Betrachtet man den Fall Escoffier im Rückblick, in all seinen Wendungen und Widersprüchlichkeiten, allen Aussagen und Gegenaussagen, bleibt eine Frage unbeantwortet: die nach dem Warum. Vielleicht kann es darauf gar keine plausible Antwort geben, weil sich die Abfolge mehr zufällig ergab, getrieben von Eile, Eifer, Zeitgeist und den Echokammern der Medien, nicht nur der sozialen.
Deshalb schließen wir die dreiteilige Serie über diese bisher prominenteste Me-too-Affäre im internationalen Segelsport mit einem Blick auf das, was sich konkret beschreiben lässt: den Folgen und Folgerungen. Sie sind gravierend und weitreichend.
Für Kevin Escoffier, den Beschuldigten, dessen Sanktionen vom französischen Seglerverband FFVoile aufgrund schwerer Verfahrensfehler sämtlich aufgehoben werden mussten, war es der tiefstmögliche Fall.
Der bloße, bis heute unbewiesene Vorwurf einer PR-Mitarbeiterin seines Sponsors, wonach er sie Mitte Mai in einer Bar in Newport bedrängt haben soll, reichte aus, seine bis dahin herausragende Karriere als Ingenieur und Skipper zu zerstören – und das binnen weniger Wochen, lange bevor die ersten Zeugen gehört oder der Untersuchungsbericht der Disziplinarkommission der FFVoile vorgelegt worden wäre. In einer Zeit also, in der für ihn wie für jeden anderen die Unschuldsvermutung hätte gelten müssen.
Escoffier war von heute auf morgen arbeitslos. Sein Sponsor Holcim – PRB stellte sofort alle Zahlungen an ihn ein; später verklagte der Schweizer Baustoffkonzern den Ausnahme-Skipper sogar auf Schadenersatz wegen des entstandenen Imageschadens. Der Franzose musste alle Teammitglieder entlassen und abfinden, die in seiner Firma angestellt waren. Selbst auf den Kosten für das Ersatzrigg, das er nach dem Mastbruch auf Etappe vier des Ocean Race nach Newport hatte verschiffen lassen, blieb er sitzen.
“Im Gegensatz zu anderen Sportarten kann kein Sportler und kein Segelteam seinen Sport ohne einen Sponsor ausüben, da die Finanzierung des Hochseesegelns so entscheidend ist.
Dieses System bringt den Skipper zwangsläufig in die wirtschaftliche Abhängigkeit des Sponsors, aber nicht nur das: Es ist klar, dass neben den Finanzen auch die sportliche und berufliche Karriere des Skippers de facto unter dem Joch des Sponsors steht: kein Sponsor, kein Boot, kein Team, keine Rennen. Alles kann von einem Tag auf den anderen vorbei sein. Genau das ist Kévin Escoffier widerfahren.
Als er wegen sexueller Übergriffe angeklagt wurde, hat der Sponsor ihn sehr schnell ausgebootet und den Sponsoringvertrag gekündigt, um sein Image so weit wie möglich zu wahren. Ungeachtet der Anfechtungen von Kévin Escoffier, ungeachtet der Unschuldsvermutung, ungeachtet der persönlichen Konsequenzen für den Skipper zählten nur die finanziellen Einsätze und die Medienpräsenz.
Kevin Escoffier hat nicht nur alles verloren, Vertrag, Einkommen, Karriere ..., sondern der Sponsor hat ihn auch noch erheblich verschuldet zurückgelassen und weigert sich, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Wir erinnern uns: Auf der vierten Etappe von Itajaí (Brasilien) nach Newport (USA) erlitt der Imoca ‘Holcim PRB’ als Führender in der Gesamtwertung Mastbruch.
Auf Anweisung des Sponsors hatten Kévin Escoffier und seine Firma Esco Voile in aller Eile ein Ersatzrigg organisiert und alle damit verbundenen Kosten im Voraus bezahlt. Holcim PRB weigert sich bis heute, diese Kosten zu erstatten, so dass Kevin Escoffier mit mehr als 800.000 Euro verschuldet ist. Dies ist eine besonders problematische Situation, umso mehr, wenn die Athleten keine Kontrolle über die Bedingungen ihrer Partnerschaft haben und - auch hier aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Sponsor - ihre Verträge nicht richtig aushandeln konnten.“
Um die Forderungen bedienen zu können, verkaufte Escoffier sein Haus. Das Geld für seine Verteidigerin musste er sich von seinen Eltern leihen. Denn Arbeit fand er in der französischen Hochseeszene, zu deren kompetentesten und erfolgreichsten Aktiven er zählt, bald nicht mehr.
Es war, als hätte ich jedes Existenzrecht verwirkt.“
Das sagte Escoffier im Gespräch mit der YACHT vorigen Herbst. Im Gespräch mit „Le Monde“ beschrieb er seine Situation so: „Es ist aus und vorbei, ich werde keinen Job im Hochseerennsport mehr finden, auch wenn meine Unschuld anerkannt wird".
