Gazelle des SablesDer kürzeste Langkieler der Welt

Fridtjof Gunkel

 · 14.12.2023

Mit Rad und Boot ans Meer: Das Mini-Gefährt wiegt nur 65 Kilogramm und ist lediglich 2,70 Meter lang
Foto: LaGazelleDesSables.com
Selbstaufrichtend, unsinkbar, per Rad zu trailern, mit Einbaumaschine und Wasserballast: Die  Gazelle des Sables ist ebenso vielseitig wie skurril und in ihrem Heimatland Frankreich ein Hit für die ganze Familie

Es gibt ja solche und solche. Boote, die den Segler kalt lassen, unbeseelte Objekte, austauschbar bis alltäglich, langweilig gar. Und dann sind da welche mit Charakter und Originalität, die die Blicke in jedem Hafen und auf See auf sich ziehen, den Betrachter in irgendeiner Form berühren, eine Reak­tion hervorrufen, sei sie negativ oder positiv. Die Spanne reicht von Bewunderung über Erstaunen bis zur Ablehnung, vom anerkennenden Pfiff über Stirnrunzeln bis zum Kopfschütteln.

Was aber geschieht einem Segler, der sich dem eigenwilligen Bootstyp der La Gazelle de Sables nähert? Der erste Anblick weckt gemischte Gefühle, sie reichen von Sympathie bis Beschützerdrang, ein wohlwollendes Lächeln ist fast unvermeidlich – ein Boot, das niemanden kaltlässt. Das rundliche GFK-Teil ist kaum länger als eine Badewanne, ähnelt ihr gar. Statt Abflussrohr gibt es auf der Unterseite einen schrägen festen Langkiel. Das aufragende Heck ist positiv ausgeformt, der Bug voll und rund wie die Spantform auch, und das Deck vollzieht einen ausgeprägten positiven Deckssprung. Aus dem Achtersteven ragt zu allem Überfluss der Prop einer Einbaumaschine. Wie bitte? Das Boot ist nur 2,70 Meter lang und dürfte damit das kleinste Kielschiff mit klassischen Linien sein.

Es fällt nicht leicht, eine “Gazelle” ernst zu nehmen – ein Fehler

Die Gazelle ist ein Paradoxon: Mit über 250 Einheiten gilt sie schon als bootsbauerische Massenware, in ihrer Art und Attitüde dagegen bleibt sie ein Unikum. Sie ist das Kind von Marie und Patrick Besnié, die im Bau und in der Vermarktung aufzugehen scheinen. Auf der boot in Düsseldorf haben sie auch schon ausgestellt, 2020 etwa standen sie angesichts der Bootsgröße verloren in der Halle 17 zwischen ausgewachsenen Yachten und Daysailern.

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Vorführtermin auf dem Lac de Maine bei Angers, im Loire-Tal, einer Pfütze, die zu dem Gefährt zu passen scheint, das wie ein bemannbares Modellboot wirkt. Die Gazelle sitzt auf einem Trailer. Mit einem Gewicht von 65 Kilogramm würde sie fast noch als Dachtransport durchgehen, in einen Lieferwagen passt sie gar komplett, und selbst per Fahrrad lässt sie sich trailern. Marie Besnié schiebt die GFK-Wanne offenbar auch zu Demozwecken kurzerhand auf einen Slipwagen, der nicht mehr als ein mit Rollen ausgestatteter Kasten ist. Patrick Besnié schultert Rigg und Ruder und geht mit zur Sliprampe. Mit wenigen Handgriffen ist das Boot betriebsbereit. Ruder anhängen, Batterie für den E-Motor anklemmen, den teleskopierbaren Mast reinstecken, Segel anschlagen.

Segelklar dauert nicht länger als beim Opti oder Laser. Die Schot wird nur einmal umgelenkt, direkt auf der Pinne, und dort auch in einer Klemme belegt – simpler geht es nicht. Der Segelplan zitiert größere klassische Vorbilder: Das gaffelgetakelte Groß lässt sich mit einem Toppsegel komplettieren. Am Bugspriet ist ein Klüver angeschlagen, davor wird bei Bedarf ein runderes größeres Segel gesetzt, das mit einem Code Zero verwandt ist. Der Name des Bootes indessen erinnert an die Sardinenfischer aus dem 19. Jahrhundert, wie sie in der Region Vendée an der Westküste Frankreichs eingesetzt wurden. Von den historischen Vorbildern entliehen ist die Rumpfsilhouette mit dem achtern niedrigeren Freibord, der das Aufnehmen des Fangs erleichtern sollte.

