“Nerissa”Klassischer Cruiser/Racer mit bewegtem Leben

Marc Bielefeld

 · 26.05.2024

Der klassische Cruiser/Racer wurde vom Neuseeländer Arthur Robb 1962 gezeichnet
Foto: Nico Martinez/Martinez Studio
Die „Nerissa“ blickt auf eine bunte Geschichte zurück. Die Yacht gehörte schon einem Spion, dem italienischen Grafen Cinzano sowie einem englischen Wollfabrikanten. Heute segelt eine spanische Familie die Schönheit

Es gibt wahrlich schlimmere Orte, um sich in Zeiten der Pandemie den Geboten der Abstandswahrung zu unterwerfen. Im Januar 2021 steckt Barcelona gerade mitten in der dritten Corona-Welle, als Familie de Vincentiis beschließt, die hektische Stadt zu meiden und wieder auf ihr alt­vertrautes Heim zu ziehen. Das Heim schwimmt, ist 16,30 Meter lang, 3,85 Meter breit und liegt unten an einem der letzten Stege des Königlichen Yachtclubs von Barcelona. „Wir gehen höchstens noch mal kurz zum Einkaufen in die Stadt“, sagt Leonardo García de Vincentiis, der Eigner der Yacht. „Ansonsten leben wir wieder komplett auf unserem Schiff. Sicher ist sicher.“ Selbstverordnete Quarantäne.

Christina und Morina sind an Bord, die beiden Töchter der Familie. Sie sind auf der Yacht groß geworden. Heute studieren sie eigentlich, aber während des Lockdowns haben die Unis in Barcelona geschlossen, und außerdem lässt sich Homeschooling auch bestens von einer alten, klassischen Yacht aus erledigen. Also haben die beiden wieder das Vorschiff bezogen – wie früher, als sie als junge Mädchen das Mittelmeer durchstreiften. „Sorry“, sagt Vater Leonardo, 59. „Vorn könnte es etwas aufgeräumter sein, aber was soll man machen?“

Meistgelesene Artikel

1

2

3


Auch interessant:


Segelsäcke liegen auf den Kojen, auf­geschossene Schoten hängen an der Innenbeplankung, davor ein Wust aus Jeans, Taschen, Turnschuhen, Laptops, Ladegeräten, Handys. Eine alte Yacht als Studentenbude und Familienobdach, so schön kann es während der Pandemie zugehen, und plötzlich riecht das ganze Leben wieder nach Lack und Petroleum, nach Hafen und Meer, das sich gleich hinter der Mole öffnet.

Die Familie lebt an Bord, wo die Töchter auch studieren

Man bewegt sich großzügig durchs Schiff. Über den Holzboden, durch den kleinen Passageway in den Salon. Überall Stehhöhe, überall Holz. Das Barometer, die Skylights, die Dorade-Lüfter und die Bullaugen, alles ist noch original wie im Jahr 1965, als die ominöse Yacht das erste Mal ins Wasser glitt. Auch die Kajütbeleuchtung stammt aus den guten alten Tagen. In Bronze gefasste Halbmonde aus Milchglas. Hinten steigt Cecilia gerade übers Heck an Bord, Leonardos Frau und Mutter der beiden Töchter. Seit 1994 ist sie ebenfalls mit dem Schiff verwachsen. Damals kauften die Vincentiis die Yacht, und seitdem dient die „Nerissa“ ihnen immer wieder als Zuhause. Über Monate, teils über Jahre.

Lebensmittelpunkt an Bord ist die Pantry, die sich nahtlos an den Salon anschließt. Weiße Lederpolster, ein Bücherregal, an dem neben einem kleinen Halbmodell und zwei bunten Mittelmeermotiven noch der Weihnachtsschmuck baumelt. In der Kombüse hängen Siebe, Kochlöffel, Töpfe, in den krängungssicheren Schapps stecken Teller, Becher, Gewürze, und auf dem kardanischen Gasherd wird gerade frischer Kaffee gebraut. Keine Frage, es steckt noch immer reichlich Leben in dieser seegehenden Bude, die da auf langem Kiel im Hafen dümpelt – und deren Grandezza man erst so richtig erkennt, wenn man durchs Steuerhaus ins Cockpit steigt, über Deck geht und sich das Schiff in Gänze besieht.

Der 16,30 Meter lange Cruiser/Racer ist weiß gestrichen, die Aufbauten sind klar lackiert. Den sich nach achtern beinahe erotisch verjüngenden Riss hat sich eigentlich nur ein Fan alter englischer Sportwagen ausdenken können. Designt hat die Yacht Arthur Robb, ein neuseeländischer Konstrukteur, der sich in England einen Namen machte und auch erfolgreich Yachten für den America’s Cup zeichnete. Bekannt wurde Robb vor allem durch seine Lion Class, doch entwarf er noch diverse andere Yachten.

