Vorhang auf, dieser Dreiakter eröffnet mit opulenter Kulisse. Am Süll des Konzertgrabens gluckern Tegernsee-Wellen. Der dem Dunst entsteigende Ort Rottach-Egern begrenzt auf der anderen Seeseite die Szenerie. Darüber der tausend Meter aufragende Wallberg. Ein Bayern-Himmel aus weißblauen Zupfwolken schließt den Bühnenprospekt nach oben ab. Sport- und Filmgrößen wohnen im Off. Ein Mitglied der Fußball-Nationalmannschaft kommentierte einst die Weltmeisterschaft fürs Fernsehen von der Terrasse des Yachtclubs, er hätte das Set leicht zu Fuß erreichen können. Die Berühmtheiten treiben die Tarife an dieser Binnen-Riviera auf Wallberghöhe. Das Boot, also das Bötchen, um das es hier geht, kostete so viel wie ein Quadratmeter Seegrundstück, zweieinhalbtausend Euro.
Maximilian Kolb, 48, kaufte den Jollenkreuzer im Winter. Endlich. Er hatte ein kleines Boot gesucht, für Zeit mit der wachsenden Familie, für Ausflüge mit Freunden, für seinen Bojenplatz und für wenig Geld. Ein paar Schönheitsreparaturen, die in der niedrigen Preisgruppe anstehen, kennt man ja, okay. Als Produktdesigner lackiert und schweißt er schon mal, sägt und fräst, er schleift und poliert ganz gut. Was kann schon schiefgehen bei so einem erprobten und simplen Boot.
Noch bei Schneefall holt er den 15er-Jollenkreuzer “Betty Blue” aus Leipzig. Es folgt ein unbeschwerter Sommer auf der betörenden, geradezu dramatisch hübschen Seebühne, der erste Akt seiner Eignerschaft, die sich zeitweise zu einem Drama entwickelte. „Hier, auf dieser Postkarte ist jeder Strich ein Segeltag, und dort haben alle unterschrieben, die in diesem ersten Sommer mitgesegelt sind“, 48 Striche und noch mal 45 Namen sind dort zu sehen. „Das war 2020 und das erste Corona-Frühjahr. Hafenkräne blieben abgesperrt, aber wir haben unser neues Gebrauchtboot über den Strand eingewassert und waren für Wochen die einzigen Segler auf dem Tegernsee, irre.“
Außer erwartungsgemäßen Ausbesserungen und einem Großputz bekommt das Boot ein Großsegel, gebraucht, über ein Anzeigenportal erworben. Als neues Vorsegel eignet sich eine Genua vom Dachboden, Max, so wird er seit jeher genannt, segelte als Jugendlicher Regatten mit der anspruchsvollen Zweimann-Trapezjolle Flying Dutchman. Der Jolli ist nun Familienmitglied, harmonische Komparsin im Bergsee-Schauspiel, fesch, wie man dort sagt, aber nicht zu forsch, eine Traumbesetzung. Applaus, Ende des ersten Aktes.
„Aber schon beim Auswassern fiel mir auf, das Boot war schwerer“, und es roch nach Essig. „Aus den Blasen im Lack ist mir die saure Brühe entgegengespritzt. Ich hatte bis dahin noch nie etwas von Osmose gehört.“ Er besorgte sich ein Fachbuch und Sanierungsangebote. „14.000 Euro, mir blieb nichts übrig, als das Boot zunächst zu trocknen, mich einzulesen und dann selbst an den Refit zu wagen.“
Vorhang auf, Max’ Werkhalle, Ort der Fron. Ein Pin-up-Kalender, mehrere elektrische Handmaschinen, kalte Leuchten, hinter Planen sind in Regalen Sortierboxen zu erkennen. Unter der Decke eine arabische Dhau, das Erinnerungsstück mehrerer Jahre Arbeit in Dubai, die malade „Betty Blue“ kopfüber auf Böcken im Zentrum. Max: „Ich hab physikalisch erst gar nicht verstanden, was da passiert mit so einem Boot.“ Der schmucke Jollenkreuzer „Betty Blue“, vom Berliner Manfred Ernst gezeichnet und 1971 auf der Eikboom-Werft in Rostock auf Kiel gelegt, liegt nun aufgebahrt. Ein DDR-Duo, das für Erfolg stand und international bekannt wurde. Ernst zeichnete jedoch in erster Linie etwa 80 Prozent der ostdeutschen Sportboote, Motor- und Segelyachten.
„Ich habe das Boot zuerst fünf Monate lang in eine Plastikhülle verpackt und einen kräftigen Entfeuchter angeschlossen, eigentlich für den Hausbau. Alle zwei Tage bin ich zur Halle, um das so gewonnene Wasser wegzukippen.“ Nun, trocken, offenbaren sich alle wunden Regionen. Dem gesamten Unterwasserschiff fehlt offenbar Gelcoat, die Vor- oder die Vorvorbesitzer hatten es bei einem Refit nicht so genau genommen. Oder nicht so genau nehmen können. Die vier, manchmal fünf Ebenen mit Glasfasern liegen jetzt vor ihm wie ausgebeint. Weil die Fasern auch ohne Harz noch verfilzt sind, bleibt garstige Arbeit. Max kann die Schichten einfach nicht voneinander trennen.
