YACHT-Redaktion
· 13.07.2025
Im Amerika des 19. Jahrhunderts führte nach dem Ende des Bürgerkriegs die Industrialisierung von Sägewerken und die Verbesserung von Transportmöglichkeiten dazu, dass Leisten und Bretter als Standardware gehandelt wurden. Die dadurch erst möglich gewordene amerikanische Two-by-Four-Rahmenbaumethode im Hausbau benötigte zum Beispiel nur eine Wagenladung Leisten im Querschnitt von zirka fünf auf zehn Zentimeter, eine große Anzahl von Brettern und viele Nägel – dann konnte man sich auch ohne ausgebildete Zimmerer ein Haus bauen.
Dasselbe war auch im Bootsbau möglich. Fischer, Farmer und Händler zimmerten über einfachen Rahmen mit Brettern Arbeitsboote, genau auf ihren Bedarf zugeschnitten, und das zu einem günstigen Preis. Knickspanter mit Plattboden gab es schon immer; Dories, als stapelbare Arbeitsboote auf den Oberdecks der Fangschiffe mitgeführt, waren auch in Amerika bekannt.
Für die Austernfischer in New Haven, die im Brackwasser des Long Island Sound ihre Muscheln kultivierten, war ein formstabiles Boot mit flachem Boden und meist rundem Hinterteil genau das Richtige, um driftend mit ihren Rechen auf dem gedeckten Heck stehend den kostbaren Fang direkt in die Mitte und somit den Schwerpunkt des Bootes zu hieven. Der Name Sharpie verdankte sich, so wird vermutet, den scharfen Kanten insbesondere des Bugbereichs.
Es wurde zwischen Einmann- und Zweimannbooten unterschieden. Erstere waren zirka acht Meter lang und konnten 75 bis 100 Bushel – der amerikanische Scheffel – transportieren. Letztere waren zirka zehn Meter lang und trugen 150 bis 175 Bushel. Ein Bushel konnte je nach Region 40 bis 75 Kilogramm betragen und wurde im Durchschnitt mit 55 Kilogramm berechnet.
Während die kleineren Sharpies mit einem Mast auskamen, hatten die größeren drei Mastspuren und konnten somit bei leichteren Winden im Sommer zwei und in den stürmischen Monaten einen Mast tragen. Der Bau eines sechs Meter langen Arbeitsbootes konnte von zwei Handwerkern in rund zwei Wochen geschafft werden.
Von den Anfängen in der Austernindustrie Connecticuts verbreitete sich das Sharpie innerhalb eines halben Jahrhunderts, dem spezifischen Bedarf der jeweiligen Aufgabe angepasst, zuerst in Binnen- oder küstennahen Gewässern, um sich schlussendlich auch als Yacht auf das offene Meer zu trauen.
Sharpies sind im Vergleich zu anderen Bootstypen einfacher und somit auch billiger herzustellen. Es bedarf keines Bootsbauers, der den Riss aufschnüren kann. Als Arbeitsboote können sie innerhalb kurzer Zeit mit überall erhältlichem Material grob, aber zweckerfüllend zusammengeschustert werden. Sie sind sehr schnell, vielseitig, praktisch und vertragen viel Zuladung. Sie sind überraschend seetauglich und können im Notfall durch moderate Brandung auf Legerwall bei aufgeholtem Schwert wie ein gigantisches Surfbrett bis an den Strand gesurft werden. Wo Kielyachten dem Fahrwasser folgen müssen, kann ein Sharpie in knietiefem Wasser hart am Wind den kürzeren Kurs anlegen. Trockenfallen ist kein Problem.
Das Sharpie hat den Ruf, nicht automatisch selbstaufrichtend zu sein. Ein Ballastschwert oder interner Ballastanteil, Auftriebskörper und Rumpföffnungen mittig angebracht können dieses Problem beheben. Das Boot sollte mit Krängung gesegelt werden, da sonst das Stampfen der Wellen am Flachboden nerven kann. Gleichzeitig wird die Wasserlinie länger und somit die Geschwindigkeit erhöht. Eine Nacht vor Anker kann aus diesem Grund wenig erholsam werden. Über die Jahre entstanden sowohl anmutige Bootsrisse als auch kistenförmige Konstruktionen, welche aber unerwartet gute Segeleigenschaften aufweisen.
Im Zusammenhang mit der Verbreitung des Sharpies an der amerikanischen Ostküste wird stets ein Name erwähnt: Commodore Ralph Munroe. Er brachte das erste Sharpie „Kingfisher“ von Staten Island nach Florida. Es war ein von ihm entworfenes 33-Fuß-Sharpie, welches als Gaffelketsch mit Spritbäumen getakelt war.