Alain Delon und Brigitte Bardot würden gut an Deck passen

Deck und Rumpf sind komplett aus Teak gefertigt, Bodenwrangen und sämtliche Beschläge aus Monel gegossen. Die Yacht sollte damals den höchsten Ansprüchen genügen und als Tourenschiff sämtlichen Luxus bieten. Eine große Eignerkabine, Gästekabine, dazu sechs kleine Kojen für Crew und wei­tere Deckshände. Die Ankerwinde läuft ­hydraulisch, angetrieben vom Motor. Kühlschrank, Gefriertruhe. Eine kapitale 30-Watt-­Funkanlage. Hinzu kommt fließendes Wasser, kalt und warm, samt Innendusche. Mitte der sechziger Jahre bedeutete dies äußersten Komfort, vor allem, da die Yacht gleichzeitig auch noch schnell, hochseefest und regattatauglich sein sollte.

Arthur Robb designte sie dafür nach den Richtlinien der International Cruiser/Racer Rule, der RORC Rule sowie den CCA-­Richtlinien, wonach die Yacht so ziemlich überall auf der Welt hätte an den Start gehen können, sogar beim Sydney Hobart Race. Eine ehrenhafte Aufgabe, so ein Schiff bauen zu dürfen. Den Auftrag bekam 1962 die Werft Beltrami im italienischen Genua, erteilt hatte ihn ein Engländer namens Bill Whit­house-­Vaux. Und der segelverrückte Herr schien damals eine ganz besondere Yacht haben zu wollen.

Konzipiert wurde sie ursprünglich als Yawl. Ein Schiff wie ein mondänes Rennpferd, das die frivole Leichtigkeit der sechziger Jahre bis heute ausstrahlt wie wenige andere seiner schwimmenden Zeitgenossen. Da könnten Alain Delon und die Bardot an Deck sitzen, zwei eiskalte Campari in den Händen. Das Bild wäre filmreif und noch immer absolut authentisch.

Leonardo García de Vincentiis geht über sein Schiff, blickt den Mast hoch. Er kennt inzwischen jede Schraube an Bord – wie auch jedes Kapitel im Leben seiner alten „Nerissa“.

Der segelnde Spion und die italienische Yacht

Nachdem die Yacht 1962 in Auftrag gegeben worden und die Beplankung halb fertig war, verschwand der angehende Eigner einfach von der Bildfläche – und auf einmal floss kein Cent Geld mehr. Auf der Werft stellte man die Arbeit ein und fragte sich entgeistert: Wo zum Teufel ist Mister Whit­house-Vaux? Dieser englische Gentleman, der die Yacht bis ins Detail geplant und so euphorisch in Auftrag gegeben hatte? Doch keine Spur mehr von dem Mann. Über ein Jahr stand das Boot halb fertig in einem Schuppen.

Bis heute sind die Umstände ungeklärt. Doch genau in dieser Zeit spitzte sich die Kuba-Krise zu, und obwohl es nie ans Tageslicht kam, geht man davon aus, dass Mister Whithouse-Vaux als englischer Spion tätig war und kurzerhand andere Dienste zu verrichten hatte, als sich um den Bau seiner Yacht zu kümmern.

Der segelnde Spion und die italienische Yacht – eine Geschichte wie aus einem schlechten Krimi. Doch dann tauchte dieser Whithouse-Vaux nach zwei Jahren plötzlich wieder auf. Als sei nichts gewesen. Als habe er nur mal einen kleinen Abstecher gemacht. Geld war schnell wieder zur Stelle, der Bau ging weiter, und 1965 wurde die stolze Robb-­Yacht ins Wasser gelassen. Ihr erster Name damals: „Mistress Quickly“, die schnelle Liebhaberin. Ihr damaliger Eigner hatte seinen Liegeplatz an der Peninsula de Argentario im Tyrrhenischen Meer zwischen Elba und Rom. 15 Jahre segelte er die Yacht, rüber nach Sardinien und Korsika, die italienische Riviera entlang Richtung Côte d’Azur, dann wollte Whithouse-Vaux wieder verkaufen. Die Gründe sind unbekannt, keineswegs aber der Name des nächsten Eigners der Yacht, dessen Herkunft schillernder kaum sein könnte.