Eben noch der Über-Skipper im The Ocean Race, gefeierter Vendée-Teilnehmer, einziger Segler, der die aktuellen 24-Stunden-Rekorde sowohl für Einrumpfyachten als auch Mehrrumpfer hält, und dann: Endstation Me-too.
Was für einen überführten und verurteilten Täter zwangsläufig wäre, erlebte der 44-jährige aus Larmor Plage, kaum dass der Präsident des Seglerverbands Untersuchungen in der Sache angekündigt hatte: die Höchststrafe lange vor Verfahrenseröffnung.
Auch die Medien haben ihren Anteil an der Entwicklung. Wegen der Prominenz des Beschuldigten und weil sexualisierte Gewalt in den vergangenen Jahren zu einem hoch emotionalen Dauerthema geworden ist, erfuhr der Fall eine frühe Skandalisierung.
Gerüchte und üble Nachrede wurden teils als Fakten präsentiert, eidesstattliche Versicherungen unhinterfragt übernommen und als Indizienkette präsentiert. Blogger, auch hiesige, verstärkten die Reichweite solcher Veröffentlichungen durch unreflektierte Übernahme.
Besonders ein Bericht des „Le Canard Enchainé“ ist dabei interessant. Denn darin zeichnet das Satiremagazin, vergleichbar mit der deutschen „Titanic“, am 14. Juni, nur elf Tage nach dem Rücktritt Kevin Escoffiers von seiner Position als Holcim-PRB-Skipper, erstmals das Bild eines Serientäters.
Die geäußerten Vorwürfe, erhoben unter dem Deckmantel der Anonymität, bringen Escoffier noch mehr in die Defensive. Drei Frauen und ein Mann werfen ihm weitere Übergriffe vor. In Frankreich schlägt die Veröffentlichung hohe Wellen, aber nicht nur dort. Die Tageszeitung „Ouest France“ spricht von einer „Bombe“ und nennt die Anschuldigungen „vernichtend“.
In dem Bericht wird eine der Frauen mit den Worten zitiert: „Mir war nicht bewusst, dass andere ebenfalls sexuelle Belästigungen oder gar Übergriffe erlebt haben könnten. Aus Solidarität mit den Opfern und damit sich das Verhalten der Männer in diesem Sport ändert, habe ich mich entschlossen, mein Zeugnis abzulegen.“
Was zu diesem Zeitpunkt niemand weiß: Die Aussagen sind teils verkürzt dargestellt und lassen wichtige Aspekte bewusst aus. Die Zitate wie auch der gesamte Bericht sind in einer Diktion gehalten, die einer klaren Täter-Opfer-Perspektive folgt.
Und es sind exakt diese Vorwürfe sowie der angebliche Vorfall in Newport, auf die sich später der Seglerverband bei der Begründung seiner Sanktionen stützt – obwohl kein einziger davon zweifelsfrei beweisbar ist, zwei durch Zeugenaussagen sogar widerlegt werden.
Dass die Faktenlage tatsächlich äußerst dünn ist, war dem Verband fraglos bewusst. Trotz der medialen Treibjagd fand sich bis heute keine einzige weitere Zeugin. Im Herbst richtete die FFVoile eigens eine Online-Adresse für die Meldung von sexualisierter Gewalt im Segelsport ein. Auch dies ohne neue Erkenntnisse in der Causa Escoffier.
Und es folgte ein weiterer Versuch, die Vorwürfe zu erhärten. Eine Reihe Aktiver und Manager, darunter auch Holly Cova, Direktorin von Boris Herrmanns Team Malizia, formulierte im September einen offenen Brief gegen die angebliche „Omerta“, die über solchen Taten liege, weil sich Opfer in der Seglerszene nicht trauten, Vorfälle anzuzeigen.
Die Aktion bezog sich explizit auf die „Affäre Escoffier“ als Beispiel. Die Disziplinarkommission veröffentlichte ihren Bericht jedoch erst einen Monat danach; es fehlte zu diesem Zeitpunkt also jeder gerichtsfeste Beweis, dass es in Newport zu einem Übergriff gekommen war; und wie inzwischen klar ist, fehlt er bis heute. Nur eine weitere von zahllosen Vorverurteilungen.
Diese Instrumentalisierung hat niemanden härter getroffen als Kevin Escoffier. Doch zieht sich sein Fall bis weit hinein in andere Bereiche des Hochseerennsports. Es hat eine regelrechte Lagerbildung stattgefunden, die quer durch ganze Teams geht.
Zahlreiche prominente Skipper und Skipperinnen, Techniker und Preparateurinnen mochten sich nicht unter ihrem vollen Namen zu den Vorkommnissen äußern - aus Sorge um ihre Karrieren und aus Furcht vor Vereinnahmung durch die Medien. Wer es dennoch tat und entlastende Aussagen zu Gunsten von Escoffier machte, musste im eigenen Segelteam mit Repressalien rechnen – und das ausgerechnet in einem Sport, der sich bislang stets der Kameradschaft und gegenseitigen Hilfe verpflichtet fühlte.