Er segelte das Boot entlang der Küste der Biscayne Bay und verkaufte es schlussendlich als halbe Anzahlung für ein Anwesen in Coconut Grove, an dessen Wasserkante er 1891 ein Wohnhaus mit dem Namen Barnacle („Seepocke“) und ein Bootshaus baute. Munroe gründete mit Freunden den Biscayne Bay Yacht Club, der erste in der Gegend, und war für 22 Jahre als dessen Commodore gesetzt. Neben dem Entwurf einiger, für diese Zeit noch ungewöhnlicher, dem dortigen Klima angepassten Häuser war der Generalist einer der ersten Siedler in der Region Miami, arbeitete als Unternehmer, Segelbootkurier, Bootsbauer, gefeierter Fotograf und Naturschützer. Er konstruierte im Laufe seines Lebens 56 verschiedene Schiffe, meistens Sharpies, welche den rauen Passagen im Golfstrom außerhalb der Bucht standhalten konnten, aber auch in der Lage waren, über die Riffe in flache Häfen zu gelangen.
Im Sommer 1886 entwarf Munroe das 28-Fuß-Doppelender-Sharpie „Egret“. Dieses Boot setzte den Standard für alle folgenden Sharpie-Yachten und wird heute noch von professionellen Bootsbauern oder auch Selbstbauern in verschiedenen Modifikationen nachgebaut und von einer immer noch wachsenden Fangemeinde verehrt.
Weil die Originalzeichnungen in einem Hurrikan im Jahr 1926 verloren gingen, hatten sich der Yachtdesigner Joel White und Freunde darangemacht, für das amerikanische Magazin „WoodenBoat“ anhand alter Fotos Selbstbaupläne zu erstellen. Bootskonstrukteur Reuel B. Parker, dessen exzellentes Standardwerk „The Sharpie Book“ eine Empfehlung zum Weiterlesen ist, präsentiert darin seine eigene Interpretation von „Egret“.
Munroe nannte „Egret“ wegen dessen Seetüchtigkeit sein „sharpie lifeboat“. Es wurde als Arbeits- und Kurierboot entlang der Küste Floridas eingesetzt. Der Doppelender hat im Vergleich zu durchschnittlichen Sharpies höhere und wie bei einem Dory stärker geneigte Bordwände. Der Kielsprung ist etwas stärker ausgeprägt und der Übergang von flachem Boden zu Bug und Heck liegt über der Wasserlinie. Die Schlupfkabine des Originals wird mittig vom Schwertkasten geteilt, bietet keine Sitzhöhe und keinen Komfort. Der Segelplan ist als Cat-Schoner mit Gaffelrigg und daraus resultierendem niedrigen Segeldruckpunkt konzipiert und der Ballast wurde damals mittschiffs in Form von Ladung, Sandsäcken oder Ziegelsteinen mitgeführt.
In seiner 1930 veröffentlichten Biografie „The Commodore’s Story“ erzählt Munroe unter anderem von Törns mit „Kingfisher“ und „Egret“. Ein Auszug daraus beschreibt die Seetüchtigkeit der Boote und prahlt mit dem Können und der Ortskenntnis des Skippers: „… Es war fast Niedrigwasser. Dieses Mal überquerte der Kanal die Sandbank am südlichen Ende der Öffnung und führte durch beidseitig flankierende Brandung in Nordwestrichtung weiter. Kein Boot – ob unter Segel oder Motor – hätte an diesem Morgen mit den vorgegebenen Bedingungen zurechtkommen können. “
“Mit dem Sharpie allerdings suchten wir die am seichtesten aussehende Stelle am nördlichen Ende, holten das Großsegel ein und steuerten darauf zu. Viel Glück brachte uns direkt hinter der ersten brechenden Welle durch, und bevor die zweite Welle uns erfassen konnte, waren wir sicher in einem Fuß Wassertiefe. Einen Augenblick später waren wir dann auf der eine halbe Meile vom Festland entfernten Sandbank trockengefallen. Von Land sah unsere Lage lebensgefährlich aus und Captain Pacetti, der örtliche Lotse, startete eine Rettungsaktion. Hätte er die Seetüchtigkeit von Sharpies gekannt und mitbekommen, dass wir gerade Kaffee aufbrühten, dann hätte er sich einige Mühen ersparen können.”
