Lässig greift Thomas Bonke erst die Vor-, dann die Achterleine, gibt seinem Boot einen sachten Schubs achteraus, steigt an Bord und greift zur Pinne. Dann erst startet er den Motor, und unter leisem Rattern schiebt sich der knapp 80 Jahre alte Jollenkreuzer zwischen Hausbooten und kleinen Motorbooten durch die schmale Hafenausfahrt von Rechlin auf die Müritz. Sommerhitze hängt über dem See, die Sonne scheint, und 3 Beaufort sind angesagt – ein perfekter Segeltag. Eigentlich.
„Hier, halten Sie mal“, sagt Bonke, übergibt die Pinne, ist mit drei Schritten am Mast und zieht das Großsegel hoch, in dem unübersehbar das charakteristische „B“ der 30er-Jollenkreuzer prangt. Sofort ist da Druck, viel Druck im Segel und am Ruder. Der Eigner übernimmt wieder, fiert das Segel weit auf und sieht trotz des herrlichen Segelwetters nicht unbedingt entspannt aus. Vor allem in den Momenten, in denen kräftige Böen den betagten Jolli heftig krängen lassen.
Dass die Angst vor der Kenterung auf dem Jollenkreuzer mitsegelt, ist allgemein bekannt, doch bei Skipper Bonke scheint sie besonders ausgeprägt. Würde es doch im Ernstfall – dem er mit großem Aufwand vorzubeugen versucht hat – ein aufwändig restauriertes Schmuckstück aus Holz umwerfen, mit allerlei technischen Finessen an Bord, die der Eigner in den vergangenen acht Jahren erdachte und umsetzte. Das hydraulische Hubdach über der gemütlichen Kajüte etwa, von dem im Hafen eine Leinwand für den bordeigenen Beamer baumelt, das Carbonrigg unter einer Folien-Ummantelung in Holzoptik oder das im Kajütdach eingelassene Skylight, durch das zusätzliches Tageslicht ins Schiffsinnere fällt.
„Ich habe ein Boot gesucht, das ich nach meinen Vorstellungen um- und ausbauen konnte. An dem ich selbst Hand anlegen kann, auch als Ausgleich zum Job“, erzählt Bonke und nimmt die Schot wieder etwas dichter. Hin und wieder schleicht sich sogar ein Lächeln in sein Gesicht. Der selbstständige IT-Berater aus Berlin verbringt die Tage in Meetings und vor dem Rechner. Das Schiff soll ein Gegenpol dazu sein, entschleunigen, die Hände mehr fordern als den Kopf.
Vor Jahren macht sich Bonke, damals Mitte 40, auf die Suche nach einem Boot für die Müritz. Er sondiert den Markt, vergleicht Preise von kleinen, neuen GFK-Yachten und kommt zu dem Schluss, dass ihm ein augenschmeichelndes Schiff aus Holz mit geringem Tiefgang für die flachen Ufer der Müritz viel eher zusagen würde. Ein Jollenkreuzer also. 15er und 20er sind ihm zu klein, auch die Familie soll mit. Doch der Markt für gebrauchte 30er ist überschaubar, und ein Neubau kommt für Bonke nicht infrage.
Am anderen Ende Deutschlands, in Jemgum an der Ems, steht unterdessen ein 30er zum Verkauf, der alle Kriterien perfekt zu erfüllen scheint: klassische Linien, keine signifikanten Schäden, ein sympathischer Verkäufer – und obendrein für wenige tausend Euro zu haben. „Es war klar, dass es finanziell keine große Katastrophe wird, auch wenn ich noch viel Geld reinstecke“, erinnert sich Thomas Bonke. Der Voreigner will seine „Lütje Welt“ in guten Händen wissen. In einer Dachwerkstatt fertigt er Bootsmodelle – als er Bonke noch ein Modell des Jollis zum Original dazu verspricht, ist die Entscheidung gefallen, man wird sich einig.
In den 1930er-Jahren wird der Jollenkreuzer, der erst später seinen Weg an die Ems findet, bei der heute nicht mehr existierenden Heidtmann Werft in Hamburg- Uhlenhorst gebaut. Es dient als Schulungsschiff für die Marine, das Typenschild in der Plicht ist noch da. Bevor Bonke das Boot übernahm, wurde es auf der Außenems und an der Nordseeküste gesegelt, ein anspruchsvolles Revier. „Allein diese Tatsache hat mir Vertrauen in das Boot gegeben“, sagt der jetzige Eigner, der trotz allem auf der Suche nach einem sicheren Schiff war.
Sein Refit-Projekt geht er so an wie die Optimierung von IT-Prozessen, mit denen er sein Geld verdient. „Das Boot sollte am Ende möglichst so aussehen wie im Originalzustand“, erläutert Bonke. „Für die Umsetzung meiner Ideen hatte ich eine Art Pflichtenheft im Kopf, mit Kriterien, die mir wichtig waren.“ Zum einen will er den Komfort an Bord erhöhen, zum anderen die Sicherheit – auch für Einhandtouren. Und all das soll nicht zulasten der Segeleigenschaften und der Geschwindigkeit gehen.
