Alexander Worms
· 13.04.2025
Es ist 1988. Die DDR besteht noch, in Großbritannien regiert Margret Thatcher, und ein gewisser Gunnar Knierim stochert mit einem unlängst auf der elterlichen Werft in Laboe mit einigen Nachtschichten fertiggestellten Schiff auf der Ostsee durch den Nebel. Das Ziel: Klintholm. Der junge Schiffbauspross ist nicht allein an Bord, ein Lagerarbeiter aus der Firma des Eigners soll ihn unterstützen. „Der hat die ganze Zeit unter Deck gepennt“, berichtet Knierim heute.
Der Eigner ist Tilmar Hansen, seinerzeit Inhaber der Modekette New Yorker. Und so heißt auch das Schiff. Es soll beim Admiral’s Cup vor Cowes ein Jahr später als Teil des deutschen Teams antreten und dabei etwas Werbung für die Firma des Eigners machen. Und um das Schiff zu erproben, will man beim Baltic Cup vor Klintholm starten.
„Klintholm haben wir dann irgendwie gefunden, GPS gab es ja noch nicht. Wir hatten so einen AP-Navigator an Bord, das war echt Hightech damals“, berichtet Knierim weiter. Die „New Yorker“ schlägt sich ganz gut in den Regatten, verpasst aber im Jahr darauf knapp die Qualifikation für den Admiral’s Cup von 1989.
„Für mich persönlich war das eine gute Sache, dass wir die Qualifikation nicht geschafft hatten mit der ‚New Yorker‘. Ich bin dann auf ‚Becks Diva‘ nachgerutscht. Das war mein Einstieg ins Big Boat Sailing. Nachher war ich dann noch bei Illbruck auf diversen ‚Pintas‘“, so Knierim, der auf seiner Werft später den bislang einzigen deutschen America’s Cupper bauen wird. Für die „New Yorker“ war es etwas schade, denn das Schiff war damals eines von vier durch Judel/Vrolijk gezeichneten Eintonnern, die aus Kohlefaser-Sandwich mit Wabenkern, auch das war damals echt Hightech, gebaut wurden. Rumpf und Deck wurden im Westerwald bei den Schütz-Werken hergestellt. Deren Inhaber Udo Schütz war auch Eigner der „Container“ genannten Schiffe. Der Ausbau des Schiffes für den Kieler Eigner erfolgte dann von Knierim in Laboe.
Das Schiff kostete rund 1,4 Millionen D-Mark – eine Menge Geld seinerzeit. Noch dazu für ein reines Sportgerät: kaum Innenausbau, alles schwarz, keine Wohnlichkeit und konsequent in eine aussterbende Formel hineinkonstruiert. „Das war zwar noch die Hochzeit der IOR-Formel, aber am Horizont standen schon die 50-Fußer und die IMS-Formel“, erklärt Rolf Vrolijk. „Damals brauchte man alle zwei Jahre ein neues Schiff, wenn man vorn mit dabei sein wollte beim Admiral’s Cup“, so der Konstrukteur.
Dabei hatte sich IOR schon längst verrannt: Gurtmaße, die die Rümpfe seltsam rund werden ließen und nur wenig Volumen im Heck ermöglichten, was die Leistungen vor dem Wind verschlechterte. Dazu Finnkiele mit wenig Ballast, die jede Menge Crewgewicht auf der Kante erforderten, filigrane Masten, die nur dank Backstagen oben blieben, das alles machte die Segelei innerhalb der Formel zwar spannend. Alles in allem segelten die Schiffe aber nicht so gut, wie Schiffe es damals schon gekonnt hätten.
Die Formel und damit die auf dem Wasser eingesetzten Vehikel sind so dermaßen ausgereizt, dass sich mitunter aberwitzige Stilblüten entwickelten. Ein hohles Achterschiff, das die Wasserlinienlänge verlängerte und gleichzeitig das so wichtige Gurtmaß reduzierte, Innenballast, weil Kielgewicht nicht gewollt war, und die manische Suche nach Gewichtsreduzierung.
Auf der „New Yorker“ brachte das zum Beispiel eine Pinne aus Titan mit sich – 20-mal so teuer, aber immerhin nur halb so schwer wie eine aus Edelstahl. Das alles sind Anzeichen für den Anfang vom Ende der IOR-Ära. Dieses Ende kommt 1993: Es ist der letzte Admiral’s Cup, der nach IOR ausgetragen wird. Zum Abgesang ihrer Formel beschenken sich die Deutschen noch mal mit einem zwar denkbar knappen, aber verdienten Sieg. Danach verliert der Admiral’s Cup immer mehr an Bedeutung. Auch die „New Yorker“ hat ein bewegtes Leben. Auf der Regattabahn konnte sie nie wirklich überzeugen; was aber tun mit so einem Carbonding ohne Innenausbau, das in der Gesamtschau nicht mal schnell segelt und dabei jede Menge Knowhow und Gewicht auf der hohen Kante und mithin eine große und kompetente Crew braucht? Aus Maklersicht schwer vermittelbar, bestenfalls. Eher Hightech-Schrott.
