Tatjana Pokorny
· 06.05.2023
Die Ocean-Race-Flotte nähert sich auf Etappe vier dem Zielhafen Newport. Die Teams kommen gut voran, wenn es auch nicht für alle läuft wie geplant. Am Abend des 5. Mai hatte das US-Team 11th Hour Racing die Führung von Team Malizia zurückerobert. Doch nach wie vor trennen die Rivalen im Kampf um den Etappensieg nur wenige Meilen
Für Charlie Enrights Team 11th Hour Racing geht es um nichts weniger als den ersehnten Sieg auf Kurs Heimathafen. Das vor dem Ocean-Race-Start Co-favorisierte US-Team kämpft um den ersten Etappensieg bei dieser 14. Runde um die Welt. Oft hat der 38-jährige in Rhode Island geborene Segelprofi in den vergangenen Tagen betont, wie wichtig ihm der Erfolg auf dieser Etappe wäre. Auf die konkrete Frage, wie hoch er seinen Siegwunsch auf einer Skala von null bis hundert einordnen würde, hatte Enright nur geantwortet: “Tausend!”
Man kann sein Begehren nachvollziehen, denn das amerikanische Team war lange als Top-Favorit für diese Ocean-Race-Edition gehandelt worden. Es hatte die längste Vorbereitungszeit und mehr gemeinsames Crew-Training als alle anderen Imoca-Teams zusammen. Im Gegensatz zu seinem Navigator Simon “Sifi” Fisher hat Charlie Enright das Ocean Race bislang nie gewinnen können. Sowohl mit Team Alvimedica 2014/2015 als auch mit Team Vestas 11th Hour Racing 2017/2018 hatte Enright fünfte Plätze ersegelt.
Dieses Mal will er mehr, doch sein Team musste sich bislang Kevin Escoffiers Team Holcim-PRB und auch Team Malizia öfter beugen als erhofft. Risse in Rudern und Foils, ein kaputtes Großseegl und weitere technische Herausforderungen machten 11th Hour Racing das Leben vor allem auf der Königsetappe brutal schwer. Vor Ende der vierten Etappe liegt 11th Hour Racing hinter dem mit Mastbruch ausgeschiedenen Team Holcim – PRB (19 Punkte) und Team Malizia (14 Punkte) mit 13 Zählern auf Platz drei im kleinen, aber feinen Feld dieser Ocean-Race-Auflage.
Nun ist es nach dem Etappen-Aus für Kevin Escoffiers Schweizer Team Holcim – PRB Team Malizia, das sich mit den Amerikanern ein packendes Duell um den vierten Etappensieg im Ocean Race liefert. Malizias Etappen-Skipper Will Harris und seine Crew lassen nicht locker. Inwieweit die jeweiligen “Schokoladenseiten” der beiden Imocas im Hochsee-Matchracing greifen, bleibt abzuwarten.
Halbwindkurse liegen “Mālama”. Besonders bei löchrigem oder leichterem Wind unter und um 14 Knoten kommt den Amerikanern im Ocean Race ihre längere Wasserlinie zugute. Amwind ist es ein anderes Spiel: Sobald etwas Welle steht, könnten Will Harris und seine Malizianer profitieren. Das sei schon ab Wellen in Tischhöhe der Fall, hatte Boris Herrmann einmal erklärt, der auf dieser Etappe pausiert und in der kommenden Woche in Newport wieder zu seinem Team stößt.
Nach wie vor wird die Flotte am 10. Mai in Newport erwartet. Der Weg dahin jedoch steckt auch in den letzten Tagen voller Herausforderungen. “Der Wind sollte eigentlich aus Süd-Südwest kommen, aber wir segeln mit Wind aus Nordost – es ist also 180 Grad anders”, sagte am Morgen des 6. Mai Team Malizias Neuzugang Chris Pratt. “Wir haben es mit riesigen Wolken und Gewitter zu tun. Es sollte eine kühle Nacht in der Koje bei 20 Knoten Vorwind werden. Stattdessen war es eine harte Nacht unter den Wolken mit 15 Knoten auf der anderen Seite!”
Team Biotherm hatte zuvor ähnliche Probleme vermeldet. “Es war sehr schwierig. Es gab keinen Wind, und das wenige, das es gab, drehte sich in alle Richtungen”, erklärte Ocean-Race-Neuling Alan Roberts im 24-Stunden-Rückblick. “Es war wirklich hart. Wir sind in eine Wolkenbank mit sehr wenig Wind aus zufälligen Richtungen gesegelt. Wir haben ein paar 360°-Drehungen gemacht und versucht, das Boot in Bewegung zu halten. Das war ziemlich emotional! Aber endlich bekamen wir wieder Wind. Und jetzt fahren wir in die richtige Richtung.”
“Wir hatten Pech. Es lag nicht am Modell”, kommentierte Skipper Paul Meilhat. Und weiter: “Wir haben wahrscheinlich 150 Meilen auf die Führenden verloren und vielleicht auch noch 100 Meilen auf Guyot. Es ist schwer zu akzeptieren, aber es ist geschafft, und jetzt müssen wir weiterkämpfen. Es ist noch nicht vorbei. Es gibt noch eine Menge Tricks.”
Das Guyot Environnement – Team Europe hatte am Freitag zu Biotherm aufschließen können, war zum Samstag wieder zurückgefallen und holte dann erneut auf. Am frühen Abend lag “Guyot” 235 Seemeilen hinter den Spitzenreitern zurück. Die kurzfristigen Prognosen deuten darauf hin, dass die führenden Boote in nordwestliche Winde vordringen, es aber am späteren Samstag wieder mit starken Böen und Gewitter zu tun bekommen.
Es bleibt spannend auf Kurs Newport. Team Malizias Navigator Nico “The Brain” Lunven sagte: “Wir müssen einfach versuchen, mit dem Wind, den wir haben, in die richtige Richtung zu segeln. Auch wenn er der Vorhersage entgegengesetzt ist.” Humor hat der smarte Franzose auch.