Der Himmel mag so gar nicht zum Ereignis passen, das in die Segelszene eingehen wird. Er ist so grau wie das träge Wasser der Biskaya, auf dem „Minnehaha“ bedächtig Richtung Ziellinie treibt. Doch von Tristesse keine Spur, die Stimmung ist erwartungsvoll und emotional aufgeladen. Nach 233 Tagen allein auf See ist die Seglerin Kirsten Neuschäfer nun umringt von voll besetzten Booten, deren Passagiere diesen segelhistorischen Moment erleben wollen. Der Südafrikanerin mit deutschen Wurzeln ist der Sieg des Golden Globe Race 2022/23 nicht mehr zu nehmen. Zudem wird sie die erste Frau, die eine Solo-Regatta rund um den Globus gewinnt – und das ausgerechnet am Liberty Day ihres Heimatlandes. Glückwünsche und die ersten Fragen werden Neuschäfer zugerufen, während sie barfuß über das Deck tänzelt und den in der Flaute lustlosen Spinnaker einholt.
Da schallt ein Chor über das Wasser, angeführt von Jean-Luc van den Heede, französische Segellegende und Gewinner des ersten GGR vor vier Jahren. „Santiano“, ein französisches Seemannslied, das in der segelverrückten Grande Nation fast jedes Kind mitsingen kann. Dann ist es endlich so weit: Mit hochgestreckten Armen unter mittlerweile dunklem Abendhimmel kreuzt die lächelnde zierliche Frau die Ziellinie vor Les Sables-d’Olonne, dem Ort, wo die Retro-Regatta um die Welt vor knapp acht Monaten begonnen hat. Jenem Hafen, wo auch die Einhand-Profihatz um die Welt, die Vendée Globe, beginnt und endet. Abwechselnd bläst Neuschäfer ins Horn und posiert mit der südafrikanischen Flagge vor den Journalisten. Die Feier nimmt rasant Fahrt auf.
Nachdem Freunde und Teammitglieder aufgeentert haben, wird „Minnehaha“ in den berühmten Kanal geschleppt, dessen Flanken von begeisterten Segelenthusiasten gesäumt sind. „Kirsten, we love you“ und Bravorufe fliegen der neuen Königin des Offshore-Segelns zu. Demütig bedankt sich Neuschäfer für jeden Zuruf, bevor sie, mit einer roten Signalfackel ausgestattet, das Vorschiff einnimmt.
Am Vendée-Steg erfolgt die obligatorische Champagnerdusche und eine herzliche Umarmung mit der aus Südafrika angereisten Mutter, während die Boxen von der aufgebauten Tribüne es schon krachen lassen. Mit einem unverwechselbaren Akzent und getragen von der allgemeinen Euphorie stellt sich Neuschäfer souverän dem begeisterten Publikum und lässt sich feiern.
Don McIntyre, Initiator des Golden Globe Race, leitet die Pressekonferenz am nächsten Morgen ein: „Das GGR ist nicht nur ein Rennen um die Welt, es ist ein Spiel des Willens, das im Kopf stattfindet und über den Erfolg entscheidet. Van den Heede hat das mehrmals bestätigt, und auch Robin Knox-Johnston 1968, der trotz großer Probleme einfach nicht aufgeben wollte, weiß ein Lied davon zu singen. „Kirsten, du bist ein unglaubliches Rennen gesegelt, welches vier Jahre vorher begann, als du dich entschieden hattest, das GGR zu bestreiten. Deine Vorbereitungen waren exzellent.”
Am Ende des Tages hat deine mentale Stärke entschieden.“
Rückblick: Am 4. September 2022 startet Neuschäfer zusammen mit 15 männlichen Konkurrenten von Les Sables-d’Olonne aus zur zweiten Neuauflage des legendären „Sunday Times Golden Globe Race“ von 1968/69, welches Sir Robin Knox-Johnston damals für sich behaupten konnte. Die Regeln sind einfach und doch das größte Handicap: Erlaubt sind nur Fahrtenyachten aus Serienproduktion mit Langkiel, die vor 1988 konstruiert wurden und zwischen 32 und 36 Fuß lang sind. Dadurch soll eine Materialschlacht vermieden werden. Außerdem dürfen keine elektronischen Instrumente zur Navigation benutzt werden. Um den Retro-Charakter zu erhalten, wird die alte Schule mit Sextanten, Papierkarten und Schlepplog heraufbeschworen.
