VPP). Die Vermutung lag nahe, dass X-Yachts eine Formellücke gefunden haben könnte. So weit, so üblich. Was jedoch darauf folgte, war eine Eskalationsspirale auf mehreren Ebenen, die noch lange nachwirken dürfte.
Mit der XR 41 traf das ITC nicht irgendeine Klasse-B-Yacht und nicht irgendeine Werft. Die Zeitstrafe erging an das seit Langem ehrgeizigste Regattaprojekt der Dänen, die ihrerseits zu den renommiertesten Bootsbauern der Welt zählen. Von der Ankündigung 2023 bis zum WM-Triumph im vorigen August ließ die Mannschaft um CEO Kræn Brinck Nielsen nie einen Zweifel daran, dass das Motto „From Vision to Victory“ wörtlich gemeint war: volles Commitment, maximaler Fokus, keine Kompromisse.
Rund 2,5 Millionen Euro gab X-Yachts für die ambitionierte Mission aus – ein Mehrfaches üblicher Entwicklungsetats. Um das Boot nicht nur bei Regatten einsetzen zu können, ersann die Werft ein modulares Interieur, das rasch demontierbar ist. Die Rumpfform mit fülligem Vorschiff, stark verjüngter Wasserlinie und fast v-förmiger Spantform achtern wirkt hochmodern, ja radikal. Ein Entwurf, der am Wind chirurgische Präzision vermittelt, zugleich aber volle Gleitfähigkeit besitzt.
Auch sonst setzten die Dänen Maßstäbe, etwa bei der Crew-Sichtung. Selbst die Entwicklung und Optimierung der Segel, die North Sails übernahm, erfolgte auf Grand-Prix-Niveau.
Die Bilanz war entsprechend: Fünfmal startete das Werft-Team 2025 bei namhaften Hochseeregatten, darunter der Kieler Woche. Fünfmal holte es Silber. Der WM-Sieg erschien am Ende fast schon zwangsläufig – auch wenn die XR 41 im Frühjahr noch nicht so überlegen gesegelt war wie in Tallinn. Insbesondere bei Leichtwind erwies sie sich als herausfordernd.
Das änderte aber nichts an der makellosen Bilanz der „Formula X“, die sich auch im kommerziellen Erfolg widerspiegelt: Zwei Dutzend Boote verkaufte die Werft trotz einer sonst schleppenden Konjunktur im ersten Jahr. Ein Märchen eigentlich – bis zum Beschluss der Generalversammlung des ORC Anfang November.
Die Wächter über den ambitionierten Hochseesport sahen sich in einer kniffligen Situation. Sollten sie den Erfolg der XR 41 auf sich beruhen und das Rating unverändert lassen? Oder deren Überlegenheit einhegen, um die Chancengleichheit zu wahren?
Für beide Optionen hätten sich genügend gute Gründe finden lassen. So befand es das ORC in den Jahren zuvor nicht für notwendig, etwa die Grand Soleil 44 mit einem Handicap zu belegen, obwohl sie viermal hintereinander Weltmeister geworden war. Wieso dann aber die XR 41? Nur weil deren Konstruktion innovativer ist? Das ist die eine, die grundlegendste Form des Dilemmas, vor dem die Mitglieder im ITC standen. Die Techniker entschieden sich für eine Kappung der Dominanz, obwohl dafür nicht einmal ein formeller Antrag vorlag.
Die andere Dimension ist politisch – und wenig sportlich. Man kann sie als Nord-Süd-Konflikt in der Auseinandersetzung beschreiben, maßgeblich befeuert von dänischen Segelmedien. Die stellten den Verdacht in den Raum, dass Matteo Polli, Konstrukteur der Grand Soleil 44 und anderer höchst erfolgreicher ORC-Yachten, seinen Einfluss bei der Entscheidungsfindung geltend gemacht habe.