„Ich habe angefangen zu schleifen, zuerst mit dem Rotationsschleifer mit 40er-Papier, völlig aussichtslos.“ Max dokumentiert in dennoch oft fröhlichen Filmchen, die er ins Netz stellt, Fortschritt und Fehlschläge. „Für die Videos hatte ich mir immer Zeit genommen, ich hab es mir so schön wie möglich gemacht, um mich nicht zu ärgern“, so der 48-Jährige. Der Frohsinn täuscht jedoch.
Denn auch die drei Stringer, hohle Verstärkungen vom Bug bis zum Heck, dachlattengroß, sind gefüllt mit scheußlich riechender Plörre. Und der Kunstschaum in den Auftriebstanks fungierte über die Jahre als Schwamm. Durch die Inspektionsöffnungen zerteilte und entfernte Max die nassen Krümel wie Weisheitszähne. Dann sind ja immer noch die Glaslagen des gesamten Rumpfes zu trennen. Die meisten Tipps zum sogenannten Strippen aus Anleitungen im Internet pariert das Boot mit einer ebenso unerwarteten wie beharrlichen Resistenz. „Teilweise hab ich die Lagen dann mit einem pressluftbetriebenen Bohrmeißel abgetragen“, erinnert sich der geplagte Eigner.
Doch schließlich ist die letzte Lage bloßgelegt. Die beginnende Segelsaison blinzelt bereits durch die Werkstattfenster, was schmerzt, aber die Sonne bringt immerhin genügend Wärme in die Halle. Sein Boot ist in diesem Moment ein fragiler Hauch, „es war nun zart und empfindlich wie Papier, und es ging an den Aufbau“.
Max arbeitet am freien Freitag. Ursprünglich ist der als Familienzeit geplant, nun ist er „Betty“-Tag. Er bestellt Matten, Vinylester, Epoxid, Abreißgewebe, einen langsam reagierenden Härter und Spachtelmasse. „Die Kalkulation dafür lag bei nochmals zweieinhalbtausend Euro, also nicht so viel, aber trotzdem hast du dann den Zeitdruck aufgrund der Haltbarkeit des Harzes.“ Von der Reparatur eines Rennruderbootes, das er bei Flaute gern über den See treibt, waren ihm Harzarbeiten vertraut. „Aber du hast dann bei einem ganzen Rumpf, den du nass in nass laminieren willst, doch einen ganz schönen Zeitdruck.“
Für die nun anstehenden Laminierwochen legt er zusammen hundert Quadratmeter zugeschnittene Matten bereit und rührt zum ersten Mal eine solch große Menge Harz und Härter. Er hatte zuvor versucht, Laminierpläne zu erhalten. „Ich hab einfach im Telefonbuch des Großraums Berlin gesucht und so den Sohn des Konstrukteurs Manfred Ernst gefunden“, der hatte die Unterlagen aber nicht parat. „Dann habe ich bei der Eikboom-Werft angerufen, und die konnten mir tatsächlich einen Laminierer von damals vermitteln. Der hat mir den Lagenaufbau dann am Telefon diktiert, und ich schrieb mit.“
Bald klebt die erste Lage, „und ich musste sehr im Zeitplan arbeiten, sonst stehst du wieder mit einem kochenden und bereits reagierenden Kübel Harz da“. Er arbeitet sich von vorn nach hinten, dann wieder nach vorn, bis fünf Schichten nass in nass aufeinanderkleben. Er ist matt, trotz Schutzmaske vom Harzdunst bedüdelt, aber auch froh. „Hey, das könnte was werden“, denkt er. „Jetzt ähnelte der Jollenkreuzer wieder dem Boot, das ich einmal gekauft hatte.“
Mit dem Verteilen von Kuchenteig vergleicht er das danach notwendige Glätten. Sechsmal spachtelt er insgesamt 30 Kilo Füllmasse auf den Rumpf und schleift das meiste davon wieder herunter. Schleifen, spachteln, schleifen, über Wochen bleibt die Freitagsaufgabe eher eintönig. „Aber als Oberflächenspezialist hatte ich natürlich etwas Anspruch.“
Sein Dreh, stets eher kostspielige, hochwertige Maschinen zu erwerben und sie nach erledigter Arbeit wieder zu verkaufen, zahlte sich auch bei diesem Arbeitsschritt aus. „Ich hatte einen sogenannten Flexisander besorgt, ziemlich teuer und sehr effektiv“ – ähnlich einem Mobile schmiegt sich der über 14 Gelenke gebogene Schleifklotz an die Rumpfform. Und dann findet doch eine Billigmaschine in seinen Maschinenpark. „Dieser Mini-Bandschleifer vom Discounter war der einzige, dessen Rollendurchmesser in die Rundung zwischen Rumpf und Scheuerleiste passte.“ Nach einer Runde ums Boot erleidet der kleine Helfer jedoch Schiffbruch. „Den letzten Meter habe ich dann von Hand geschliffen, ich hatte da eh solche Oberarme“, er formt mit den Händen Melonen.