Boote werden im ehemaligen Schafstall laminiert

Marie und Patrick Besnié stammen dagegen von der Halbinsel Guérande in der Bretagne, die für ihr Salz weltberühmt ist. Dort arbeitete Marie im Bereich Marketing und Media, Patrick als Composit-Ingenieur. Es waren Jobs, nicht mehr. Und das Seglerische in ihrem Dasein kam immer kürzer. Die Wende für mehr Lebensqualität wurde mit Maries 30. Geburtstag eingeleitet. Patrick schenkte ihr ein selbstkonstruiertes Boot, die erste Gazelle.

Sie bauten eine weitere und segelten die Boote mit einem Mordsspaß an der Küste. Einige, die die kleinen Boote und ihre begeisterten Eigner erlebten, wurden mitgerissen, es entstand eine Nachfrage, die Patrick zunächst privat befriedigte. 2005 schließlich machten sich die beiden selbstständig und das geliebte Hobby zum Beruf, sie gründeten das Ateliers de La Gazelle des Sables.

Die Werft residiert mittlerweile inmitten von Weinbergen und Flussläufen südlich der Loire zwischen Angers und Nantes in einem Schlösschen, dem Château de l’Orchère. Dort auf dem ehemaligen Weingut laminieren sie die Boote in einem früheren Schafstall – jedoch ganz modern im Vakuum-Injektionsverfahren per RTM. Bedeutet: Das Laminat wird trocken in eine Form gelegt und dort fixiert. Diese wird mit einer um die Laminatstärke kleineren Innenform geschlossen und das Harz-Härter-Gemisch per Vakuum in den Fasermix gesogen. Das System, richtig angewendet, steht für den gewünscht niedrigen definierten Harzanteil, ein homogen verdichtetes Laminat sowie beidseitig saubere Oberflächen bei niedrigem Gewicht. Obendrein arbeitet es fast emissionsfrei und produziert deutlich weniger Müll als herkömmliche Vakuumverfahren. RTM, oder auch Resin Transfer Moulding, ist durch die zweite Rumpfform aufwändiger als übliche Methoden und kommt daher sehr selten zum Einsatz.

Die Segeltragezahl der Gazelle beträgt satte 7,29

Größe, Form, Besegelung, Herkunft und Bauweise sind längst nicht die einzigen Besonderheiten des neun Fuß kleinen Retroklassikers aus dem Pays de la Loire. Beim Besteigen überrascht die recht hohe Stabilität. Das Boot arbeitet mit Wasserballast. Rund 75 Liter Wasser fließen binnen weniger Minuten selbsttätig in den Tank im Kiel, sobald die Gazelle gewassert wird. Nimmt man sie wieder aus ihrem Element, fließt der Ballast durch die Lenzöffnung im Heck von allein wieder ab. Das System funktioniert ohne bewegliche Teile, Klappen oder Pumpen; auch dies eine nicht weiter zu vereinfachende Lösung.

Das Boot segelt angenehm und agil selbst bei wenig Wind, wobei die Geschwindigkeit durch die für Yachtsegler ungewohnt geringe Nähe zum Wasser schlecht einzuschätzen ist. Ausreiten, auf der Kante Gewicht machen, aufwändige Seitenwechsel? Fehl­anzeige. Man sitzt bequem in seiner Wanne und ist dort Kapitän. In der Wende rutscht der Rudergänger auf die neue Seite, und es besteht keine Gefahr, sich den Kopf dabei oder in einer Halse zu verletzen: Es gibt keinen Baum. Auch ein störender Kielkasten ist nicht im Weg, der Boden ist eben. Kaum zu glauben: Der Platz langt für zwei Erwachsene, und die gar per Sportbootrichtlinie zertifizierte Zu­ladung beträgt sage und schreibe 180 Kilogramm.

Noch ein Wert der Gazelle verwundert: die Segeltragezahl, die Gewicht und Tuch­fläche in Relation setzt. Sie beträgt mit Ballast gerechnet 7,29, was das Boot als Hard­core-Racer ausweisen würde – und deutlich die Grenzen dieser Bewertungsgrundlage aufzeigt. Auch bei Wind und Welle beweist das Gefährt Nehmerqualitäten, wie diverse Fotos, Videoaufnahmen und Eignerstimmen zeigen. Warum auch nicht? Die Segelfläche lässt sich von 14 Quadratmetern auf vier reduzieren, gegen viel Wasser im Schiff hilft eine kräftige Pumpe oder ein simples Ösfass.