Polli hat einen Sitz im Technischen Komitee und soll sich dort vehement für die Neubewertung der XR 41 eingesetzt haben. Es wäre ein veritabler Interessenkonflikt. Mehrere Quellen bestätigten der YACHT, dass es Belege für das angebliche Lobbying gebe. Gegenüber der YACHT dementierte der italienische Designer solche Spekulationen jedoch rundweg. „Ich werde als Gegner der XR 41 kolportiert, aber das ist einfach falsch. Mein einziges Interesse liegt darin, faire Regatten sicherzustellen, denn dadurch wird der Sport für mehr Segler attraktiv.“
Im Ergebnisprotokoll der ITC-Sitzung findet man keine Indizien für eine Einflussnahme Pollis. Und doch überrascht die Einleitung zum „Anhang XR 41“. Dort heißt es, wie in einer Art vorgezogenen Rechtfertigung: „Jegliche während der Saison festgestellte Unregelmäßigkeit kann eine Untersuchung auslösen, um festzustellen, ob ein Boot besser oder schlechter als seine Polardaten abschneidet. Das Ziel des ORC ist es, durch die Arbeit des ITC faire Bewertungen für die Flotte zu gewährleisten, ohne dabei irgendein Boot oder Konstruktionsmerkmal zu bevorzugen.“
Spätestens bei der Ermittlung und Begründung der Zeitstrafen verhedderte sich der Verband dann allerdings richtig. Das ITC bemühte dazu einen Vergleich zur älteren X 41 One Design, von der ebenfalls mehrere Boote bei der WM am Start waren. Sieben fanden sich am Ende in den Top 20 der Gesamtwertung wieder; die beste auf Rang 6.
„Die XR 41“, so heißt es zusammenfassend, „ist etwa 30 Zentimeter länger, hat rund 12 Quadratmeter mehr Segelfläche am Wind und ein um 20 bis 25 Prozent höheres aufrichtendes Moment bei 20 Grad Krängung. Trotz dieser Werte soll sie bei 10 Knoten Windgeschwindigkeit an der Kreuz nach dem ORC-Rating langsamer segeln als die X 41.“ So plausibel es klingen mag: Eine solche Beweisführung per Beispiel muss keinerlei Evidenz besitzen.
Das ITC schlussfolgerte dennoch, dass etwas nicht stimmen könne im Berechnungsverfahren. Mit anderen Worten: X-Yachts habe bei der Entwicklung der XR 41 einen blinden Fleck im Algorithmus der ORC-Vermessung gefunden und ausgenutzt. Das ist nicht unzulässig; alle Konstrukteure suchen nach Formellücken, schon immer. Es rechtfertigt aber unter bestimmten Voraussetzungen Korrekturen.
»Als wir mit 16, 18 Knoten auf dem letzten Bahnschenkel vor dem Wind alle anderen förmlich haben stehen lassen, dachte ich mir schon, dass das ein Nachspiel haben würde!« Jens Kuphal, XR-41-Eigner
Im konkreten Fall identifizierte das Technische Komitee die Methode zur Berechnung des Restwiderstands als Ursache für das aus seiner Sicht zu günstige Rating. Das ORC nutzt dafür künstliche Intelligenz und setzt drei neuronale Netze ein, die zuvor mit Trainingsdaten für nicht weniger als 14 relevante Parameter kalibriert wurden. Ein höchst komplexes Verfahren. Bis 2022 hatte der Verband den Rennwert aus nur drei Parametern berechnet.
Das neue System sollte mehr Präzision ermöglichen, eine noch bessere Erfassung des Leistungspotenzials aller Yachten. Allerdings fehlte es dabei an Referenzwerten für ein Boot wie die XR, die einerseits recht schwer, andererseits raumschots sehr schnell ist und deren Formgebung vom Gros des Marktes erheblich abweicht.
Insbesondere die Fülligkeit im Vorschiff vergrößert ihre Wasserlinienfläche. Der sogenannte Coefficient of Water Plane Area (CWPA) ist bei ihr deutlich höher als üblich. Die neuronalen Netze können folglich keine verlässlichen Hochrechnungen für den Restwiderstand liefern, was die Geschwindigkeitsprognosen verfälscht. Jason Ker, selbst namhafter Konstrukteur und ITC-Mitglied, spricht von einem für die KI „unbekannten Terrain“. Weil die neuronalen Netze ohne Bezugspunkte nicht sauber arbeiten können, verlegen sie sich auf Schätzungen. Statt valider Widerstandswerte produzierten sie „Halluzinationen“, so Ker.
