“Pellew”Nachbau eines Lotsenkutters nach historischem Vorbild

Nic Compton

 · 12.05.2024

Imposantes Bild: die „Pellew“ vor ihrem Heimat­hafen Falmouth. Hier segelte einst auch ihr Vorbild
Foto: YACHT/Nic Compton
In England entstand der Lotsenkutter „Pellew“ nach historischem Vorbild. Er ist seit über 100 Jahren der größte Neubau seiner Art. Umso mehr überrascht der 20-Meter-Koloss, hält man erst sein Ruder in Händen

“Wir sind auf Kollisionskurs, Käpt’n!“, rufe ich hektisch. „Halte Kurs. Wir werden vor ihnen durchgehen!“, kommt ruhig und klar die Antwort. Ich stehe am Ruder des nagelneuen 68-Fuß-Lotsenkutters „Pellew“ und versuche, mich an die monströse Pinne zu gewöhnen, als wir durch die Carrick Roads vor Falmouth donnern und ein anderer Gaffelsegler backbord voraus auftaucht. „Pellews“ Erbauer und Skipper Luke Powell erkennt die „Donna Capel“ sofort, ein umgebautes belgisches Fischerboot von 52 Fuß Länge. Sie gehört seinem Freund John Davison. „Lass sie dicht aufkommen, wir wollen Hallo sagen“, ruft er mir zu.

Luke genießt Situationen wie diese. Neben seinem guten Ruf als Erbauer hölzerner Lotsenkutter – „Pellew“ ist sein neunter und bei Weitem der größte – ist er ebenso für seine waghalsigen Manöver bekannt. Ich hatte Lukes Auftritte schon häufig aus der Ferne beobachtet, aber nun stand ich selbst am Ruder seines Schiffs – und bekam es mit der Angst zu tun. Solch ein gewaltiges Boot kann schließlich allerhand Schaden anrichten.

Weitere besondere Boote:

Mit Bugspriet misst der Nachbau eines historischen Lotsenkutters 90 Fuß in der Länge. Er verdrängt 74 Tonnen und hat eine Segelfläche von 325 Quadratmetern. Damit ist „Pellew“ der größte Lotsenkutter, der in den letzten 100 Jahren gebaut worden ist. Seine Genese war ein langer Prozess mit vielen Hindernissen, deren traurige Krönung der Ausbruch der Pandemie unmittelbar nach dem Stapellauf war. Dennoch ist das Schiff für Luke ein wahr gewordener Traum, der vor mehr als 20 Jahren entstand.

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Ein lang gehegter Traum kann Realität werden

Alles begann mit einem zierlichen 38-Fuß-Lotsenkutter namens „Eve“. Den baute Luke 1997 in Exeter, zu einer Zeit, als Holzboote auszusterben drohten. Es gelang dem Bootsbauer, einen Käufer zu finden – und so blieb er dabei. Nach und nach fertigte er sieben weitere Lotsenkutter nach Vorbild eines Bootstyps von den Scilly-Inseln.

Unter dem Firmennamen Working Sail machte Luke das Dorf Gweek an der Spitze des Helford River in Cornwall zu einem Mekka für Holzboote. Am wieder aufkeimenden Interesse für die besegelten Lotsenkutter hatte er einen entscheidenden Anteil. Doch dann kam 2008 die Wirtschaftskrise, und die Aufträge blieben aus. Den letzten Neubau lieferte Luke 2012 ab. Danach verlegte er sich auf nostalgische Kojenchartertörns von Falmouth aus mit seinem 46-Fuß-Lotsenkutter „Agnes“.

Das Geschäft mit Törns zu den Scilly-Inseln, in die Bretagne und nach Irland florierte. Luke fand sogar die Zeit, eine sehr lesenswerte Autobiografie mit dem Titel „Working Sail“ zu schreiben, die nach wie vor begeisterte Kritiken erhält. Über ein Bootsbauprojekt lernt er eines Tages Brian Pain kennen. Der Pädagoge teilt Lukes Leidenschaft für traditionelle Boote und sagt die Finanzierung eines Ausbildungsprojekts durch sein Unternehmen Artysea zu.