Aber der Rumpf strakt jetzt besser als zuvor, die Lackierung könnte daraus die Oberfläche einer polierten Kastanie zaubern. Doch noch wartet eine letzte Tortur: „Die superteure Epoxid-Sperrschicht verlief beim Aufwalzen überhaupt nicht.“ Mit dem Auftrag der zähen Masse entwertet Max den perfekten Untergrund innerhalb eines Durchgangs, nun ähnelt er dem Relief des Alpenhauptkammes. „Und alle Hubbel wurden steinhart. Ich habe dann elend mit dem gröbsten Schleifpapier die teuren Krater abgetragen, alles musste wieder runter.“
Hilfesuchend meldet er sich nach zwei Wochen beim Farbenhersteller, nein, sie können es sich auch nicht erklären. „Am Ende hat das Problem einen Spezialisten dort doch bedrückt, und der tauchte bei mir auf. Wir konnten den Fehler immerhin reproduzieren.“ Es stellt sich heraus: Der Lack ist auf Spritzpistolen eingestellt, erst mit zusätzlichem Lösungsmittel fließt er gewalzt. Max bekam dann ein dickeres Fell mit den Herausforderungen, „und bei den Walzen tauschte ich von Langhaar auf Kurzflor“. Mit dem Farben-Spezialisten blieb er im Austausch. „Er und ich sind mit der jetzigen Oberfläche auch glücklich.“
Vorhang, letzter Aufzug. Vorn Gut Kaltenbrunn, ein prächtiger Hof mit aussichtsreichem Biergarten, auf der Weide zum See hin grast braun-weißes Fleckvieh. Max ist mit seiner „Betty Blue“ im dritten Akt wieder unterwegs, königlich. Der Produktdesigner nutzte die Monate bis zum erneuten Einwassern 2022 als Nachspielzeit, für die Renovierung von Schwert, Schwertkasten, Ruder, die neu gesetzte Wasserlinie und schließlich den Schutzanstrich gegen Organismen auf dem Unterwasserschiff.
Zeit auch endlich für die geliebten Detailbasteleien. „Mich fasziniert die funktionelle, schiere Lösung, am besten aus Holz oder irgendwie schwarz.“ Somit ist das Boot nicht nur in der Substanz, sondern auch in den Kleinigkeiten famoser als zuvor. Die Ösen für die Ausreitgurte im Kajütschott etwa sind Kettenblattschrauben aus der Fahrradwerkstatt. Rettbares bewahrt er. Der Fockstrecker, ein schwarzer sogenannter Bierkasten-Strecker, findet aus dem Flying Dutchman an den Mast. Der Fockroller aus Pertinax, einem frühen Verbundstoff aus Harz und Papier, bleibt erhalten, er rollt ja. Den Edelstahl-Salingsbeschlag poliert er auf, verstärkt die Arme und montiert ihn erneut.
Schlussapplaus, was für ein knuspriger feiner, individueller Jollenkreuzer, wie er da an der Boje dümpelt! Mit kleinem Systemfehler. Der Rumpf glänzt so makellos, ein Schwan hackt auf sein Spiegelbild ein, bekämpft womöglich einen Rivalen. Max betrachtet den Revierkampf bang durch sein Fernglas. „Also echt, ich konnte ja schlecht schauen, was es kostet, ein Wildtier umzubringen.“ Mein lieber Schwan, er rollt mit den Augen. „Ich hab die Kratzer im Winter rauspoliert, und seit diesem Sommer hat der Schwan glücklicherweise eine Freundin, das scheint ihn besänftigt zu haben.“
Zweihundertfünfzig Stunden notierte Max für die Arbeit am 1971 gebauten Boot untenrum. Praktisch erneuerte er das Fundament eines bestehenden Hauses ohne Abriss. Zwei Monate Elternzeit schuftete er nach Einberufung des Familienrats vollzeit in seiner kleinen Werft, damit nun wieder ein Familienboot bereitsteht. Den freien Freitag hat er beibehalten.
Der Plan: seinen Sohn dann mit dem Boot vom Gymnasium abholen, zweieinhalb Seemeilen Schulweg. Es gibt tatsächlich einen kurzen Anleger am Pausenhof, „das hat aber erst dreimal geklappt“. Die Schönen, die Reichen, sie wohnen neben der Schule am See. Max’ Elterntaxi ist aber das an Grazilität, Charakter und Temperament reichste.