Das erscheint schlüssig – aber auch verwunderlich. Denn genau auf diese Fehlsichtigkeit hatte Max Gurgel, selbst Physiker und Yachtoptimierer, den ORC bereits 2023 hingewiesen, als die erweiterte KI-Berechnungsmethode eingeführt worden war. Damals fand seine fundierte Analyse kaum Beachtung.
Und selbst jetzt folgt das Technische Komitee seiner Argumentation nur zum Teil. Der Kieler hatte nämlich an mehreren Beispielen nachgewiesen, dass die Irrungen der neuronalen Netze keinesfalls nur Boote betreffen, die deutlich außerhalb des Üblichen liegen. Auch für eher konservative Konstruktionen wie die Grand Soleil 44 oder die ClubSwan 42 zeigen sich teils erhebliche Schwankungsbreiten zwischen den verschiedenen neuronalen Netzen.
»Auf einer typischen ORC-Kurzstrecke mit zwei Up-and-Downs summiert sich der vom ITC gewählte Korrekturfaktor auf mindestens 40 Sekunden pro Rennen. Das ist sehr viel!« Max Gurgel, Optimierer
Folgt man Gurgels Argumentation, wollte der ORC mit der Ausweitung der Berechnungsparameter das Richtige, wählte aber einen zu simplen Weg, um der selbst gewählten Komplexität Herr zu werden. Der Kieler, der auch an der Entwicklung der XR 41 beteiligt war, ist im Herzen ORC-Fan. Ihm imponieren die wissenschaftsbasierte Formel und der generelle Ansatz. Umso mehr irritierte ihn der schlichte „Fix“ des ITC.
Danach sollten stark abweichende Werte wie etwa der Fülligkeitsindex mehr oder weniger willkürlich angepasst werden, anstatt die Prognosequalität der neuronalen Netze grundlegend zu validieren. Das Verfahren erinnert mehr an den Pi-mal-Daumen-Ansatz von Yardstick als an eine elaborierte Vermessungsformel.
Dass sie damit gegen das selbst propagierte Prinzip der Wissenschaftlichkeit verstießen, verstanden am Ende auch die ITC-Verantwortlichen. Sie zogen die ursprünglich erst für 2026 zugesagte grundlegende Prüfung der Parameter zur VPP-Erstellung deshalb auf Dezember vor. Zu groß war offenbar die Sorge um den bis dato guten Ruf. Die Ergebnisse der Validierung standen bei Redaktionsschluss allerdings noch aus.
Was in Anlehnung an den Watergate- Skandal vereinzelt als „XR-41-Gate“ des ORC zugespitzt wurde, hat tatsächlich eine weit größere Dimension. Zum einen sind auch andere Bootstypen von den Zeitstrafen betroffen. Dazu zählt etwa die Judel/Vrolijk 43, bei deren Entwicklung Formelzwänge keinerlei Rolle spielten, oder Beneteaus neue First 30, der meistverkaufte Performance-Cruiser des vergangenen Jahres. Deren Eigner und Designer haben teils ebenfalls bereits Anfragen an das Management-Komitee des Verbandes gestellt oder bereiten diese vor.
Da ist aber noch ein grundsätzlicherer Aspekt. Die Debatte, findet Jens Kuphal, schade „dem Hochseesport generell“. Statt Innovation zuzulassen, das Regattasegeln attraktiv und zeitgemäß zu halten, riskierten die Formelhüter, dass die Meldezahlen weiter sinken. „Das kann es ja nicht sein!“ Er selbst gibt sich kämpferisch, ungeachtet der noch im Raum stehenden Korrektur der Rennwerte. Kommende Saison will Kuphal sein Glück auf Langstreckenregatten finden.