Genau darum steht der Eintonner, der zwischenzeitlich diverse Namen hatte, viele Jahre lang auf dem Trockenen, allein von 2005 bis 2013 in Rostock. Doch es gibt Menschen, die sich offenbar von dieser seltsamen Mischung von Dekadenz aus einer goldenen Zeit des deutschen Segelsports, schwieriger seglerischer Handhabung und der brachialen Ausstrahlung der Eintonner angezogen fühlen.
Denn zwecks ausführlichem Refit geht es für das Schiff, mittlerweile heißt es „Silver Machine“, aus Rostock nach Hamburg. Ein neuer Dieselmotor wird installiert, 500 Kilogramm Ballast werden in Form einer Bombe an den Kiel geflanscht, und innen kommt eine Art Ausbau hinzu.
Eine Doppelkoje vorn, zwei achtern und ein Salon, in dessen Mitte zwar ein Motor steht, der aber immerhin Wegerungen, ein Kühlschapp und Salonbänke erhält. Auch die Elektrik wird erneuert. Unter dem Niedergang wird eine recht rudimentäre Pantry installiert. Was aber bleibt: Der Lokus steht neben dem Mast und ist zu allen anderen Räumen hin offen. Später wird das Schiff in „Tolenza“ umbenannt und erhält einen Bugspriet.
In diesem Zustand, frisch saniert und eben aus Carbon-Schaumsandwich, findet der jetzige Eigner Daniel Foerster das Schiff 2020 beim Makler Michael Schmidt & Partner in Hamburg. „Ich suchte ein Segelboot und habe mich gleich in die Linien verliebt. So ein Klassiker, ein Schiff mit Geschichte. Das ist doch toll, oder?“ Echte Liebe macht blind, denn es gibt einen kleinen Haken: Foersters Segelerfahrung beschränkt sich auf einige Stunden im Opti in der Jugend und gelegentliche Ausfahrten auf einem Tonner eines Verwandten.
Da denkt man eher an etwas Weißes aus der Großserie mit solidem Mast und Rollsegeln. Ein Eintonner aus Carbon mit fragilem Rigg und ohne echten Komfort unter Deck? Ein solches Boot mit dieser Segelvita überhaupt nur anzuschauen geschweige denn es zu kaufen verdient höchsten Respekt.
Wie groß die Herausforderung ist, die „Tolenza“ zu führen, zeigt sich beim Besuch an Bord. Auf dem Markermeer, wo das Schiff heute liegt, weht es mit gut 20 Knoten. Im Laufe des Probeschlags zieht der Wind kräftig an, in Böen pfeifen gute 7 Beaufort übers Land. An Bord sind insgesamt fünf Segler, was die Sache durchaus spannend macht, denn der erschreckend filigrane Mast stellt überdeutlich klar, dass er gern sehr gut durch die Backstagen abgestützt sein mag. Allein das bindet zwei Crewmitglieder dauerhaft.
Bleiben noch zwei für Groß- und Vorschot, Nummer fünf steuert. An entspanntes Segeln ist nicht zu denken, „Tolenza“ verhält sich wie ihr Schwesterschiff aus alten Zeiten. Heißt: eine echte Diva. Zwar liegt sie gut auf dem Ruder, in Böen taucht sie aber schnell nach Lee weg – trotz 500 Kilogramm Extraballast – und kippt über die große Breite irgendwie seltsam nach vorn. Die Pinne scheint permanent einen bevorstehenden Sonnenschuss zu melden: Mal ist Druck da, dann ist er urplötzlich ganz weg, und schließlich greift das Profil wieder.
Wirklich in die Sonne geht es nicht, wohlfühlen geht aber auch anders. Es fehlt ganz offensichtlich Gewicht achtern in Luv, eben da, wo normalerweise die Crew ausreitet. Konstrukteur Vrolijk sieht das fehlende Kantengewicht ebenfalls als Problem und bemerkt dazu: „Durch den Innenausbau und den zusätzlichen Ballast schwimmt das Boot ja eine Tonne tiefer im Wasser. Außerdem hat man die Linien im Achterschiff gestrakt, die Delle ist weg. Das ist nicht mehr das Design, das wir damals erdacht haben. Ich kann mir vorstellen, dass viel von der Agilität von einst verloren gegangen ist.“
Auf der Probefahrt ist das mit der weniger ausgeprägten Agilität eine gute Nachricht: Die schiere Vielfalt der Leinen und Winschen sorgt für anfängliches Durcheinander. Die Positionen und die zugehörigen Aufgaben müssen sich erst finden. Das gelingt jedoch mit jedem Manöver besser. Das Cockpit selbst ist für die Arbeit an den Leinen sehr gut aufgeteilt. Die schrägen Sülls sorgen für freie Sicht nach vorn und optimale Winkel auf die insgesamt acht Winschen. Nur Großschot und Traveller laufen irgendwie verkehrt herum, da muss ein Rigger ran und die Endlosleine, die den Fußblock verstellt, umbauen.