Im Starterfeld befinden sich größtenteils Amateure, die dem Ruf des Abenteuers gefolgt sind. Kirsten Neuschäfer hat zwar keine Regatta-Praxis, ist aber eine erfahrene Profi-Skipperin, die neben Überführungen auch für Abenteuer-Veranstalter Skip Novak Expeditionen in die Antarktis, nach Patagonien und zu den Falklandinseln geführt hat. Als Topanwärter für den Sieg gilt der Franzose Damien Guillou, der nicht nur ein gestandenes Regatta-Profil mitbringt, sondern auch über das größte Refit-Budget für seine Rustler 36 „PRB“ verfügt.
Der Auftakt verläuft zäh für die Südafrikanerin, aber sie segelt souverän mit Bedacht, während die Flotte sich selbst dezimiert. So strandet der US-Amerikaner Guy deBoer auf Fuerteventura, Edward Walentynowicz aus Kanada und der Australier Mark Sinclair geben bereits auf, und Guillou kämpft mit seiner Windsteueranlage, für deren Reparatur er bereits nach wenigen Tagen einen Boxenstopp zurück im Starthafen einlegen muss. In der Folge des Rennens wird die Ausfallquote höher als in der vermeintlich materialmordenden Vendée Globe.
Beim ersten Medienstopp auf Lanzarote (eine Art Drive-by-Sailing), den sie auf Platz sechs erreicht, wirkt die ehrgeizige Neuschäfer enttäuscht über den bisherigen Rennverlauf, obwohl sie schon einige Plätze aufgeholt hat. Anfang November erreicht sie den nächsten Medienstopp in der Bucht vor Kapstadt als Zweite, dicht gefolgt vom Finnen Tapio Lehtinen. Vor ihr liegt nur noch Simon Curwen, der allerdings ein perfektes Rennen fährt und sich nicht den kleinsten Fehler zu leisten scheint. Im Indischen Ozean, 460 Seemeilen östlich von Kapstadt, sinkt das Boot des Finnen innerhalb kürzester Zeit nach einer Kollision, er überlebt die nächsten 24 Stunden in seiner Rettungsinsel. Neuschäfer gelingt dann die spektakuläre Rettung ihres Konkurrenten.
Nachdem Lehtinen auf einen Frachter verholt wurde, geht die Hatz auf den Führenden Curwen weiter, ausgestattet mit einer Zeitgutschrift von 36 Stunden. Der Inder Abhilash Tomy, der ebenfalls zur Rettung unterwegs gewesen war und dem eine Gutschrift von zwölf Stunden zugesprochen wurde, wird Neuschäfer ab jetzt beständig im Nacken sitzen. Dicht zusammengerückt erreicht das Führungstrio Hobart auf Tasmanien in der gleichen Reihenfolge, bevor es zum Kap Hoorn geht.
1.200 Seemeilen vor dem berüchtigten Kap zerschmettert es Curwens Windsteueranlage bei einem Knock-down, woraufhin er einen Hafen in Chile ansteuern muss, um die essenzielle Steuerhilfe zu reparieren – auch wenn es für den bisher stets Führenden das Aus in der Golden-Globe-Wertung bedeutet. Somit springt Neuschäfer auf Platz eins und rundet auch als Erste das Hoorn. Den ganz schweren Stürmen entwischt sie, härter trifft es Tomy und später auch Ian Herbert-Jones, der mehrere Stürme mit bis zu 60 Knoten Wind trotzen muss und notgedrungen einen Landgang in Südpatagonien einlegt; er fliegt ebenfalls aus der Wertung.
