Jochen Rieker
· 01.04.2023
Unwohl war den Seglern im The Ocean Race schon ein paar Tage zuvor, als sie auf die Wetterdaten schauten. Gestern wurde ihre Vorahnung bestätigt. Es war ein Tag der Opfer. Team Malizia verlor ein weiteres Segel, holte sich aber die Führung zurück!
Es schien nicht mehr weit bis zur Erlösung. Gestern lagen die Spitzenreiter bei The Ocean Race – Boris Herrmann mit Team Malizia und Kevin Escoffier mit Team Holcim –PRB – nur zwei Etmale entfernt vom Ziel der Königsetappe in Itajaí, dicht beieinander wie seit Wochen. Auch „11th Hour Racing“ und „Biotherm“ segelten flott der Marke der letzten 1.000 Meilen entgegen.
Aber dann kam sie, die letzte große Sturmfront, die letzte schwere Prüfung. Und wie! Und mit welcher Wucht!
„Wir hatten 50 Knoten“, sagte Kevin Escoffier zu seinem On-Board-Reporter. „Wenn du nach draußen schaust, ist alles weiß.“ Einen Schwenk später zeigt die Kamera von Julien Champolion auf den schäumenden Südatlantik. Und ein Blick in die Gesichter der Crew zeigt die ganze Anspannung. Tom Laperche, mit 25 der Jüngste an Bord, wirkt wie um 15, 20 Jahre gealtert.
Heute morgen, als sich Malizia und Holcim weit unter Land freisegeln vom Ärgsten des schnell ziehenden Sturmtiefs vor der brasilianischen Küste, nur einen Tag vor dem Finish, ist die Liste der Schäden fast so lang wie die der Teilnehmer.
Am schlimmsten hat es Paul Meilhats „Biotherm“ erwischt, die mit dem Backbord-Foil ein nicht identifiziertes Objekt im Wasser getroffen hat. Der Aufprall beschädigte den Flügel aus massiver Kohlefaser ebenso wie das untere Foil-Lager und den Rumpf, wodurch das Boot Wasser nimmt.
Die Situation sei aber unter Kontrolle, ließ das Team wissen, die Crew unversehrt. Ein Zacken in der Kurslinie deutet auf das Problem hin. Derzeit segelt „Biotherm“ auf dem unversehrten Bug und einer Leichtwindzone entgegen.
Es ist nur der letzte von einer Reihe technischer Rückschläge, die das französische Boot und seine Segler wegstecken müssen. Schon beim Start riss die Umlenkung der Großschot aus dem Deck, und die Lagerkugeln der Schotwagen flogen über Bord. Eins der Foils zeigte bei der Ankunft in Kapstadt einen Riss, ein Ringspant wurde nachträglich einlaminiert. Doch aus Mangel an Budget blieb „Biotherm“ als einziger Imoca damals im Wasser, wurde nicht an Land gekrant.
Das Technikteam wird in Itajaí wohl die längste Job-Liste abarbeiten müssen. Der vierte Platz scheint Paul Meilhat sicher, denn so stark gehandicapt wird er gegen die ebenfalls angezählte „11th Hour Racing“ kaum mehr um das Podium kämpfen können. Deren Vorsprung auf „Biotherm“ betrug heute Früh schon 90 Seemeilen.
Auch Boris Herrmann und seine Crew kamen im Sturm nicht ungeschoren davon. Und bei ihnen geht es um viel mehr, den Sieg nämlich. Aktuell liegen sie rund 30 Seemeilen vor „Holcim – PRB“, die gestern noch in Sicht- und AIS-Reichweite segelte. Bevor das Tief mit voller Kraft zuschlug, riss auf dem deutschen Boot der Fractional Zero, eins der insgesamt vier Raumwindsegel.
Boris blieb nichts anderes übrig, als ihn aufzurollen und abzuschlagen. Da auch der Masthead Zero im Inventar fehlt, der für die absehbar leichtwindige Schlussphase wichtig wäre, hat Team Malizia jetzt nur noch den Code 3 und die Jib Zero für raume Kurse. Das wird knifflig, aber noch ist alles möglich. Kurz zuvor hatte er noch seinen Siegeswillen im Video bekundet:
This ist the final push! Push push, push!“
Auch Kevin Escoffier musste gestern dem Tief Tribut zollen. Nach einem Strömungsverlust am Ruder legte sich sein Boot minutenlang auf die Seite, der Mast nahezu waagrecht zur ausgewühlten See. Ein Video zeigt, wie Skipper und Crew kämpfen, um die Kontrolle über das Schiff wiederzuerlangen.
Die Szenen spielten sich in einer der härtesten Böen ab, und Escoffier war hinterher anzumerken, wie angespannt er ist, wie sehr der überfallartig hereinziehende Sturm Mensch und Material auf den letzten Meilen auslaugt.
Teilweise segelte “Holcim” nur noch unter Sturmfock, denn bei dem Vorfall zerbrach eine Latte im Groß, sodass die Crew es ganz runternehmen und eine Ersatzlatte auf Länge sägen musste. Harte Zeiten, auch für den überlegen Führenden bei The Ocean Race.
Derweil wird heute im Ocean Race Park von Itajaí schon mal die Ankunft der Helden gefeiert, als wäre Karneval. Das ist erklärtes Ziel der Brasilianer: den ausgelassensten, schönsten, bestbesuchten Stoppover des 2023er-Rennens zu inszenieren. Und man mag nicht daran zweifeln.
Ein Boot liegt schon am Schwimmsteg, der eigens fürs The Ocean Race nahe der Flussmündung verankert wurde: „Guyot Environnement – Team Europe“. Es sieht aus wie beim Start in Alicante – race-ready! Und die Crew ist es auch – ausgeruht wegen der Zwangspause, die sich durch die Aufgabe der dritten Etappe und die Reparatur in Kapstadt ergab. Mit ihnen, daran ließen Skipper Benjamin Dutreux und Vorschiffsmann Phillip Kasüske gestern keinen Zweifel, wird fortan wieder zu rechnen sein.