The Ocean RaceReicht der „Sprit im Tank“ für Malizias Sieg in Itajaí?

Jochen Rieker

 · 01.04.2023

The Ocean Race: Reicht der „Sprit im Tank“ für Malizias Sieg in Itajaí?Foto: The Ocean Race Tracker/Geovoile
40 Seemeilen Vorsprung, noch 260 Meilen DTF . Das “spannend” zu nennen, wäre eine krasse Untertreibung. Es ist zum Verrücktwerden ...!

Zwischen 30 und 40 Seemeilen Vorsprung hat Boris Herrmanns Team Malizia auf „Holcim – PRB“ in der Schlussphase der Königsetappe bei The Ocean Race. Langt das? Ja, jein, vielleicht. Üben wir uns also in der Auslegung einer alten Daumenregel

Bevor wir in das Thema einsteigen, ist vielleicht ein Warnhinweis angebracht: Wir spekulieren im Folgenden ein bisschen. Zum einen, um die Spannung zu kanalisieren, die uns in der Redaktion alle zu Gefangenen des Trackers und jeder kleinsten WhatsApp-Nachricht von Team Malizia macht. Zum anderen, weil es derzeit sowieso keine Gewissheiten gibt, ähnlich übrigens wie vor dem genauso knappen Finish von Etappe zwei.

Tatsächlich findet sich kein Navigator, Wetterrouter oder Hochseeprofi, der derzeit öffentlich verlautbaren würde, ob Team Malizia oder Team Holcim – PRB gewinnen wird. Der Ausgang der Königsetappe ist nach deutlich mehr als 14.000 gesegelten Seemeilen einfach zu offen. Warum, kommt weiter unten.

Jetzt zunächst zur Eingangsfrage: Langt das? Reichen 30 bis 40 Meilen Führung, um bei einer Reststrecke von rund 250 Meilen als Erster über die Linie zu gehen?

Es gibt im Hochsee-Rennsport nicht wenige Beobachter, die in ähnlichen Konstellationen schon beginnen, den wahrscheinlichen Sieger auszurufen. Tatsächlich halten manche ein Rennen (nicht dieses, wohlgemerkt!) sogar schon bei weniger Vorsprung für gelaufen.

Zehn Prozent der noch verbleibenden Distanz als Führung sind statistisch ein halbwegs guter Indikator, wer den Bug am Ende vorn haben wird, wenn zwei (oder mehr) Boote im gleichen Wettersystem segeln.

Allerdings: Diese Daumenregel ist nur das – ein grobes Richtmaß. Und sie stammt aus den Zeiten, als Tragflächen nur für Flugzeuge oder übermotorisierte Schnellfähren als ein unverzichtbares Bauteil galten. In der recht jungen Ära der foilenden Imocas, und noch mehr in jener der jüngsten Generation, gilt das so nicht mehr.

Denn hier ist der Geschwindigkeitsunterschied im Übergang zwischen Gleit- und Semi-Flug-Modus so krass, dass ein 30-Meilen-Vorsprung binnen weniger Stunden dahin sein kann – dann nämlich, wenn das eine Boot so gerade noch nicht auf die Foils kommt und mit 13, 14 Knoten segelt, das andere aber schon auf dem Leeflügel sitzt und 17, 18 Knoten loggt.

Im Moment ist das noch nicht der Fall, weil genug Wind herrscht am Rand des Sturmtiefs, das die Teams gestern so brutal gebeutelt hat. Nach den Exocet-Daten von „Malizia – Seaexplorer“, die auf der Teamseite ständig aktualisiert abrufbar sind, weht es derzeit mit um die 30 Knoten von achtern, was weit mehr als genug ist zum Foilen. Im konfusen Seegang geht es eher darum, das Boot nicht zu schnell werden zu lassen.

Freilich: Der Wind wird in den kommenden Stunden langsam, aber kontinuierlich abnehmen. Wie sehr, hängt zum einen davon ab, wie schnell Boris Herrmann und seine Crew nach Norden vorankommen. Je schneller, umso besser, denn dann reicht die Brise bis kurz vor die Einfahrt nach Itajaí. Zum anderen liegt es aber – wie stets – auch an den Launen der Natur beziehungsweise daran, wie gut die Prognosen die tatsächliche Entwicklung abbilden.

Es gibt, mit anderen Worten, Szenarien, nach denen die Zehn-Prozent-Regel für einen Sieg von Team Malizia zutrifft; erst recht, sofern die Crew heute noch ein paar Extra-Meilen zwischen sich und „Holcim – PRB“ bringt, gewissermaßen ein paar Zusatzliter ins Spritfass packt.

Es kann aber auch noch arg eng werden – dann nämlich, wenn im Leichtwind der letzten Nacht Kevin Escoffier die Stärke seines Verdier-Designs nutzen kann.

Malizias Co-Skipper Will Harris schrieb uns heute Früh per WhatsApp auf die Frage, ob’s langt: „Ich hab gestern Nacht dasselbe gedacht, als wir 38 Seemeilen vorn waren bei noch 380 Meilen ins Ziel.“

Dann schickte er noch eine Nachricht: „Ich glaube allerdings, dass ich erst wieder anfange, normal zu atmen, wenn unser Vorsprung bei 50 Prozent liegt.“

Da sind wir noch nicht, aber, hej: Es sieht trotzdem irgendwie gut aus ..!

PS: Der Tracker wird seit heute Mittag MESZ nicht mehr stündlich, sondern alle fünf Minuten aktualisiert. Das macht die Spannung jetzt allerdings nicht geringer … 😉