Viele Wege führen hinunter in den Vieux Port von Saint-Tropez. Dabei ist „Magic Carpet e“ nie zu übersehen. Der Orientierung als Anker dient der weiße Masttopp, der selbst aus den schmalen Gassen heraus stets auszumachen ist. Die 46 Meter lange Carbonspiere überragt sogar den Kirchturm der Notre-Dame-de-l’Assomption. „Magic Carpet e“ ist die einzige Yacht, die in der Saison ununterbrochen im Vieux Port liegen darf.
Es begrüßt Kapitän Danny Gallichan. Der gebürtige Jersey-Insulaner kam für die dritte Nioulargue, die Vorläuferin der Regatta Les Voiles, auf „Mistress Quickly“ in den Fischerort. Hier lernte er Sir Lindsay Owen-Jones kennen, der mit ihm Mitte der 1990er-Jahre die erste „Magic Carpet“ baute, das 77-Fuß-Schwesterschiff der legendären Wally „Genie of the Lamp“. Es folgten zwei Wallys in 94 und 100 Fuß, stets stark modifiziert. Gallichan empfängt im Cockpit des neuen Carbonbaus und sagt über deren Entstehung: „Wir waren fast jeden Winter mit einem Projekt zur Verbesserung oder Umrüstung beschäftigt. Aber diesmal ist der Schritt nach vorne größer als alles, was wir bislang in Angriff genommen haben.“
Mast mittschiffs, langer Neigekiel und krasse Kimmkante. „MCe“ wirkt wie ein domestizierter Imoca-Racer – zunächst.
Zuletzt segelte der langjährige CEO von L’Oréal zwölf Jahre auf „Magic Carpet 3“ („Cubed“), einer 100-Fuß-Wally. Nach Jahren des gemeinschaftlichen Regattierens setzte das Wettrüsten ein, an dem sich auch Owen-Jones beteiligte. Modifikationen nahmen extreme Ausmaße an, komplette Interieurs verschwanden. Nur beim Kiel war Schluss, die Box Rule verbot Neigevarianten.
Vor sechs Jahren fing das „Magic Carpet“-Team an, über eine höher entwickelte Segelbasis nachzudenken. Die Maßgabe, darauf für ein, zwei Wochen wohnen zu können, behielt Owen-Jones bei. „Allmählich entstand die Idee einer radikaleren Abkehr vom Status quo. Wir setzten uns mit Guillaume Verdier in Verbindung.“
Die Vorgaben für Maxiyacht Nummer vier aus der Flotte der „Fliegenden Teppiche“ waren eindeutig: die schnellste 100-Fuß-Yacht, um bei zehn bis zwölf Knoten vor Porto Cervo up and down und um die Inseln zu segeln, und das mit einem vernünftigen Rating. Der Weg dahin war eine Reise vom Extremen zum Mach und Nutzbaren: Erst nach dem 50. Vorschlag Verdiers zeigte sich Owen-Jones zufrieden. Acht weitere Iterationen folgten, ehe der finale Riss über die Bildschirme flimmerte. Owen-Jones erinnert sich: „Ich wusste, dass das Design aufregend sein würde, aber als wir die Renderings sahen, war es Liebe auf den ersten Blick. Und so viel moderner und Geschwindigkeit ausstrahlend, sogar vor Anker.“
Verdier blieb innerhalb der Grundparameter der Vorgängerin: 30,48 Meter Länge und 7,20 Meter Breite. Der Mast steht mittschiffs an Deck, und darunter schwingt der Kiel bis zu 45 Grad nach Luv aus. Den Freibord prägen eine Kimmkante unten, ein Spray Rail mittig und eine verjüngende Fase oben. Das Deck – mit Kork statt Teak – macht einen negativen Sprung, fällt vorn wie achtern dramatisch ab. Man ist leicht versucht, in „Magic Carpet e“ eine domestizierte Imoca zu sehen. Verdiers Mitarbeiter Hervé Penfornis winkt an Deck stehend ab. Rigg und Unterwasserschiff unterschieden sich massiv, da der Rumpf weder abhebe noch auf über 20 Knoten Wind optimiert sei.
Die bretonischen Konstrukteure berücksichtigten auch gestalterische Aspekte. Projektmanager Penfornis reagiert auf den fragenden Blick auf die konkaven Vertiefungen der Genuaschienen mit: „Ein schierer Look war uns wichtig, auch der Aero-Aspekt und das Mehr an Segelfläche. Der Deckssprung sollte nicht durch einen Block unterbrochen werden, der die Schiene emporgehoben und eine Stolperfalle bedeutet hätte.“ Ähnlich verhält es sich mit der „Delle“ im Vordeck, die dem Bowman Halt gibt, vorrangig aber die Decksstruktur versteift.
