Tatjana Pokorny
· 17.03.2023
Zum ersten Mal seit dem erfolgreichen Auftakt zur Königsetappe hat Team Malizia wieder die Führung übernommen. Während sich die Ocean-Race-Flotte in den aktuell schwachen Winden der gar nicht furiosen Fünfziger Breitengrade zusammenschiebt, freuen sich Boris Herrmann und seine Crew über das bislang Erreichte
Es ist am Freitagabend deutscher Zeit noch früher Morgen an Bord der “Malizia – Seaexplorer” im Südmeer. Boris Herrmann ist gerade auf Wache gekommen, hat sich einen Tee gemacht und wird langsam wach. “Es herrscht Dienst nach Vorschrift. Jeder, der es bislang bei uns an Bord mitbekommen hat, dass wir die Führung übernommen haben, freut sich im Stillen.”
Am Freitagnachmittag hatte der Race Tracker erstmals Team Malizia vor der bisherigen Spitzenreiterin “Holcim – PRB” auf Platz eins ausgewiesen. Für Malizia-Fans ein Fest! “Ich freue mich natürlich sehr”, sagt Boris Herrmann und denkt laut über das neue Szenario nach: “Wir gehen davon aus, dass wir uns jetzt alle mehr oder weniger um diese Hochdruckgeschichte herum gruppieren. Wir sind zum ersten Mal nach zwei Wochen wieder Erste. Wir waren ja Erste nach dem Start. Das haben wir leider ziemlich schnell an Holcim verloren. Und dann waren die 700 Seemeilen weg …”
Boris Herrmann hält einen Moment inne und sagt dann: “Jetzt wieder dran zu sein ist megaklasse, ein Megageschenk! Bei allem, was uns auch in der Zwischenzeit passiert ist …” In lebendiger Erinnerung sind die Entdeckung des Risses im Mast der “Malizia – Seaexplorer” und der monströse Reparatur-Marathon, in dessen Verlauf Will Harris und Rosalin Kuiper Unvorstellbares in 28 Meter Masthöhe geleistet haben. Da hatten Boris Herrmann, Nico Lunven und die beiden Reparatur-Helden ihr Etappen-Aus schon vor Augen. Kaum vorstellbar war, dass ihnen eine so erfolgreiche Aufholjagd gelingen würde, wie sie heute ihr vorläufiges Happy End gefunden hat.
Nun geht der Kampf bei immer noch rund 5.500 Seemeilen bis in den brasilianischen Etappenhafen Itajaí weiter. Bis Kap Hoorn sind noch etwa 3.000 Seemeilen zu meistern. Die gesamte Flotte der vier Imocas ist in leichten Winden um zehn Knoten eng zusammengerückt. In den aktuell so gar nicht furiosen Fünfziger Breitengraden trennten die führende “Malizia – Seaexplorer” und die viertplatzierte “Mālama” vom US-Team 11th Hour Racing am Freitagabend gerade noch 20 Seemeilen.
“Nun, da das Rennen noch einmal komplett auf null gesetzt ist, fängt es wieder von vorn an”, sagte Boris Herrmann. Und weiter: “Ich schätze mal, dass 11th Hour Racing in der Flaute das Großsegel reparieren kann. Dann werden alle Schiffe wieder einsatzfähig sein. Ich freue mich auch zu sehen, dass Guyot gut unterwegs ist in Richtung Itajaí, wo wir dann wieder mit fünf Schiffen an den Start gehen werden.”
Die kleine Erholungspause nutzen alle Teams nach fordernden Hochgeschwindigkeits- und Rekordtagen auch zum Laden der eigenen Akkus. Die leichteren Winde sind willkommen, wie Boris Herrmann sagt: “Hier unten im Südmeer ist es ziemlich kalt und neblig. Man hat eine Mütze auf und die Hände in den Taschen. Nur die Nasenspitze ragt raus und ist kalt. Der Wind ist böig, man nimmt die Schot in die Hand und fiert sie wieder. Die See ist recht ruhig. Sie schlägt nicht. Man kann sich mal ein bisschen erholen.”
“Holcim – PRB”-Skipper Kevin Escoffier weiß indessen, dass sein aktuelles Schicksal größtenteils auf die Wetterbedingungen zurückzuführen ist, auf die er keinen Einfluss hat. Die Leichtwindmauer im Osten hat die Führenden früher und mehr gebremst als die Verfolger. Dennoch ist Escoffier auch der Meinung, dass sein Team diese Woche besser hätte segeln können. Selbstkritisch sagte der Mann mit dem Spitznamen “Positiver Kevin”: “Ich glaube, wir sind im Vergleich zu früher nicht so konzentriert und präzise beim Segeln. Wir haben das besprochen und machen es jetzt wieder so, wie wir es früher gemacht haben. Es ist wichtig, dass wir nach jeder Wache eine kleine Nachbesprechung abhalten und unsere Ziele jedes Mal aufschreiben.”
Dass Boris Herrmanns Team dem Escoffier-Quartett die lange verteidigte Führung abgejagt hat, wies Escoffier den vorherrschenden Bedingungen zu: “Was Malizia betrifft, so haben wir nicht so sehr auf sie geschaut, weil sie seit ein paar Tagen nicht mehr den gleichen Wind haben wie wir.” Teil eins der Aussage ist nur schwer zu glauben. Teil zwei ist sicher richtig und bringt Team Malizia dank der Positionierung den aktuellen Vorteil beim 53. Breitengrad Süd, während Team Holcim – PRB noch südlicher Federn gelassen hat. Der “Etappen-Neustart” mitten im Nirgendwo des Southern Ocean birgt fürs Wochenende viel Spannung.