ReportageTradition trifft Moderne – hinter den Kulissen der Havel Klassik 2023

YACHT-Redaktion

 · 09.08.2023

Gute Laune bei der Crew an Bord des 20er-Jollenkreuzers „Kleine Anna“, der zu den Stammgästen gehört
Foto: YACHT/S. Hucho
Alljährlich zieht es mehr als 60 traditionelle Yachten an die Scharfe Lanke, wo vor dem Bootshaus des Akademischen Segler-Vereins die Havel Klassik startet. Unsere Autorin Luisa Conroy heuerte an

Ein Text von von Luisa Conroy

Anfang des 20. Jahrhunderts konstruierte Max Oertz die „Prosit III“, einen 18 Meter langen Seekreuzer mit zwei Masten. 1919 wurde „Prosit III“ von der Bauwerft in Rostock zum Akademischen Segler-Verein nach Berlin überführt, wo sie als Ausbildungsschiff dienen sollte. Damals war Berlin Hauptstadt der frisch gegründeten Weimarer Republik, auf den Straßen fuhren mehr Kutschen als Autos, und Frauen durften erstmals an Wahlen teilnehmen. In den Hörsälen der Technischen Hochschule Charlottenburg aber, an der Max Oertz studiert hatte, saßen größtenteils Männer, und auch der Akademische Segler-Verein (ASV) nahm keine Frauen als Mitglieder auf.

Einhundert Jahre später sitze ich auf der baugleichen Nachfolgerin „Prosit IV“ vor ebenjenem Verein. An der Pinne der Yawl, die 1969 ihre Vorgängerin ersetzte, steht eine ziemlich nervöse Anita Opaczyk. Es ist ein sonniger Sommertag in Berlin, kurz vor dem Start der 27. Havel Klassik. „Schrick Besanschot. Fier auf Großschot.“ Anita gibt knappe Anweisungen, ihr Gesichtsausdruck verrät größte Konzentration. Hinter ihr steht Matthias Kahnt, der von allen Mutz genannt wird. „Fahr noch ein Stückchen weiter“, sagt er. „Ich will von unten mit Schwung an die Startlinie kommen.“

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Mutz ist heute Schiffsführer, auch er ist konzentriert, wirkt dabei aber routiniert und entspannt. Er kam schon vor mehr als zehn Jahren als Crew auf die „Prosit IV“ und ist hier mittlerweile regelrecht zu Hause. Mit seinen 36 Jahren ist der gut gelaunte Bootsbauer der Älteste an Bord, und doch fühlt es sich so an, als wären wir hundert Jahre in die Vergangenheit gereist.

60 klassische Yachten in der Junisonne

Die Kommandos lauten „Recht so“ oder „Wahrschau, Backstagsläufer“ und wirken auf mich, die ich mit meinen 30 Jahren vom Alter eigentlich gut in die Crew passe, bizarr. Doch dann richte ich den Blick aufs Wasser und schaue auf über 60 klassische Yachten, deren lackierte Holzrümpfe in der Junisonne glänzen. Mich friert ein wenig in dem weißen Oberteil, das als Crewkleidung erwünscht war, aber auch das passt irgendwie, schließlich gab es vor hundert Jahren noch keine Hightech-Kleidung, keine Windbreaker, kein Softshell.

Doch das Bild historischer Schönheiten entschädigt und illustriert die größte deutsche Binnenregatta für klassische Yachten wunderbar. Die lockt bereits seit 1997 Liebhaber traditionell gebauter Segelboote an.

Warum? „Weil ich gern auf Klassikerregatten fahre“, sagt Harry Naujoks aus Dortmund, der schon seit über 15 Jahren hierherkommt. „Weil wir gerne in die Kulturlandschaft abtauchen“, sagt ein anderer Teilnehmer hinsichtlich der vielen historischen Landmarken wie der Glienicker Brücke, der Pfaueninsel und der Parkanlagen in Sacrow und Babelsberg, an denen das Feld vorbeizieht.

Denn die Havel Klassik ist eine Langstreckenregatta. Nach dem Start in der Scharfen Lanke vor dem ASV schlängeln sich die Boote die Havel entlang, an den Inseln Schwanenwerder, Imchen und der Pfaueninsel vorbei, durch die Sacrower Bucht bis zum Markboot vor der Glienicker Brücke und wieder zurück. Rund 30 Kilometer beträgt die Strecke, und nicht immer reicht der Wind dafür aus, sie vollständig abzusegeln.