Erheblich forderte die Leichtwind-Zielvorgabe heraus: „Man muss in Wirklichkeit sehr gut bei sieben bis acht Knoten sein. Das war einer der Faktoren, die uns zum Rigg mit hoher Streckung trieben“, präzisiert Verdier. Überhaupt reizte er die Segelfläche maximal aus; exemplarisch ist der abgesenkte Großbaum für ein extrahohes P-Maß. Wiederum hat bereits das an diesem Tag gesetzte Vorsegel (J2) ein deutlich längeres Unterliek als das Groß. So erzeugt das North-Laminat erhebliche Lasten, das Backstag zerrt während des Probeschlags mit nahezu 18 Tonnen am Heck. Dennoch baute Persico den 100-Fußer mit 37 Tonnen ganze zehn Tonnen leichter als die vorherige Vollcarbon-Konstruktion gleichen Volumens.
CEO Marcello Persico ordnet ein: „Es ist das revolutionärste Schiff, das die Maxi-Szene seit mehr als einem Jahrzehnt bereichert hat. Wir sind an dieses Projekt herangegangen wie an eine Yacht für den America’s Cup oder eine hochmoderne TP52.“ Dazu gehörte der Einsatz einer Automated Tape Laying Machine (ATM) aus der Luft- und Raumfahrtindustrie, die noch nie bei einer Yacht dieser Größe mitgeholfen hatte. Abgesehen vom Laminieren des Rumpfes fertigte Persico alle Teile mit der ATM. Der multiaxial arbeitende Roboter verbrauchte weniger Material, legte die Prepreg-Fasern präziser und um Kurven herum. Von der ersten Güte der Oberflächenqualität zeugten im fertigen 100-Fußer freiliegende Strukturen, die keinerlei Nachbehandlung durch Menschen bedurften.
„Mich inspirierten klassische Bilder von Raketen, bei denen alles auf Funktionalität und präzises Gewicht ausgelegt ist.“
Ehe das Projektteam jedoch einen Schritt in Richtung Formenbau unternahm, musste es Stahl ordern. An diesem Punkt kommt die Wendung „auf Kiel legen“ wörtlich zum Tragen, bei einem Kompositbau eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Statt um Schweißen oder ein Glück bringendes Münzstück ging es darum, den Edelstahl für die knapp sieben Meter lange Kielfinne im Hochofen zu schmelzen und danach in die profilierte Form zu gießen.
Kaum neue Gesichter gibt es in der Race-Crew, obschon der vollständige Wechsel auf Roll-Vorsegel und auf sechs statt acht Winschen die Anzahl von 28 auf 22 Personen reduzierte. Auf dem Golf de Saint-Tropez wird bei zehn Knoten Wind und ebenso hohem Boatspeed das Setzen des Gennakers vorbereitet. Ab den Wanten beginnt der „spanische Sektor“: Zwei der Profis, Pecas und Neti, matchten sich noch beim Sydney Hobart Race auf den schnellsten 100-Fußern. Sonst sind die Nationen durchmischt. Am Klavier steht mit Axel ein Belgier und Amateur, der wie die meisten seit über einem Jahrzehnt mit „Sir Lindsay“ segelt. Tief in der Bucht angekommen, gerät Student Willie ins Schwitzen beim Bergen des A2, der aufgerollt und einer wild mäandernden Anakonda gleich auf acht Hände herunterrasselt.
Stewardess Margeaux platziert Fallen und Schoten in Achten auf den Duchten, Urgestein Adrien Savary aus Mougins bei Cannes weist auf der ungewöhnlich runden Kante auf einen weiteren Furling-Vorteil hin: Zuvor bereiteten den 1.000 Quadratmeter großen Gennaker unter Deck vier Personen in einer schweißtreibenden, zwölf Minuten langen Packprozedur vor. Jetzt wird auch in Halsen stets eingerollt. Wenn dies zu schnell und unsauber geschieht, kann es zu einer Eieruhr beim dann stockenden Ausrollen, kommen.