Es ist die ideale Gelegenheit für Luke, seinen lang gehegten Traum zu realisieren: „Bei meinen früheren Recherchen über die Lotsenkutter der Scilly-Inseln waren mir die Schiffe aus Falmouth aufgefallen, die einst mit jenen von den Scillys konkurrierten. Die ‚Vincent‘ war eines der ältesten und noch dazu am besten dokumentierten Boote dieses Typs. Sie wurde 1852 gebaut und war bis 1922 von St. Mawes aus im Einsatz. Sie beendete ihr Dasein als Hausboot auf dem Percuil River in der Nähe von St. Mawes. Es gibt viele Fotos aus den 1920er Jahren von ‚Vincent‘, und beim örtlichen Bootsbauer Ralph Bird fand ich das Originalmodell. Ich vermaß es und hatte damit die DNA, mit der ich arbeiten wollte.“

Der Namenspatron zog einst gegen Napoleon ins Feld

Luke benennt seinen 68-Fuß-Entwurf „Pellew“, nach dem Lokalhelden Admiral Edward Pellew, der während der Napoleonischen Kriege bemerkenswerte Erfolge im Kampf gegen die Franzosen feierte. Zwar liebt Luke Frankreich und besucht regelmäßig die maritimen Feste in Douarnenez und Brest. Aber er ist eben auch ein glühender Lokalpatriot Cornwalls und möchte mit seinem Projekt dazu beitragen, die Geschichte des heimischen Bootsbaus und der maritimen Kultur am Leben zu erhalten.

Zu seinem Team zählen zwei erfahrene und vier junge Bootsbauer, denen es noch an Praxis mangelt. Die Kiellegung erfolgt im Februar 2017 in einem stillgelegten Dock in der Nähe von Truro. Auf den 230 mal 355 Millimeter großen Eichenholzkiel werden 100 mal 200 Millimeter starke Eichenspanten gestellt und mit 55 bis 75 Millimeter dicker Eiche beplankt, mit Verbänden aus Bronze. Alles in allem schätzt Luke, dass für den Bau des Bootes etwa 100 Tonnen Holz nötig sind.

Für das Deck und dessen Struktur verwendet er Bilinga, die Spieren werden aus 15 Tonnen Douglasie gehobelt. Damit ist die „Pellew“ weit hochwertiger gebaut als das Original. Aus gutem Grund, wie Luke verrät: „Die meisten Nachbauten werden viel weniger gesegelt als ihre Vorbilder. Die größte Gefahr ist daher, dass sie von Regenwasser zersetzt werden. Müßiggang ist ein Killer für Holzboote!“ Es sei eine ziemliche Ironie, dass Boote besser gebaut sein müssten, je weniger sie gesegelt würden.

”Pellew” ist so authentisch wie möglich gebaut

Um den heutigen Bauvorschriften zu entsprechen, sind leider auch gravierende Abweichungen vom Original erforderlich, wie die wasserdichten Schotten, Drähte aus Stahl statt aus Hanf und metallene Knie anstelle solcher aus Holz. Außerdem erhält „Pellew“ einen durchgehenden Bleikiel von neun Tonnen Gewicht. Weitere 14 Tonnen Ballast befinden sich in den Bilgen.

„Das Rigg hingegen ist so authentisch, wie es nur geht. Die meisten Lotsenkutter haben vergrößerte Takelagen. Aber wir wollten ja kein Boot bauen, um damit Rennen zu gewinnen. Es sollte ein Schiff für die Aus­bildung werden und daher möglichst seetüchtig sein. Wir haben uns daher dazu entschlossen, ganz dem historischen Vorbild zu folgen und herauszubekommen, warum es früher so gemacht wurde. Experimentelle Archäologie – wie man es auch beim Nachbau der alten Wikingerbooten macht.“ Um „Pellew“ gut handhaben zu können, kommt zudem moderne Technik zum Einsatz. „Der Anker etwa wiegt 100 Kilogramm, also be­nötigt man Taljen, um ihn hochzuziehen. Die Kette ist sehr schwer, also brauchten wir eine mechanische Ankerwinde. Und wir haben darüber hinaus elektrische Fallwinden. Überhaupt haben wir uns sehr viele Gedanken dazu gemacht, wie wir ein derart großes Schiff mit kleiner Crew sicher bedienen können.“