Bester Moment nach dem Start

Doch auch wenn die Bahn verkürzt werden muss, spätestens die Flotte selbst bietet einen großartigen Anblick, findet Max Reichardt, der dieses Jahr schon zum 20. Mal Wettfahrtleiter bei der Havel Klassik ist. „Der beste Moment ist jedes Mal nach dem Start“, sagt er. „Wenn die schöne Flotte wegfährt, sieht das immer toll aus. Dann machen wir uns ein Getränk auf und genießen das erste Mal seit Tagen die Ruhe.“

Dass diese Regatta nicht nur für deutsche Teilnehmer etwas Besonderes ist, bestätigt auch Annie Taylor. Die Australierin ist mit ihrem Mann eigens für den Event nach Berlin gekommen. Die Havel Klassik habe alle Erwartungen übertroffen, schwärmt sie. So viele makellose Oldtimer, die friedlich gegeneinander antreten, das sei etwas ganz Besonderes.

Auch er wolle „schöne Bilder“ sehen, sagt vor dem Start Norbert Seidel, der mit seinem hundert Jahre alten Schlepper „Bolle“ und dem Skandinavischen 15er von 1934 im Schlepp aus Potsdam angereist ist. Damit ist er einer der wenigen, die dieses Jahr schon am Freitag gekommen sind. „Das ist ein bisschen schade“, findet Max Reichardt. „Dieses Jahr lag es vielleicht auch am Dauerregen, aber generell ist es weniger geworden.“ Früher seien viele schon am Freitag angereist und erst am Sonntag wieder gefahren.

Veränderungen mit der Zeit

Mit Eröffnung am Freitag, Regatta und Gartenparty am Samstag sowie einem Korso mit musikalischer Begleitung am Sonntag war die Havel Klassik ursprünglich einmal ein dreitägiges Event. „Den Korso lassen wir inzwischen weg, da war das Interesse nicht mehr groß genug“, so Reichardt. „Viele kommen jetzt Samstagfrüh direkt zum Start und gehen nach der Siegerehrung wieder“, erklärt er etwas traurig. „Ist eben alles etwas schnelllebiger heute.“

Schnell geht es auch auf der „Prosit IV“ zu, zumindest in den Böen. Das große Schiff beschleunigt erstaunlich schnell, an Bord kommt etwas Hektik auf. Schiffsführer Mutz und Kilian Mühle, der mit seinen 21 Jahren schon die interne Schiffer-Ausbildung des ASV bestanden hat, rufen Anita und der Crew immer wieder Hinweise zu, und der Ehrgeiz der beiden scheint auf die anderen abzufärben. „Fahr mit der Bö noch ein bisschen hoch“ oder „Hol dicht die Fock“ schallt es über die alte Yacht. Und plötzlich ist es wie bei jeder anderen Regatta, wir sind einfach ein paar junge Leute, die erfolgreich segeln wollen.

Die „Prosit IV“ pflügt durch den Wannsee, auf dem ich bereits als Opti-Kind gesegelt bin. 20 Jahre später sehe ich mit dem Strandbad Wannsee und der Flussinsel Imchen eine altvertraute Kulisse hinter dem Großsegel vorbeiziehen. Entgangen ist mir in all diesen Jahren, dass hier junge Menschen auf einer historischen Yacht das Segeln erlernen.

Das werde sich so schnell auch nicht ändern, da ist sich Christian Masilge sicher. Der 63-Jährige war einst Mitinitiator der Havel Klassik und ist schon seit 1979 Mitglied im ASV. „Gewisse Traditionen gehören bei uns einfach dazu“, sagt er im Hinblick auf die „Prosit IV“.

Wie es zur Regatta Havel Klassik gekommen ist

Doch die Tatsache, dass klassische Yachten im ASV zum Inventar gehören, war nicht der einzige Grund für die Entstehung der Havel Klassik. Der Freundeskreis Klassische Yachten suchte 1996 einen Ausrichter für eine Regatta in Berlin. „Es gab hier damals noch keine Klassikerregatta“, sagt Masilge, und erzählt, dass die Veranstaltung ursprünglich abwechselnd in West- und Ostberlin stattfinden sollte. Nach dem Erfolg der ersten Auflage im ASV jedoch waren sich Verein und Freundeskreis einig, die Regatta bleibt hier.