Die kann sich sehen lassen. Mit sieben Knoten zieht die „Lütje Welt“ auf der Müritz davon. Mit den Geschwindigkeiten, die ein moderner Neubau abruft, kann sie sicher nicht mithalten. Doch der Jolli verdrängt mit gut zweieinhalb Tonnen auch weit mehr als jüngere Modelle und ist von seinem Besitzer konsequent fürs Wohnen und Reisen statt fürs Rasen konzipiert worden.
Für die Umsetzung all seiner Ideen benötigt Thomas Bonke allerdings Hilfe. „Mir war früh klar, das schaffe ich nicht allein. Berichte anderer, die es über Jahre versucht haben und am Ende aufgegeben haben, waren da sehr hilfreich.“ Bonke sucht einen Fachmann, der ihn anleiten würde, sein Boot so zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, wie es ihm vorschwebt. Jemanden, der Gedankenspiele mitmachen könnte, Pläne abwägen, verwerfen und verbessern würde – etwa das Kajütdach komplett abzusägen und als Hubdach neu zu installieren.
In einer Sackgasse im mecklenburgischen Below wird er mit der Alten Werft fündig. Hier hat sich Bootsbaumeister Pascal Leihs, jung und umtriebig, auf Holzboote aller Art spezialisiert. „Ich war begeistert von ihm, seiner Art und dem kleinen Betrieb“, begründet Bonke seine Wahl.
Von Anfang an steht für ihn fest, dass er mehr Lebensraum in der Kajüte braucht. „Immer im Kriechgang, das würde nicht gehen“, sagt er – Stichwort Komfort. Er recherchiert, lässt sich unter anderem vom Hubdachsystem der Neptun-Yachten und der VW-Bullis inspirieren und entscheidet sich schließlich für eine Technik mit Hydraulikstempeln, wie sie bei Tischen in der Industrie oder in medizinischen Einrichtungen Verwendung findet.
Auch Bootsbauer Leihs lässt sich von dem Vorhaben überzeugen, wenn auch nicht ohne Zweifel, was das Entfernen des Aufbaus für die Struktur des gesamten Bootes bedeuten würde. Zunächst werden daher beide Seiten des Rumpfes im Bootsinneren mit einem Spanngurt verbunden, doch die Bedenken erweisen sich als unbegründet. Am Ende des dritten Refit-Winters hat die „Lütje Welt“ eine Kajüte, die sich in wenigen Sekunden auf gut 1,65 Meter nach oben erweitern lässt. Für Kinder und kleinere Personen genug zum Stehen und allemal ausreichend zum Aufrecht-Sitzen.
Per Knopfdruck oder durch Betätigung der Kurbel in der Steuerbord-Backskiste gleitet am Ankerplatz auf der Müritz der Kajütaufbau leise in die Höhe. Durch 16 Bullaugen gelangt Licht ins Innere, durch die auf Bonkes Wunsch eingebaute Decksluke ein leichter Luftzug; auf großen klassischen Yachten hatte Bonke diese schon öfter gesehen. Überhaupt hat er sich stark von Lösungen auf anderen Bootstypen inspirieren lassen, viel recherchiert, im Internet gesucht und letztlich für seinen Jollenkreuzer adaptiert.
Doch nicht nur der Kajütaufbau wird in der Refit-Phase abgenommen, auch das gesamte Deck. Irgendwann steht nur noch der nackte Rumpf in der Werfthalle in Below. Das Kielschwein wird erneuert sowie einige Planken. Bonke nutzt die Gelegenheit für weiteren Komfort-Ausbau und lässt den Rumpf um eine Planke erhöhen – zugunsten eines höheren Freibords und mehr Volumen in der Kajüte.
Auch das Deck wird komplett neu aus Lärche verlegt, daneben der Cockpitboden. Der Innenausbau wird vollständig ersetzt, inklusive einer kleinen Pantry und eines Kleiderschranks. Auch eine abgetrennte Nasszelle mit Toilette – die gab es ursprünglich gar nicht – wird eingebaut, für den Komfort und die Familie.
Gerade die Kinder, die gelegentlich mitkommen, sind ein Grund, warum das Thema Sicherheit eine so große Rolle für Bonke spielt. „Für eine bessere Stabilität wollte ich den Gewichtsschwerpunkt weiter nach unten bringen“, sagt der Segler. Das alte Rigg besteht aus einem Mast und einem Baum aus Eichenholz – insgesamt rund 200 Kilogramm schwer. Sie werden durch ein wesentlich leichteres Carbonrigg ersetzt – der Mast wiege nun noch etwa 50 Kilogramm, schätzt Bonke. Ummantelt werden Mast und Baum sowie der neue, ausziehbare Klüverbaum von einer Folie in Holzoptik.