Es folgt ein Zweikampf zwischen dem Inder und der Südafrikanerin, der beiden nervlich und körperlich alles abverlangt. Während Neuschäfer einen deutlich östlicheren Kurs den Atlantik hinauf wählt, geht Tomy auf einen Nordkurs. In den Doldrums hängt die Abenteurerin endlos lange fest, während der ehemalige Offizier der indischen Marine immer weiter aufholt und kurzzeitig sogar führt.
Ein Herzschlagfinale bahnt sich an, und Erinnerungen werden wach an den Zieleinlauf der letzten Vendée Globe, die Yannick Bestaven aufgrund einer Zeitgutschrift gewann, obwohl Charlie Dalin als Erster im Ziel angekommen war. Doch nun setzt Neuschäfer zu einem fulminanten Endspurt an, der sie mit komfortablem Vorsprung zur Ziellinie führt. Lediglich Simon Curwen kam vorher im französischen Segel-Mekka an – allerdings nur in der Chichester-Wertung aufgrund seines Reparaturstopps.
Die ersten Nächte nach dem Zieleinlauf verbringt der neue Offshore-Star Kirsten Neuschäfer nicht im Hotel, sondern wieder auf „Minnehaha“, ihrem Zuhause und Zufluchtsort, wo sie wieder geschützt und alleine sein kann, wenn ihr der Trubel zu viel wird. Auf den Stegen des Hafengeländes von Port Olona kann die Singlefrau keinen Schritt machen, ohne von Menschen umringt zu sein und für Autogramme und Selfies herzuhalten. Als die Siegeseuphorie langsam verfliegt und die Müdigkeit einsetzt, merkt man ihr an, wie ihr das zunehmend schwerer fällt. Die toughe Abenteurerin und Weltumseglerin wirkt auf einmal angreifbar. Aber sie kämpft und beantwortet jede Anfrage mit einem Lächeln.
Wir dürfen für ein kleines Gespräch unter vier Augen an Bord ihrer schwimmenden Festung kommen, wo wir uns auf Deutsch unterhalten. Neben einem gemalten Landschaftsbild aus Südafrika und einigen Grußkarten fällt eine große, aus Holz geschnitzte Kompassrose auf, die neben der gut gefüllten Bordbibliothek hängt. Ein Geschenk von ihren kanadischen Gasteltern auf Prince Edward Island, wo Kirsten das Schiff für das GGR vorbereitete. Oben die Koordinaten des Hafens im hohen Norden, unten die ihres Heimathafens in Südafrika. So sollte es ihr immer möglich sein, einen Weg nach Hause zu finden. Im Bücherschapp finden sich unter anderem Segelklassiker wie Bernard Moitessiers „Der verschenkte Sieg“ auf Französisch, aktuellere Weltumsegelungsbücher wie das von Tapio Lehtinen auf Finnisch oder auch Jean-Luc van den Heedes Buch über sein GGR vor vier Jahren.
Die Cape George 36 ist ein Langkieler mit Kuttertakelung und basiert auf William Atkins Design der „Tally Ho Major“ aus den 30er Jahren. Die GFK-Version wurde ab 1979 von Cecil Lange & Son in Port Townsend, USA gebaut und vereint wie das historische Vorbild traditionelle Ästhetik, Seetüchtigkeit und gute Segeleigenschaften in allen Wetterlagen. Optisch prägnant sind das hohe Schanzkleid, das lang gezogene Deckshaus und der lange Bugspriet mit Wasserstag. Laut Regularien des Golden Globe Race dürfen die teilnehmenden Boote maximal 36 Fuß lang sein, Bugspriets oder Aufhängungen für die Windsteueranlage werden jedoch nicht mitgerechnet. Kirsten Neuschäfer suchte eine Cape George 36 für die Retro-Regatta und wurde schließlich in Neufundland fündig. Das Refit fand auf Prince Edward Island statt, wo „Minnehaha“ verstärkt und unter anderem der Mast, der Bugspriet und die Verkabelung ausgetauscht sowie zusätzliche Bilgenpumpen eingebaut wurden. Für die Teilnahme durfte nur Equipment und Technologie aus den 60er Jahren verwendet werden.