Tatjana Pokorny
· 25.06.2023
“Es ist noch nicht das letzte Wort gesprochen”, hat Boris Herrmann von See im Dreikampf um den letzten Etappensieg angekündigt. Seine Mannschaft lag am Sonntagmorgen gut zwei Tage vor dem erwarteten Zieldurchgang zwar “nur” an dritter Position, doch segeln die drei Imoca-Teams im Ringen um die letzten Punkte bei dieser 14. Auflage des Rennens um die Welt immer wieder in Sichtweite zueinander. Gegen 9 Uhr morgens hatte die führende “Holcim – PRB” nur noch weniger als 400 Seemeilen bis in den Ocean-Race-Zielhafen Genua zu absolvieren.
Egal, was wir auf dieser Etappe noch schaffen: Wir sind Dritte im Ocean Race” (Boris Herrmann)
Knapp vier Seemeilen dahinter attackierten Skipper Paul Meilhat und sein Team Biotherm die Schweizer stark. Die Franzosen waren wie auch “Malizia – Seaexplorer” mit höheren Geschwindigkeiten nahe der spanischen Küste unterwegs. Etwa zwischen Barcelona und Mallorca kämpfen die Imoca-Mannschaften in leichten Winden um vier, fünf Knoten um jede Seemeile. Aktuell deutet für den Schlussspurt alles auf eine flaue Zitterpartie hin.
“Es ist eine sehr langsame Etappe. Wir sind in gutem Mode und auch Mood mit dem Team. Es macht Spaß, hier auf See zu sein. Ich freue mich auf die verbleibenden Tage. Zum Glück haben wir nicht so viel Druck auf den Schultern”, sagte Team Malizias Skipper Boris Herrmann. Seine Sicht auf die Entwicklungen seit dem von Team Guyot verursachten Crash mit 11th Hour Racing ist klar wie die aktuelle Sicht auf See: “Egal, was wir auf dieser Etappe noch schaffen: Wir sind Dritte im Ocean Race.”
Ich verstehe überhaupt nicht, dass die Jury uns zu dem Fall befragen will” (Boris Herrmann)
Auch sieht sich Team Malizia nicht betroffen von der anstehenden Jury-Entscheidung in dem Fall, der seit der Kollision kurz nach dem Start in Den Haag die Ocean-Race-Welt in Atem hält: “Wir sind nicht betroffen von dem Jury-Heckmeck. Ich verstehe überhaupt nicht, dass die Jury uns dazu befragen will. Ich habe dazu nichts zu sagen. Es ist einfach ein klarer Fall von Backbord-Steuerbord.”
Bei der von den Veranstaltern für den 29. Juni – also nach dem Eintreffen der Flotte in Genua am 27. oder 28. Juni – anberaumten Jury-Anhörung soll allen Ocean-Race-Teams Gelegenheit gegeben werden, ihre Meinung zum Fall kundzutun. “Ich glaube, sie haben die Befragung aller Teams als Alibi genommen, damit sie nicht einfach einen Sieger verkünden und die Spannung vor der Ankunft in Genua aus dem Rennen nehmen müssen”, sagte Boris Herrmann.
Aus der Perspektive der Veranstalter und der sehr engagierten Zielhafen-Organisatoren in Genua ist nachvollziehbar, dass man erst das Rennen zu Ende bringen und dann über die finalen Platzierungen am grünen Tisch entscheiden will. Es bleibt eine für alle Beteiligten unglückliche Lage, die erst am 29. Juni oder später durch das noch ausstehende Jury-Urteil ihre Lösung finden wird. Wie das Urteil ausfallen wird, bleibt bis dahin offen.
Ein Rechenbeispiel zeigt, was dem – möglicherweise stattgegebenen – Antrag auf Wiedergutmachung durch 11th Hour Racing folgen könnte. Gingen die drei segelnden Boote auf Etappe sieben so ins Ziel, wie sie aktuell segeln, dann käme das Team Holcim – PRB in der Ocean-Race-Abschlusswertung auf 36 Punkte. Team Malizia käme bei bislang 27 Punkten mit drei weiteren Zählern für Rang drei insgesamt auf 30 Punkte. Team Biotherm kann nicht mehr in den Kampf um die Podiumsplätze eingreifen.
Würde die Jury 11th Hour Racing nach der offiziellen Aufgabe der siebten Etappe infolge der Kollision den Durchschnitt der bisher auf sechs Etappen ersegelten Punkte zusprechen, kämen die amerikanischen Spitzenreiter bei bislang 33 Punkten plus 4,1 Punkten auf insgesamt 37,1 Punkte. Das würde den Gesamtsieg im 14. The Ocean Race bringen. Wird es so “einfach” sein, oder werden noch andere Faktoren bei der Urteilsfindung eine Rolle spielen? Etwa die Tatsache, dass Team Holcim – PRB durch den Crash indirekt betroffen ist, weil die Schweizer keine Chance mehr bekamen, ihren Drei-Punkte-Rückstand auf 11th Hour vor Beginn der siebten Etappe im Endspurt noch auf dem Wasser gutzumachen?