Das geringere Gewicht des Riggs begünstigt auch das Vorhaben, den Mast allein legen zu können. Ein Jüttbaum ist zu dem Zweck dezent auf dem Vorschiff platziert, und im vergangenen Winter kam in der Alten Werft die jüngste Tüftelei an Bord: eine Aufnahme für den Mast mit zwei hydraulischen Stützen, die zu beiden Seiten des Niedergangs auf Knopfdruck in die Höhe fahren. Beim Mastlegen nehmen sie diesen im Cockpit auf, und sie erleichtern das Unterfangen, wenn man allein ist.
Unterhalb der Wasserlinie kommt ein neues, knapp zwei Meter messendes Schwert aus der auf Jollenkreuzer spezialisierten Bootswerft Christen aus Waren zum Einsatz – eines der Art, wie es bei Regatta-Jollis verbaut wird, mit zusätzlichem Ballast unten am Schwert. Im aufgeholten Zustand, etwa am seichten Ostufer der Müritz, schaut es aber längst nicht mehr aus dem offenen Schwertkasten in der Kajüte heraus. Vielmehr fungiert dieser mittlerweile auch als edler Kajüttisch mit seitlich ausklappbaren Elementen.
Bonke kennt sein Revier, über das er die „Lütje Welt“ in Flipflops und Shorts steuert, von klein auf an. Sein Vater hatte hier Motorboote liegen, am Wochenende kam die Familie stets her. Mit dem Segeln begann der heute 53-Jährige jedoch erst viel später, wurde mit Ende 30 bei einem Törn in Schweden so richtig infiziert.
„Da kam der Wunsch nach einem eigenen Boot auf“, erklärt Bonke – auch wenn er feststellen musste, dass er nicht seefest ist. Von sich selbst sagt der Berliner, dass er gar nicht so der „Wind-Typ“ sei – und sucht dabei den Sommerhimmel akribisch nach Wolken ab, die ein Gewitter ankündigen könnten und die Müritz urplötzlich zum garstigen Revier machen würden. „Manchmal ist das hier an der Grenze zum Spaß“, sagt Bonke und gibt vorsichtshalber noch einen Schrick in die Schot.
Worte, die angesichts des zeitlichen und finanziellen Aufwands, den er in sein Schiff investiert hat, eher überraschen. Die Rechnungen für all die Einbauten der erdachten und eingebauten Finessen hat er zwar gesammelt. „Aber was als Summe unter dem Strich steht, will ich gar nicht so genau wissen“, sagt er und lacht. Sein Anfangsbudget von etwa 60.000 Euro habe er wohl nur eingehalten, wenn man die vielen Sonderwünsche nicht mit einberechne. Pro Posten seien eben immer schnell 10.000 bis 12.000 Euro zusammengekommen. „Andere geben 10.000 Euro für einen Urlaub aus, ich für ein neues Rigg“, argumentiert er – ganz offensichtlich zufrieden. „80.000 Euro hätte ich nicht für ein neues Schiff ausgeben wollen, um am Ende unglücklich zu sein.“
Vieles habe er dabei zweimal gemacht, es musste sich entwickeln. Etwa der Einbau der Lenzklappen im Cockpit, das Verlegen von rund 70 Kilogramm Kupferkabel für sein Elektrokonzept oder die genaue Position der Dachluke in der Kajütdecke. „Nun bin ich aber in der Optimierungsphase angekommen“, sinniert Bonke.
Mit der Leistung seiner Lithiumbatterien ist er noch nicht zufrieden, da müsse er noch nachrüsten. Und auch an den Elektromotor will er noch mal ran. Der habe sich als zu schwach für die zweieinhalb Tonnen Bootsgewicht bei Wind auf die Nase erwiesen – im Kopf hat er den Einbau eines Dieselmotors schon durchgespielt. „Es gibt Dinge, die sich nicht bewähren, das Elektro-Experiment zählt dazu.“ Für seinen Klüverbaum schwebt ihm ein Leichtwindsegel vor und für den Niedergang ein automatisches Rollo als Schutz vor Mücken.
„Und für das Hubdach wäre eine Fernbedienung optimal“, sagt er. Derartige Details finden tatsächlich allmählich Einzug an Bord: Der Jollenkreuzer hat ein eigenes W-Lan-Netz, und Sensoren an Bord lassen Bonkes Handy in Berlin oder sonst wo Alarm schlagen, sollte Wasser im Boot stehen oder es unbefugt bewegt werden.
Der Eigner selbst würde es auch gern einmal von der Müritz fortbewegen, die „Lütje Welt“ auf den Trailer stellen und hinter seinen Wagen spannen. Endlich, nach all den Jahren des Bastelns und Geld-Ausgebens, die Vorteile eines trailerbaren Bootes nutzen. Oder Wilfried Erdmanns Route über die mecklenburgischen Seen nachreisen. Ideen hat Thomas Bonke wieder genug. Vielleicht kommt nun die Zeit, in der er sie nicht mehr in der Werfthalle, sondern auf dem Wasser umsetzt.
Der Artikel erschien zum ersten Mal 2018 und wurde für diese Onlineversion überarbeitet.