Zu verdanken war das neben Masilge vor allem Claus Reichardt, dem Vater des Wettfahrtleiters Max Reichardt. „Wir haben das gleich ganz groß aufgezogen“, so Masilge. „Wir haben Werbung gemacht, alle Besitzer klassischer Yachten eingeladen, die wir kannten, und bei den anderen haben wir Einladungsbriefe unter die Persenning gesteckt.“ Mit Erfolg: Schon im ersten Jahr waren knapp 70 Yachten am Start.

Auf die Frage, warum er sich mit so viel Herzblut in die Organisation einer Regatta eingebracht hat, die er gar nicht selbst initiiert hat, antwortet Masilge ohne lange nachdenken zu müssen: „Weil klassische Yachten einfach zum ASV gehören.“

Dass meine Ausbildung nicht auf einem Klassiker stattfand, merke ich auf der „Prosit IV“ immer wieder. „Luvschot vom Klüver überreppen“, ruft etwa jemand – und ich verstehe schon wieder nur Spanisch. Doch diesmal ist zum Glück jemand anderes gemeint. Also konzentriere ich mich weiter auf das Trimmen des Vorsegels. Ist die Genua gesetzt, fällt auch der Barberholer in mein Aufgabengebiet. Ehrgeizig versuche ich, so viel wie möglich aus den Segeln herauszuholen. „Fier auf den Barberholer“, ruft Kilian, und als ich gerade die Leine von der alten Klampe nehme, fügt er hinzu: „Belege Kommando!“

Ich sehe ihn an. „Ein Kommando belegen?“, frage ich unsicher. Er grinst. „Das bedeutet, ich nehme es zurück“, erklärt er. Und so bewege ich mich während der ganzen Regatta zwischen Klassik und Moderne, Ehrgeiz und Unverständnis.

Jede und jeder scheint willkommen

Dennoch fühle ich mich wohl in der gut gelaunten, jungen Crew. Hier scheint jede und jeder willkommen: Neben alten Hasen wie Mutz oder Helena ist auch Anita an Bord. Sie ist erst 15 und hat letztes Jahr mit dem Segeln angefangen.

Junge Mitglieder bekommen im ASV traditionsgemäß eine Menge Verantwortung, denn laut Satzung muss jedes Mitglied spätestens nach zwei Jahren Mitgliedschaft ein Vorstandsamt bekleiden. Da nur Studierende Mitglied werden können, ist dabei der Altersschnitt im Vorstand ziemlich niedrig.

Der Vorsitzende segelt auf der Havel Klassik traditionell im 12-Fuß-Dinghy „Nulpe“ mit – eine Ehre, sagen die einen, eine Qual, die anderen. Denn die „Nulpe“ kommt in der Regel einige Stunden nach allen anderen ins Ziel. Am Steg versammeln sich dann die Crews der anderen Schiffe und bejubeln des Vorsitzenden Zieldurchgang – unter anderem, weil nun das Freibier ausgegeben wird.

Jung und alt bei der Havel Klassik vereint

Ob mit Freibier oder ohne – die Stimmung ist toll bei diesem Treffen der Klassikerfamilie, das Alt und Jung vereint. Christoph Huntgeburth segelt seinen 20er-Jollenkreuzer gemeinsam mit seinem Sohn und seinem Enkel. Und Matthias Riese geht mit seinem Stahl-Jollenkreuzer an den Start, während sein 15-jähriger Sohn Sebastian dieses Jahr seinen eigenen Piraten steuert.

Doch auch ohne vorhandenen Verwandtschaftsgrad ist die Stimmung familiär, man kennt sich. Das einzige Stressthema, erzählt Max Reichardt etwas genervt, seien jedes Jahr die Yardstickzahlen, man könne es nie allen recht machen. Es ist einer der Gründe, weshalb Reichardt sich nach 20 Jahren entschieden hat, das Wettfahrtleiteramt abzugeben. Aber: „Ich bin nächstes Jahr natürlich trotzdem dabei.“ Dann werde er sich allerdings vor allem um das Geschehen außerhalb des Regattakurses kümmern.

Nach Rundung der Wendemarke, die dieses Jahr in der Sacrower Bucht liegt, treffen wir tatsächlich schon hinter der Pfaueninsel auf die „Nulpe“. Ruvn Fleiner, aktuell erster Vorsitzender des ASV, und Casinowart Thole Althoff mussten in den letzten Wochen einige Nachtschichten einlegen, um sie segelfertig zu machen und mit ihr teilnehmen zu können.