Die Yacht erwarb der Graf Enrico Marone Cinzano, niemand anderes als ein Abkömmling der berühmten italienischen Cinzano-Dynastie, die den weltberühmten Vermouth auf den Markt bringt und obendrein mit dem Fiat-Clan verbandelt ist. Weitere Verbindungen führen zur spanischen Königsfamilie sowie zum früheren argentinischen Präsidenten José Figueroa Alcorta. Der Graf suchte Ende der siebziger Jahre eine entsprechende Yacht für kleinere Touren im Mittelmeer, in Argentario fand er sie und taufte sie auf den Namen „Nerissa“. Cinzano behielt die Yacht zehn Jahre lang, starb schließlich bei einem Autounfall, und die „Nerissa“ ging wieder an einen Engländer: diesmal an einen britischen Wollfabrikanten, der die hochseetaugliche Yacht übernahm und mit ihr um die Welt segeln wollte.

Seetauglich sollte das Schiff zudem sein, nicht zu klein und natürlich: schön

Der britische Unternehmer aber ging 1990 mitsamt seiner Fabrik pleite – und die hölzerne Segelyacht war das Einzige, was er überhaupt noch besaß. Teilweise lebte der blanke Ex-Wollfabrikant sogar auf dem Schiff, das inzwischen im französischen Ville­franche an der Côte d’Azur lag, den Namen „Rubin“ trug und nun abermals zum Verkauf stand. Und dies war nun die Zeit, als Leonardo auftauchte. Denn er suchte damals dringend ein Schiff, um mit Chartertörns im Mittelmeer sein Geld zu verdienen.

Er hielt Ausschau nach einem Klassiker, seetauglich sollte das Schiff zudem sein, nicht zu klein und natürlich: schön. Als er den schnittigen Cruiser/Racer sah, war es sofort um ihn geschehen. Und so fand zusammen, was bis heute zusammengehört: eine Bootsliebe, die inzwischen seit 27 Jahren hält. „Das Boot war damals in perfektem Zustand“, sagt Leonardo. Er taufte das Schiff zurück auf den Namen „Nerissa“. Der makellose Zustand war vor allem einer Neurose des Grafen Cinzano geschuldet. Als die Yacht in dessen Händen war, hatte er jedes Jahr ein, zwei Gutachter kommen lassen, die ihm attestieren mussten, dass alles an Bord in Bestzustand war. Angeblich gab es jedes Mal nach so einem Gutachten ein rauschendes Fest. Und falls nur mal ein Seeventil klemmte, wurde auch dies behoben.

“Nerissa“ segelt als Slup durchs Mittelmeer

So also segelten Leonardo und seine Frau Cecilia bald mit einer piekfein gepflegten mediterranen Schönheit davon, nahmen an klassischen Regatten teil, lebten von der ersten Stunde an Bord und kreuzten durchs gesamte Mittelmeer. Aus den Chartertörns allerdings wurde nichts, denn bald kamen die beiden Töchter zur Welt. Die „Nerissa“ wurde zum segelnden Familiendampfer, während Leonardo, ein erfahrener Segler, sich bald für Überführungen verdingte, in der Segelbranche tätig wurde und auch selbst Boote vermittelte. Vor allem: Er und Cecilia trennten sich nie von der Tugend, Lebenskünstler auf dem Wasser zu sein. Mit wenig auskommen. Kein dickes Auto an Land, keine teure Wohnung. Dafür: Leben an Bord, segeln. Monatelang, jahrelang.

Hinterm Cockpit sitzt noch immer der Mastfuß für den Besanmast. Der erratische Mister Whithouse-Vaux hatte ihn entfernen lassen, angeblich, weil er zu schwer war für das Boot. Statt Yawl segelt die „Nerissa“ seither als Slup durchs Mittelmeer. „Eines Tages holen wir den Besanmast wieder ab“, sagt Leonardo. „Der Besanmast nämlich liegt noch immer bei Bertrami drüben in Italien.“ Einmal quer über das Mittelmeer – für eine wie die „Nerissa“ ist das ein Katzensprung.


Technische Daten der “Nerissa”

Positiver Sprung, geringer Freibord, geschwungener Steven: Linien zum NiederknienFoto: Nico Martinez/Martinez StudioPositiver Sprung, geringer Freibord, geschwungener Steven: Linien zum Niederknien
  • Konstrukteur: Arthur Robb
  • Typ: Bermuda-Slup
  • Werft: Can. Vincenzo Beltrami
  • Baujahr: 1965
  • Bauweise: Teak/Eichenspanten
  • Rumpflänge: 16,30 m
  • Wasserlinienlänge: 12,20 m
  • Breite: 3,85 m
  • Tiefgang: 2,39 m

Der Artikel erschien erstmals in YACHT 21/2021 und wurde für die Online-Version aktualisiert.


Meistgelesen in der Rubrik Yachten