Von Konstruktionsseite haben moderne Segelyachten eine Entwicklung eingeschlagen, die sich sowohl positiv auf den Komfort als auch auf die Segelleistung auswirkt. Im Zehn-Jahres-Vergleich sind die Wasserlinien deutlich länger, die Breiten größer geworden, und vor allem laufen die Hecks wesentlich ausladender aus. Die Linien der Grand Soleil 72 Performance bilden in diesen Punkten keine Ausnahme, sie münden achtern nahezu in der breitesten Stelle. Daraus ergibt sich vor dem Spiegel viel Raum für einen großen Tender sowie geräumige Gäste- und Crew-Quartiere.
„Polli-Heck“ nennt es Dines Pontoppidan, Grand-Soleil-Händler von Diamond Yachts aus Laboe. Typisch für die Entwürfe von Matteo Polli ist eben auch die dramatische Einschnürung zur Wasserlinie hin. Sie reduziert die benetzte Fläche und damit den Widerstand, gleichzeitig erhöht die hohe Breite im Freibord die Formstabilität. Achtern treffen zwei krass unterschiedliche Formen aufeinander: Der Umriss des Decks verläuft ähnlich wie eine Chianti-Flasche, die Wasserlinie hingegen wie die zierliche Flasche eines Grappa. Allerdings kommen Pollis Badewannen-Hecks ohne Kimmkanten aus und verzichten auf Doppelruderanlagen. Den italienischen Konstrukteur zieht Grand Soleil auch für die kleineren Performance-Modelle zurate. Bekannt geworden ist Matteo Polli als Meister der Anpassung an die Vergütungsformel ORC. Seine Entwürfe ersegelten reihenweise Meriten auf den Regattabahnen, zuletzt die Grand Soleil 44P bei der ORC-WM in Kiel. Neben seinen Auftragsarbeiten für Werften optimiert er auch ältere Yachten auf ORC.
Von oben sieht das Deck wie eine Chianti-Flasche aus, auf Höhe der Wasserlinie wie die eines Grappa
Während die 2019 gewasserte Grand Soleil 80 „Essentia“ noch ein Einzelbau aus Vollcarbon war, bildet die Grand Soleil 72 das Flaggschiff der Serienpalette. Für Grand Soleils Maxi-Linie zeichnet Franco Corazza als Projektmanager verantwortlich. Der ehemalige Segelprofi vertrat 15 Jahre lang X-Yachts in Italien, ehe er Italia Yachts mitgründete und ihn Grand Soleil im Juli 2020 bat, Boote von 60 bis 80 Fuß zu entwickeln. „Die 72 ist unser erstes Baby“, sagt Corazza an Bord der ersten Baunummer „PantaRei“. Mit im Boot war Massimo Gino von Nauta Design. Der Gestalter erinnert sich an die Entstehung: „Während der Genoa Boat Show blickte ich mit Franco auf die 44, die sehr sexy aussieht. Wir überlegten, wie wir diese sportlichen Rumpflinien auf 72 Fuß übertragen könnten.“
Der Auftrag an Gino und sein Mailänder Gestalter-Team lautete: sportlich-aggressiv und gleichzeitig elegant. Grand Soleil nennt es eine „italienische Ästhetik“. Die von Massimo Gino angesprochene Attraktivität spiegelt sich zweifelsfrei im ultraflachen Aufbau wider. Das Kajütdach, das es von Nauta Design in dieser Konsequenz noch nicht gab, geht in ein breites Süll über, das mit je drei Oberlichtern gespickt ist und in einer komfortablen Sitzposition für den Rudergänger ausläuft. Der Blick aus dem Seitenfenster bleibt frei, da die Schiene der minimal überlappenden und hydraulisch gerollten Genua auf dem Aufbau neben dem
Carbonmast sitzt. Die Schot verschwindet in einem Rohr, das zugleich Festhaltemöglichkeit ist. Die Segelgarderobe komplettieren Selbstwendefock und ein Code Zero. Der Cruising-Anspruch der „PantaRei“-Eigner drückt sich in Rod-Rigg, Alu-Baum, dem Verzicht auf einen Traveller und in einem 3,70 Meter langen Festkiel aus, hinter dem das 3,20 Meter lange Solo-Ruderblatt steht. Optional im Angebot sind ein Teleskopkiel oder eine feste Variante mit nur 2,60 Meter Tiefgang.