Zuvor hatte ein Bootsbauer noch eine Planke ausgetauscht. Erst heute Morgen wurde der Mast gestellt. Wie schön, dass es geklappt hat, denn jetzt raunt man sich auf der „Prosit IV“ anerkennende Worte zu. „Die sind aber echt schon weit! Und das, obwohl sie so viel schöpfen müssen!“ Am Ende gibt es dieses Jahr sogar eine kleine Sensation: Die „Nulpe“ geht nicht wie sonst als Letztes durchs Ziel.

Doch selbst die Eignerin des Last Ship Home „Old Wood“ dürfte zufrieden sein. Das vorher gesetzte Ziel, „In die Wertung kommen“, hat sie diesmal erreicht.

Übermäßiger Ehrgeiz löst Proteste aus

„Schau mal, da fährt jemand außerhalb der Fahrwassertonnen!“ Mutz Kahnt zeigt auf eine Jolle und fügt zum Spaß hinzu: „Gegen die könnten wir jetzt protestieren.“ Was er nicht ahnt: Nicht alle finden das witzig. Am Ende werden tatsächlich einige Proteste bei der Jury eingehen. Das drückt die Stimmung ein bisschen, denn viele sehen in den Protesten übermäßigen Ehrgeiz: „Hier geht es doch um nichts“, sagt ein Teilnehmer. „Da verstehe ich nicht, was das soll.“ Auch vor dem Wettfahrtbüro sind die Meinungen gespalten. Während eine Teilnehmerin verärgert ist und sagt, sie würde jetzt am liebsten nach Hause fahren und nie wiederkommen, sieht ein anderer in den Protesten keinen Affront. „Ich habe gegen die Regeln verstoßen, also wurde ich disqualifiziert. Das ist in Ordnung.“ Dass er sich der Regel nicht bewusst war, spielt für ihn dabei keine Rolle.

Christian Masilge findet es als Obmann der Jury schade, dass diese Proteste nun auf die Stimmung schlagen. „Nächstes Jahr sollte das in der Segelanweisung genauer beschrieben sein, und auch bei der Steuerleutebesprechung wird der abzusegelnde Kurs mit seinen Hindernissen und Verbotszonen besser erläutert werden“, sagt er.

Kurz vor dem Ziel

Die „Prosit IV“ absolviert den Kurs in zweieinhalb Stunden. Als wir am frühen Nachmittag zum zweiten Mal am Grunewaldturm vorbeifahren, wird Anita gesprächig. Man merkt, wie die Spannung von ihr abfällt, jetzt, da sie weiß, dass sie es gleich geschafft hat. Sie tänzelt herum, lacht und macht Witze. Kurz vor dem Zieldurchgang jedoch wird sie wieder ruhig. „Jetzt keine Gespräche mehr“, sagt sie mit Nachdruck.

An Bord herrscht wieder eine konzentrierte Stimmung. Schon seit ein paar Kilometern sind wir auf Tuchfühlung mit „Lillevi“, einer 6-mR-Yacht von 1938. Mal ist sie vorn, mal wir. Im Moment liegen wir komfortabel vor ihr.

Doch kurz vor dem Ziel will die Berliner Luft noch einmal zeigen, was sie kann, der Wind dreht immer weiter nach links, sodass es für Außenstehende aussehen muss, als wollten wir von hinten über die Ziellinie fahren. „Lillevi“ erwischt einen besseren Dreher und schiebt ihren Bug drei Sekunden vor uns durchs Ziel. Dennoch, wir gehen als viertes Schiff über die Linie. „Happy?“, frage ich Anita. „Voll“, antwortet sie.

Ich schaue hinüber zum Steg des ASV, dessen Bootshaus jetzt etwas einsam daliegt, und stelle mir vor, Max Oertz säße noch einmal dort und sähe die nach seinem Entwurf gebaute „Prosit IV“ knapp hundert Jahre nach seiner aktiven Zeit durchs Ziel der Havel Klassik segeln, veranstaltet von seinem Heimatverein. Am Steuer eine junge, ehrgeizige Frau. Was er wohl gedacht hätte?

Nun, man kann nur mutmaßen, dass er stolz gewesen wäre. Dazu hätte er auf jeden Fall allen Grund gehabt.


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