Es ist, man muss das so sagen, etwas zerbrochen über dieser Auseinandersetzung, das schon länger Risse hatte. Streng genommen sind es zwei Entwicklungen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und doch zusammen kulminiert sind.
Da ist, zum einen, der noch immer überwiegend männlich geprägte Sport, der sich stets schwer tat damit, sich gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen, der Frauen lange fern hielt aus den Vereinen, mindestens aber den Funktionsebenen, an dessen Clubtresen heute noch Schenkelklopfer zum Besten gegeben werden, die anderswo allenfalls Befremden auslösen würden.
In diesem Ökosystem fernab von Wokeness stehen heute, zum Glück, Frauen am Ruder, fordern Respekt, Gleichberechtigung und die Sicherheit, dass sie niemand befummelt oder mit Zoten und Schlimmerem bedrängt. Es ist ihr gutes Recht und eine Selbstverständlichkeit. Doch so dynamisch sich die Seesegelszene auch entwickelt, so sehr treffen Frauen immer wieder auf Sprüche und Gesten von vorgestern. Auch deshalb wird der Kampf gegen Übergriffe teils so vehement geführt, mit beinahe religiösem Eifer.
Die andere, davon losgelöste Entwicklung ist die fortschreitende Professionalisierung und Kommerzialisierung des Sports. Insbesondere in Frankreich, und insbesondere in der seit zwei Jahrzehnten boomenden Imoca-Klasse, werden inzwischen Unsummen bewegt. Jahresetats von fünf bis acht Millionen sind bei den Top-Teams heute üblich. Der Kampf um Sponsoren, Talente, Budgets, Konstrukteure, Bau- und Startplätze hat sich intensiviert.
Was einmal ein Haufen gleichgesinnter Verrückter war, arbeitet inzwischen mit Planungstools aus der Industrie und unter einem Ergebnis- und Erwartungsdruck, der immens zugenommen hat. Es ist kein Zufall, dass zuletzt eine Indiskretion die andere jagte. Das war bei der „Affaire Cremer“ so, als der Rennstall Banque Populaire seine Skipperin ausbooten wollte. Das war in der „Affaire Escoffier“ so, an der sich Verband, Kollegen, Medien und Sponsor abarbeiteten.
Vielleicht kein Wunder, dass es den 44-jährigen so hart traf. Er gab das ideale Opfer für einen Me-too-Skandal ab: ein Mann auf dem Höhepunkt seiner Karriere, bewundert von Millionen, beneidet von vielen; erfahren, entschlossen, fokussiert, intelligent und obendrein höchst unterhaltsam. Selbst den Mastbruch im Südatlantik auf der Ocean-Race-Etappe zwischen Itajai und Newport meisterte er in einer beispielhaften Kommando-Aktion.
Doch er hat eine Achillesferse. Jeder in seinem näheren Umfeld weiß das, und er redet nicht lange drum herum: „Ich habe eine Schwäche für Flirts.“ Das hat ihn zwei Ehen gekostet, die letzte in Folge der öffentlichen Auseinandersetzung um die Anschuldigungen voriges Jahr.
Es fällt vergleichsweise leicht, einen Womanizer zum Schwerenöter zu deklarieren, ihm jeden Respekt für Frauen abzuerkennen. Doch gibt es eine klare Trennlinie. In Escoffiers Fall verschwamm sie freilich bis zur Unkenntlichkeit, weil er als Aufreißer von vornherein mit einem moralischen Makel behaftet war, umso mehr in einer Welt, die zwar freier lebt, aber zugleich engere Toleranzgrenzen setzt.
Diese Disposition hätte freilich nie dazu führen dürfen, ihn vorschnell in eine Ecke mit Sexualstraftätern zu rücken. Denn die Unschuldsvermutung gilt bis zum Nachweis des Gegenteils für jeden, ungeachtet seiner Freizügigkeit in Beziehungsfragen.
Seine Ex-Frau, Sabrina Millien, die sich vorigen Sommer von ihm trennte, erkannte ihn in dem Zerrbild der Medien nicht wieder. Deshalb zögerte sie keinen Moment, ihm bei der Rekonstruktion der Abläufe nach dem angeblichen Vorfall in der Fastnet-Bar von Newport zur Seite zu springen.
In einer Stellungnahme verwandte sie sich für ihn, beschrieb ihn als verlässlichen, respektvollen Familienmensch – ein bemerkenswerter Vorgang, wenn man bedenkt, dass sie die Beziehung zu ihm beendet hatte. Doch sie kann das eine vom anderen trennen. Er habe verdient, dass sie sich von ihm trenne, sagt sie, denn dafür trage er die Verantwortung, „nicht aber für das, was ihm öffentlich angelastet worden ist“.