„Jede 72 hat eine andere Konfiguration“, stellt Franco Corazza klar. „PantaRei“ entstand zwar als Performance-Variante der 72, das trifft aber eher auf den Rumpf zu.
Grand Soleil fertigt die 72 als GFK-Sandwich-Konstruktion mit CFK-Verstärkungen in der neuen Werft in Fano
Corazzas Motto lautet: „Warum mit einem schweren Boot langsam cruisen gehen, wenn es auch leicht und schnell geht?“
Mit 31 Tonnen Verdrängung zählt die 72 zu den leichteren Serien-Vertreterinnen in der Maxi-Klasse. Sie entsteht nicht am Hauptsitz in Forlì; Grand Soleil fertigt alle Modelle ab 65 Fuß in der neuen Werft in Fano. Wobei man mit Maurizio Testuzzas Adriasail einen bestehenden Komposit-Betrieb von erstklassigem Ruf erwarb. An der Adriaküste laminiert man die Maxis aus GFK-Sandwich im Vakuum-Infusions-verfahren mit Vinylester-Epoxidharz und nach Strukturberechnungen von Marco Lostuzzi. Im Juni 2021 kamen die ersten Glasfaserlagen in die Form der 72.
Auch Carbon wird verwendet, weiß Grand-Soleil-Händler Dines Pontoppidan zu berichten: „Struktur und Rumpf erhalten unidirektionale Kohlefaser-Verstärkungen. Darüber hinaus bestehen alle Schotten aus Komposit und werden sowohl am Rumpf als auch an Deck anlaminiert, um eine besonders steife Konstruktion zu gewährleisten.“ Matteo Polli benennt einen Vorteil des GFK-Rumpfes: „Bei einer reinen Carbon-Konstruktion hätten wir mehr auf die Geräuschemissionen achten müssen. So erhalten wir einen guten Kompromiss aus Gewicht und Steifigkeit.“
Unter Deck zeigt sich ein Vier-Kabinen-Layout, zu dem auch ein Crew-Quartier achtern zählt, das wahlweise in die Vorpiek wandert und Raum für weitere Gäste-Areale lässt. Die Eignerkabine ist im Vorschiff verortet, eine Gäste-bleibe backbords davon. Dahinter siedelte Nauta Design den Salon mit Esstisch und die Galley an. „PantaRei“ ist klassisch in Teak ausgebaut, das cremefarbene Stoffe an Wänden und auf Polstern kontrastieren. Es gibt wenig Layout-Optionen, Projektmanager Franco Corazza: „Die grundlegenden Schotten verschieben wir nicht.“ Die Dekore sind aber austauschbar, unterschiedliche Holzfurniere werden angeboten. Baunummer zwei lief als Deckshaus-Variante in Fano vom Stapel, wobei der Begriff nur bedingt zutrifft. Viel besser passt das Werft-Wording Long Cruise (LC). In der LC-Version wandert der Salon eine Ebene höher, der Aufbau aber fällt charakteristisch flach aus und endet vor dem Mast. Die dritte 72 wurde wieder in der Performance-Ausführung geordert. Alle drei Eigner seien nicht aus dem eigenen Portfolio aufgestiegen, informiert Franco Corazza, der aufgrund der großen Ausstattungsbandbreite keine Startpreise mitteilt.
Der Exterieur-Auftrag an Nauta lautete: sportlich-aggressiv und gleichzeitig elegant
Indes verrät er den Wert von „PantaRei“: Der belaufe sich auf gut drei Millionen Euro. Vier Ablieferungen schaffe man pro Jahr und Modell, miteinbezogen die neue 65, die bereits als Long-Cruise-Version schwimmt und im Heck ebenso breit ausläuft wie die 72. Cantiere del Pardo, die Muttergesellschaft von Grand Soleil sowie der Motormarken Pardo Yachts und Van-Dutch, hat seit diesem Jahr in der Calzedonia-Gruppe einen neuen Hauptanteilseigner gefunden. Das von Sandro Veronesi aufgebaute Unternehmen versteht sich auf Strumpfwaren, Unterwäsche und Bademode. Die 1973 gegründete Pardo-Werft erhielt zuletzt 2020 eine Finanzspritze von der italienischen Private-Equity-Gesellschaft Wise Equity. Mit der Grand Soleil 72 ist die Segelsparte jedenfalls breit und bestens aufgestellt.