Auch an den Zweck als Ausbildungsschiff werden Zugeständnisse gemacht. Das Kajütdach wird bis über den Niedergang verlängert, es gibt bequeme Sitzgelegen­heiten im Salon und eine gut ausgestattete Kombüse mit Elektroherd, Geschirrspüler, Gefrierschrank und Boiler. Nicht zu vergessen die Duschen im vergleichsweise recht komfortablen Sanitärbereich.

Stapellauf mit Hindernissen

Eine weitere Herausforderung ist das Wetter. Im Winter 2019/20 ist es selbst für englische Verhältnisse miserabel. „Das war sehr demoralisierend“, erinnert sich seine Frau Joanna. „Nach Weihnachten dachten wir, der Frühling steht vor der Tür – und dann regnete es ununterbrochen noch vier Mo­nate lang.“

Die Wettergötter vereiteln sogar den Stapellauf der „Pellew“, der wegen Starkwind kurzfristig abgesagt werden muss. Der Kran kommt trotzdem und setzt das Boot während eines kurzen Wetterfensters in den Truro River. Es gibt zwar keine Party, aber Tausende von Menschen verfolgen das Ereignis in den sozialen Medien. Drei Wochen später beginnt dann der Lockdown im Vereinigten Königreich, und die Arbeiten kommen fast gänzlich zum Erliegen. Glücklicherweise kann die Takelage trotzdem zum Großteil fertiggestellt werden. Und als die Restriktionen gelockert werden, machen sich Luke und ein kleines Team daran, den Lotsenkutter aufzuriggen.

Am 24. Mai schließlich fährt die „Pellew“ den Truro River hinunter und segelt zum ersten Mal auf den Carrick Roads. Es ist nahezu windstill an diesem Tag, doch die Leinen zu lösen ist trotzdem von großer Symbolkraft. Als sich die gesetzten Segel im glitzernden Wasser vor Falmouth spiegeln, ist ein großer Schritt getan.

Projekt gleicht einer Achterbahnfahrt

Der Kommentar auf der Facebook-Seite von Working Sail sagt alles: „Unser großer grüner Vogel hat Flügel.“ Luke, der während der Arbeiten an Krebs erkrankt, sich davon aber wieder erholen kann, meint im Rückblick: „Das Boot zu bauen war der einfachere Teil. Die äußeren Umstände hingegen waren schwierig.“ Der Umgang mit den am Bau beteiligten Menschen habe den größten Raum eingenommen. „Oft hatte ich das Gefühl, nicht nur die bootsbauerischen Herausforderungen bewältigen zu müssen, sondern viele Dinge, die ich gar nicht kontrollieren kann. Das Wetter, meine Krankheit, Covid 19 – das alles machte uns zu schaffen.“

Luke vergleicht das Projekt mit einer Achterbahnfahrt. Es sei gut, dass die nun hinter ihm und seinen Leuten liege. Heute seien sie einfach unglaublich stolz auf das, was sie erreicht haben. „Die größte Überraschung am Boot ist das Rigg. Als wir es gebaut haben, war ich besorgt, ob ein so großer Mast handhabbar sein würde. Aber es fühlt sich sicher an. Hätten wir ‚Pellew‘ mit einem größeren Rigg ausgestattet, hätte sie uns irgendwann ernsthaft Angst gemacht. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir sie auch anderen Leuten zum Segeln überlassen können.“

Zurück auf den Carrick Roads, tut „Donna Capel“ zu Lukes Enttäuschung das einzig Richtige und ändert ihren Kurs, um uns sicher in Lee zu passieren. Als wir uns dann doch noch heranpirschen, fällt mir auf, wie wenig Bewegung am Ruder nötig ist, um den Kurs zu ändern. Obwohl die „Pellew“ ein so großer, schwerer Langkieler ist, reagiert sie erstaunlich agil. Dieser Eindruck bestätigt sich, als wir in der Bucht von Falmouth wenden und ich feststelle, wie leicht das geht.