Slack im Vorstag begegnete man über eine kombinierte, eigens mit Rigging Projects entwickelte Variante aus Furlern und Fallenschlössern, die streckenweise die volle Last tragen. Neu im Team ist der Italiener Francesco de Angelis, der Jochen Schümann als Taktiker ersetzt und Ruder geht, wenn Sir Lindsay pausiert. Was selten vorkommt. Fürs gute Gefühl am Rad wechselte er sogar bei der Vorgängerin von Doppel-auf Einzelruder. Entsprechend wichtig war ihm die Steuerung: „Es ging nicht nur um Prägnanz, Rückmeldung und überschaubare Lasten, sondern um einen wesentlichen Teil des gesamten hydrodynamischen Auftriebs. Und Widerstands! Also um lange wie dünne und vorzugsweise vertikale Doppelruder. Idealerweise mit nur einem im Wasser.“ Die dolchartigen Vier-Meter-Blätter steuern Kabelzüge ohne Hydraulik an, sollten aber nicht am Heckspiegel aufgeholt werden. „Daher die Zylinder mit Hebesystemen, die ein typisches Merkmal von ‚Magic Carpet e‘ sind.“
Über das vielschichtige Treiben unter Wasser informiert eine Kamera. Sie dokumentiert die komplexe Choreografie des dreifachen Kiel-Klappmechanismus. Sobald die Hafenmauer achteraus ist, dreht Captain Danny bei und lässt die Muskeln der Hydraulik spielen. Nun neigt sich die Kielfinne nicht wie sonst zu den Seiten, sondern nach achtern um 60 Grad. So weit, so bekannt von kleineren Yachten. Der Unterschied besteht darin, dass auch ein Kolben in der Kielbombe sitzt und die Bleispindel mit Wasserdruck um etwa 45 Grad nach vorn bewegt. So schmiegt sich die gesamte von Cariboni gefertigte Einheit enger an das achterliche Unterwasserschiff, und der Tiefgang sinkt von 7,10 (!) Meter auf 4,60 Meter. Eine Maßnahme, um weiterhin im Heimathafen von Saint-Tropez liegen zu können.
Eine Kombination aus Lift- und Canting-Kiel gab es bereits, war aber aufgrund der schweren Struktur mit hohem Schwerpunkt keine Option für Guillaume Verdier. Allerdings erforderte der Neigekiel ein Canard, ein profiliertes Schwert, das sich um einige Grad um die Längsachse dreht und – das gab es so noch nicht – wie der Kiel dahinter für mehr Auftrieb ebenfalls zur Seite ausschlägt. Zwischen Canard und Kiel platzierte Verdier den Mast nahezu in der Mitte des Decks: „Die Konfiguration aus großen Vorsegeln und mehreren Vorstagen funktioniert besonders gut mit Neigekiel und Canard.“
„Am Rad ging es nicht nur um die Rückmeldung, sondern auch um einen wesentlichen Teil des Auftriebs.“
Fortwährendes Bewegen von Kiel und Segeln peitschte die Anforderungen an das Hydrauliksystem hoch. Hier kommt das „e“ im Yachtnamen ins Spiel, das zuvorderst für Electric steht. Projektmanager Ed Bell bittet unter Deck und eröffnet mit: „Hydraulik ist immer noch am effizientesten. Kombiniert man sie mit elektrischer Energie, wird es noch effizienter.“
Bell führt in einen klinisch reinen Raum neben der Kiel-Neigevorrichtung aus Titan. So muss der Geräteraum einer tatsächlichen Rakete aussehen. Im Zentrum steht ein Zwei-Meter-Turm mit zwei Hochvolt-E-Motoren als Basis. Die kompakten Kraftpakete treiben zwei Sätze Hydraulikpumpen an und kamen Vorschiff-Ballett: Wie alle Vorsegel wird der A2 gefurlt und am Stag geführt gesetzt. Auf dem flachen Bug steht der Vorschiffsmann auf konkavem Korkdeck sicher. von Helix, die mit geringen Leistungsgewichten Kunden aus dem Motorsport und der Luftfahrt ansprechen. Owen-Jones ist als begeisterter Rennfahrer bekannt. „Sir Lindsay, Danny und ich wollten das Hybridprojekt nur realisieren, wenn es die gleiche Leistung wie die thermische Option erbringt. Die entwickelten wir auf dem Papier und verwendeten statt eines V12-Dieselaggregats diese dreistufigen E-Motoren, die jeweils 38 Kilogramm wiegen.“
Eine Hydropumpe bewegt Kiel, Fock und Großschot und die andere den Rest. Wobei auch eine einzelne den gesamten Betrieb stemmen kann. Bell, der seit 2010 im Team ist, beleuchtet einen weiteren Vorteil: „Mit 700 Volt konnten wir das Gewicht reduzieren, weil bei steigender Spannung die Stromstärke sinkt und die Kabel kleiner werden.“ Über ein handliches 20-Kilowatt-Ladegerät füllt sich der Stromspeicher mit Hafenstrom in etwa fünf Stunden. Die insgesamt 500 Kilogramm leichten Lithium-Ionen-Akkus mit einer Gesamtkapazität von 107 kWh lieferte Williams Advanced Engineering (jetzt Fortescue Zero), der offizielle Batterie-Lieferant der Formula E. Ed Bell hat noch eine Überraschung parat und zeigt auf einen Gleichstromwandler von der Größe einer dicken Computer-Tastatur: „Dieses kleine Ding wiegt sieben Kilogramm und wandelt 700 Volt in 24 Volt. Die Leistung von zehn Kilowatt entspricht der eines Fischer-Panda-Generators.“ Bei vollen Batterien könne man damit vor Anker die ganze Nacht die Klimaanlage laufen lassen.