Überhaupt: der Rigger. Er ist zum besten Freund des neuen Eigners geworden. Allein das laufende Gut ist enorm, das Großfall ist 1:2 übersetzt und damit fast 50 Meter lang. Dann noch die Backstagen, weitere Fallen, Trimmleinen und so weiter. Da kommt einiges zusammen. Doch abgesehen von den Problemen an der Großschot klappt die Bedienung immer besser. Schließlich traut sich die Crew auch auf die hohe Kante. Dann zeigt „Tolenza“, wo ihre Wurzeln liegen. Sehr hoch an den Wind mag sie nicht, leicht geschrickt aber oder bei halbem Wind geht die Post ab. Das Schiff liegt mit seiner Beule gut in den eigenen Wellen, an Bug und Heck bilden sich beachtliche Wasserberge, und der Tonner legt los.
Das ist beeindruckend, denn die Kräfte sind groß: Mehr Druck aus dem Rigg kann nicht durch Speed abgebaut werden. Da sind dann bei dem zunehmenden Wind irgendwann ziemliche Urgewalten am Werk. Aber das macht Spaß, denn dafür ist das Schiff seinerzeit erdacht worden. Bei der Gelegenheit schimmert durch, wie viel Freude es machen könnte, mit großer eingespielter Crew das Schiff über die Regattastrecke zu treiben. Leider aber sind Versuche, nennenswerte Flotten solcher Tonner in Europa an der Startlinie zu versammeln, bislang gescheitert. In England erfreuen sich Vierteltonner einer gewissen Beliebtheit. Kein Wunder: Sie sind mit drei Leuten zu bewegen. Da ist es leicht, am Wochenende eine Crew zusammenzustellen. Mit zehn Seglern für einen Eintonner sieht die Sache schon anders aus.
Zurück im Hafen und ein Blick unter Deck. Dort regiert die Finsternis. Der schmale Aufbau mit den Minifenstern in Verbindung mit den allenthalben sichtbaren Carbon-Oberflächen lassen nicht allzu viel Wohnlichkeit in der dunklen Höhle aufkommen. Auf dem Weg ins Vorschiff muss man über zwei Carbon-Ringschotten klettern, die im Mastbereich für Stabilität sorgen, das WC steht notdürftig zum Salon hin völlig offen zwischen diesen Schotten. Aus der Vorschiffskoje ragt mittendrin ein Rohr, das irgendeine strukturelle Aufgabe erfüllt. Die Kojen achtern werden außen durch die schwarze Bordwand und innen durch eine Sperrholzplatte begrenzt. Ein kleines Waschbecken unter dem Niedergang muss reichen, um die tägliche Körperpflege vorzunehmen. Gespült wird dort übrigens auch. Komfort geht anders.
Eigentlich darf man so ein Schiff nicht kaufen. Es ist aufwändig zu führen, dabei nicht mal wirklich schnell. Man benötigt jede Menge Crew. Wegen des Riggs ist es kompliziert zu segeln. Regatten gibt es für die Bootsklasse so gut wie nicht. Durch die Zwänge der Formel ist der Innenraum kaum sinnvoll nutzbar, Bug- und Heckbereich sind zu schmal für Komfort. Nein, so ein Schiff ist im engeren Sinne sinnlos. Der Hafenmeister in Muiderzand bringt es auf den Punkt: „Wir in Holland sagen: ein Schiff für den Nachbarn. Irgendwie cool. Nur ist man froh, wenn es nicht das eigene ist.“
Dennoch schwebt über diesem Vehikel eine gewisse Aura: So konsequent für den einen Zweck gebaut, das nötigt Respekt ab. Ein Relikt einer Ära, nicht wirklich eine Ikone, aber durchaus ein Stück Segelgeschichte. Mit Ecken und Kanten und Macken. Formgewordene Hybris. Unvernunft in Kohle. So einem Gefährt verzeiht man als Segler gern seine Unzulänglichkeiten. Man will es besitzen. So wie Eigner Daniel Foerster. Ein wenig verrückt, okay. Vielleicht ja ein Sinnbild der Achtziger. Und genau deswegen irgendwie faszinierend.
Der Artikel erschien zum ersten Mal 2022 und wurde für diese Onlineversion überarbeitet.