Das Schiff verströmt das Flair eines vergangenen Zeitalters

Der Kutter hat in vielerlei Hinsicht etwas von einem Schaf im Wolfspelz: mit seiner turmhohen Takelage imposant anzuschauen, aber dennoch gutmütig zu segeln – wie es sich für ein Arbeitsboot seiner Abstammung gehört. „Pellew“ verhalte sich auf genau die gleiche Weise wie „Agnes“, kommentiert Luke. Eine bemerkenswerte Aussage, bedenkt man den Größenunterschied zwischen diesen beiden Booten.

Obwohl sie sich eng an das historische Vorbild, die „Vincent“, anlehnt, ist die „Pellew“ am Ende auch ein Luke-Powell-Design geworden und wird viele der Eigenschaften ihrer Schwester teilen. Das erklärt auch, warum Luke das 74-Tonnen-Gefährt nach nur ein paar Törns segelt, als wäre es nicht viel mehr als ein übergroßes Beiboot.

Schließlich kommen wir dann doch mit nur 20 Meter Abstand an „Donna Capel“ vorbei und werden mit dreifachen „Cheers“ belohnt. Nicht für meine Künste als Rudergänger, sondern für „Pellew“ selbst und für die Tatsache, dass sie hier ist und in ihren Heimatgewässern segelt – im Schatten des Corona-Virus und trotz aller Hindernisse, die ihr in den Weg gelegt wurden.

Dieser massive Gaffelkutter aus einer anderen Zeit ist nicht nur für die Segler Cornwalls von großer Bedeutung. Er steht in der Gemeinschaft der Traditionsschiffer vielmehr als ein Symbol dafür, dass man selbst während einer Pandemie mit Beharrlichkeit und Teamgeist Großartiges erreichen kann.

Bau der “Pellew”

Der Bau der „Pellew“ dauerte von Februar 2017 bis März 2020
Foto: workingsail.co.uk/Luke Powell

Die „Pellew“ hat ein historisches Vorbild und wurde als Ausbildungsprojekt gebaut

Der Bau der „Pellew“ dauerte von Februar 2017 bis März 2020. Die Idee dazu hatte Luke Powell schon zwanzig Jahre vorher. Mit „Pellew“ entstand der Nachbau des „Falmouth Pilot Cutter No 8 Vincent“. Der war 1852 an die Familie Vincent aus St. Mawes ausgeliefert worden. Bis 1922 fuhr das Original im Kanal vor der Küste Cornwalls als Lotsen­kutter zur See und geleitete einlaufende Schiffe nach Falmouth. Der Nachbau erfolgte nach den höchsten Standards und unter der Maßgabe, die Vorschriften für gewerblich genutzte Segelschiffe zu erfüllen. Die „Pellew“ soll künftig mit Jugendlichen und Erwachsenen als Ausbildungsschiff fahren.

Technische Daten der “Pellew”

Riss der “Pellew” | Zeichnung: workingsail.co.uk/LukeRiss der “Pellew” | Zeichnung: workingsail.co.uk/Luke
  • Konstrukteur: Luke Powell
  • Werft: Working Sail Ltd.
  • Rumpflänge: 20 m
  • Gesamtlänge: 27 m
  • LWL: 18 m
  • Breite: 5,5 m
  • Tiefgang: 3,1 m
  • Verdrängung: 74 t
  • Ballast: 23 t
  • Segelfläche: 325 m²
  • Motor: John Deere
  • PS: 125

Der Artikel erschien erstmals in YACHT 18/2021 und wurde für die Online-Version aktualisiert.

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