Während der Überführung vom italienischen La Spezia nach Saint-Tropez segelte man 16 Stunden mit vielen Manövern und lief mit einem Akkustand von 28 Prozent im Vieux Port ein. Dennoch ist ein Range Extender an Bord, der mit seinen 150 Kilowatt die Akkus unter Volllast in 40 Minuten auflädt oder im „Safe to Port“-Modus den E-Motor der ausfahrbaren Antriebseinheit nahezu direkt versorgt. Trotz Batterien komme das Gesamtsystem im Vergleich zum Verbrenner auf das gleiche Gewicht. Das Team zog sogar in Betracht, die Winschen elektrisch zu betreiben, aber dann müsste man mit 700-Volt-Motoren und sehr hohen Spitzenleistungen arbeiten. Und: „Die Trimmer wollen im Allgemeinen dieses weiche Gefühl, das einem Hydraulikkolben geben“, weiß Ed Bell zu berichten.
Neben Auftritten bei Mittelmeer-Klassikern wie Giraglia, Maxi Cup und dem Heimspiel zu den Les Voiles de Saint-Tropez stehen wie gehabt kleine Mittelmeer-Runden und Tagestörns an.
Das nur zwei Tonnen leichte Interieur fertigte Persico nach Vorstellungen von Axel de Beaufort, der auch für Maison Hermès arbeitet. „Axel kam mit einem fantastischen Konzept, das ursprünglich von den ovalen Türen ausging, die strukturell stärker und leichter sind als eine normale, abgewinkelte Tür“, berichtet der Eigner begeistert.
Der Franzose sprach auch außen mit bei Deckform, Farbschema und Steuer ständen. „Mich inspirierten klassische Bilder von Raketen, bei denen alles auf Funktionalität und präzises Gewicht ausgelegt ist“, sagt der studierte Schiffbau-Ingenieur Beaufort. Die perfekte Kombination aus Form und Funktion fand er auch bei englischen Oldtimer-Sportwagen: „In den Cockpits dieser Autos finden sich oft Lederoberflächen – aber nur dort, wo es nötig ist, und exquisit ausgeführt. Die Navi-Station ist ein gutes Beispiel dafür.“ Leder von Hermès findet sich auch an den Betten der drei Doppelkabinen.
Raumschots gab es mit J2 bis zu 20 Knoten Speed bei rund 18 Knoten Wind. Stets fühlte es sich wie auf Schienen an. Dabei glitt die Verdier-Konstruktion regelrecht über die kleine See; statt einzutauchen, dippte sie kurz ins Wellental und quittierte das mit etwas Gischt, die der mittlere Chine auffächerte. Guillaume Verdier ordnet ein: „Ein leichtes, schmales Boot mit unverzerrter Rumpfform und ein von der Vorderseite des Bootes erzeugtes auf-richtendes Moment sind einige der wichtigsten Leistungselemente.“
Ed Bell zeigt sich im Hafen zufrieden über den Ladezustand der Akkus: 57 Prozent, wobei Danny Gallichan Kiel, Canard und Ruderblätter per Fernbedienung verstellte. Sobald sie genügend Daten gesammelt haben, könnte die Bewegungen der drei Anhänge ein Algorithmus dirigieren. Speed hoch, Verbrauch runter. So muss der Kiel etwa raumschots im Vollglitsch nicht auf vollen 45 Grad parken. Oder kann bei flauer Brise Lage erzeugen, um auf den optimalen Krängungswinkel zwischen 25 und 30 Grad zu kommen.
Projektmann Bell und Kapitän Gallichan könnten sich vorstellen, dass das Dieselaggregat in den nächsten Jahren gar von Bord kommt. Die Voraussetzungen für einen minimalinvasiven Ausbau wurden vorsorglich geschaffen. Sir Lindsay Owen-Jones resümiert : „Das elektrische System hat Guillaume in einen echten Leistungsvorteil verwandelt.“