“Als wir dann beim Frühstücken waren, kam die Flut sehr schnell. Wir sprangen beidseitig über Bord und hielten den Bug gegen die anlaufende See. Kurze Zeit später waren wir über die Sandbank hinweg und segelten den Fluss hinauf. Hier trafen wir auf den Lotsen, welchem wir für seine gut gemeinte Rettungsaktion nur danken konnten. Wir konnten gerade noch seine Frage hören: ‚Was zur Hölle für ein Boot habt ihr da?‘ Es ist ersichtlich, dass ich diesen Bootstyp an der Küste Floridas eingeführt hatte! …“
Der durch seine eleganten und erfolgreichen Rennyachten für den America’s Cup bekannte Designer Nathanael Herreshoff war ein guter Freund von Munroe und oft zu Gast bei ihm. Die beiden Freigeister experimentierten mit außergewöhnlichen Bootsformen. Munroe baute und segelte nach einer längeren Debatte über Mehrrumpfboote die erste amerikanische Proa, während Herreshoff 1875 seinen ersten, 7,50 Meter langen Katamaran „Amaryllis“ entwarf, der bei seiner ersten Regatta 1876 mit großem Abstand vor den Konkurrenten siegte.
Sein Sohn Lewis Francis Herreshoff entwarf, begeistert von der Einfachheit und Schnelligkeit der Sharpies, die 33 Fuß große Fahrtenyacht „Meadow Lark“, ein Sharpie mit Seitenschwertern. Er publizierte den Entwurf in seinem Buch „Sensible Cruising Designs“. Auch heute noch kreuzen viele, mehr oder weniger modifizierte Nachbauten auf den Weltmeeren.
Der Bootskonstrukteur, Historiker und Autor Howard I. Chapelle war ausgesprochener Fan der kostengünstigen und dennoch vielseitigen Arbeitsboote. In seinem als Klassiker angesehenen Buch „American Small Sailing Craft“ von 1951 dokumentiert er die Geschichte der aussterbenden amerikanischen Arbeitsboote und räumt dabei den Sharpies einen besonderen Platz ein.
Mit der Verfügbarkeit von Sperrholz und Epoxidharzen wurde der Bau von Sharpies noch einfacher. Der amerikanische Designer und Buchautor Phil Bolger entwarf viele Sharpies für Selbstbauer, weil er das Kosten-Leistungs-Verhältnis dieser Bootsform für unschlagbar hielt. Bolger war der Meinung, dass die Seetüchtigkeit von Sharpies mit dem Längen-zu-Breiten-Verhältnis zunimmt. Mit genügend Ballastanteil und wasserdichten Schotten war seiner Meinung nach auch ein Selbstaufrichten bei Kenterung möglich. Die Rundung der Knicklinie sollte durchlaufend denselben Radius haben, und wenn möglich sollte dieser bei Seitenwänden und Bodenplatte gleich sein, um Turbulenzen zu vermeiden. Bug und Heck sollten beide über der Wasserlinie liegen.
Bolger wurde besonders für seine Square Boats bekannt, despektierlich auch „Bolger-Kisten“ genannt. Diese Sharpies mit senkrechten Bordwänden, abgeschnittenem Bug und einfachen Segeln hatten und haben trotz gewöhnungsbedürftigem Aussehen eine weltweite Fangemeinde. Das Konzept seines Sharpies „Birdwatcher“, in dem man das Boot aus einer vollverglasten, über die gesamte Rumpflänge gehenden Kabine steuert, taucht seitdem bei Designern immer wieder auf. Viele seiner größeren Sharpie-Entwürfe dienen als Cruiser für Langfahrtensegler.
Bruce Kirby, der Vater der Laser-Jolle, entwarf die Selbstbauyachten Norwalk Islands Sharpies von 18 bis 26 Fuß mit durchgelattetem Cat-Ketch-Rigg. Eine Vielfalt an Sharpie-Entwürfen verschiedenster Designer kann man bei den immer beliebter werdenden Raids besichtigen. Raid bezeichnet eine mehrere Tage dauernde, organisierte Segel- und Rudertour mit kleinen Booten entlang der Küste. Sind Wettfahrten im Programm, haben die Sharpies wegen der schon beschriebenen Eigenschaften meistens die Nase vorne.
Liebt man die Formen schöner klassischer Bootsrisse, aber hat die Möglichkeit, zum ersten Mal ein Sharpie zu segeln, dann kann ein Problem auftauchen: Man findet es nicht angemessen, dass einfach gezimmerte Boote so gut segeln können.
Die Geschichte der Sharpies ist in der aktuellen Ausgabe der YACHT classic erschienen, die seit dem 21. Mai im Handel ist (hier erhältlich). Abonnenten der YACHT bekommen das Heft gratis nach Hause geliefert. Lesen Sie außerdem darin das Porträt des Werftgründers Henry Rasmussen, die Geschichte der „Nordwest“ und lassen Sie in Fotos von Nico Krauss die Classic Week 2024 Revue passieren.