Die “Gazelle” strotzt vor guten Ideen und simplen Lösungen

Und wenn der Wind nicht ausreicht, lässt sich die Gazelle wriggen oder rudern oder eben mit dem Elektro-Antrieb schieben, der batterietechnisch für zwei Stunden ausgestattet ist. Und dann ist das Boot auch noch unsinkbar: Der nicht vom Ballasttank belegte Raum zwischen der Rumpf- und der Deck-/Cockpitschale ist mit geschlossen­porigem Schaum gefüllt.

In der Summe ihrer Eigenschaften ist die Gazelle ein vollwertiges Boot, ein stäbiger Daysailer, ein Retroklassiker. Und auf der anderen Seite gibt sie auch ein prima Beiboot für eine ausgewachsene Yacht ab. Mit der Länge von 2,70 Metern ist die Größe als Tender durchaus gängig, wenn auch das Gewicht rund 30 Kilogramm höher und die Zuladung geringer ist. Eine Gazelle ließe sich nachschleppen oder auf einem größeren Mutterschiff an Davits fahren. Die Werft bietet entsprechende Beschläge an.

Und ist auch sonst um Optimierung und Individualisierung bemüht. Die Gazelle ist in neun Rumpffarben zu haben, mit verschieden gestalteten Decks und Cockpitböden aus Holz oder GFK oder in Kombinationen. Die Alumi­niumspieren gibt es auf Wunsch in Holzoptik, und die Klampen können aus Bronze geordert werden. Das Boot ist auch catgeriggt zu haben, der Mast steht dann in einer zweiten Aufnahme weiter vorn. Dazu offeriert Ateliers hölzerne Riemen, bronzene Dollen, gar eine Bar für den obligatorischen Weinausschank. Die Gazelle des Sables ist sozusagen das Schweizer Taschenmesser für maritime Genießer. Oder die nautische Entsprechung für das englische Brompton-Klapprad, das sich mit diversen Anbauteilen wie der ledernen Lenkertasche bis zum handgenähten Sattel in einem sympathischen Anflug von Snobismus aufbrezeln lässt. Der Gazellen-Grundpreis startet bei 5650 Euro. Und er lässt sich durch zusätzliche Segel, den Einbaumotor, einen Straßentrailer und andere Nettigkeiten problemlos verdoppeln – fast wie mit einem großen Boot.

Werftmotto: “Klein an Land, groß auf dem Meer”

Marie und Patrick Besnié haben sich mit ihrem Mikro-Klassiker einen eigenen Makro-Kosmos geschaffen, und sie leben ihr Thema auch mit ihren Kunden. Sie rühmen sich, immer erreichbar zu sein, auch über eine SMS-Hotline. Die Garantie ist auf Wunsch verlängerbar, und selbst jährliche Wartungsarbeiten bietet die Werft an, ebenso Segelunterricht und Trainings oder den Besuch maritimer Festivals per Boot. Längst setzen die beiden das Werftmotto „Klein an Land, groß auf dem Meer“ mit weiteren Typen um, die an Originalität in nichts nachstehen. Da gibt es die knapp dreieinhalb Meter messende Gazelle Breizh nach einem ähnlichen Konzept wie das Ur-Boot, aus­geführt als Mittelcockpitschiff. Oder das wiederum kleinere Catboot Lascar du Toul’Ru. Mittlerweile haben sie auch retroklassische Miniatur-Motorboote im wachsenden Programm, und der neueste Entwurf, die 3,20 Meter lange Morgat, ist weniger ein verkleinerter Klassiker, sondern ein traditionelles Angel- und Segelboot.

Ach ja: Die Gazelle gibt es auch in einer dritten Größe, knapp vier Meter lang. Sie nennt sich Gazelle des Iles, wiegt 120 Kilogramm und nimmt 150 Liter Wasserballast auf. Die ist dann auch als Zweimaster zu haben und lässt sich mit fünf Segeln bestücken. Die bis zu vier möglichen Mitsegler sollen ja auch was zu tun haben.

Technische Daten der “Gazelle des Sables”

  • Konstrukteur: Patrick Besnié
  • CE-Entwurfskategorie: D
  • Rumpflänge: 2,70 m
  • Breite: 1,20 m
  • Tiefgang: 0,45 m
  • Gewicht: 65 kg
  • Ballast/-anteil: 70 kg/107 %
  • Segelfläche: 14,0 m2
  • Segeltragezahl: 7,29
 | Zeichnung: LaGazelledesSables | Zeichnung: LaGazelledesSables

Dieser Artikel erschien erstmals in YACHT 15/2020 und wurde für diese Online-Version aktualisiert.


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