Kopenhagen im Spätsommer 2015: Mare TV dreht eine Dokumentation über die glücklichen Einwohner der Hafenmetropole am Øresund. Neben einem Miesmuschelzüchter und einer betagten Dame, die im Hafenbecken ihre Bahnen zieht, wird auch Jochen Gaßner, Inhaber einer dreistöckigen Garage für Motorboote, porträtiert. Selbst besitzt der deutsche Auswanderer einen alten Gaffelkutter, auf dem er die Filmcrew zu einem kleinen Feierabendtörn einlädt. Kameramann Florian Melzer zeigt sich begeistert von dem restaurierten Schmuckstück aus den dreißiger Jahren. „So was kannst du hier kaufen, die meisten Dänen wollen ihre Holzboote loswerden“, sagt Gaßner.
Am nächsten Tag stehen die beiden vor einem alten 20er-Klassenspitzgatter in Ishøj, nahe der dänischen Hauptstadt. Mit seinem Schraubenzieher prokelt der Wahl-Däne nickend im Holz: „Joa, nicht schlecht. Kannst du machen!“ Melzer kommt sich ein wenig überrumpelt vor und wähnt sich im falschen Film. Gaßner hatte ihn förmlich hergeschwatzt, und dieses Objekt hatte auf den ersten Blick mehr mit einem Bretterverschlag gemein als mit einem Segelboot. „Lass es“, sagt er sich, „lass es einfach sein.“ Ein eigenes Boot hat er nie besessen, und segeln kann er auch nicht.
Zwar hatte der Filmschaffende in seiner Kindheit zusammen mit dem Großvater Modellsegelboote gebaut und ist seitdem von der Ästhetik klassischer Yachten fasziniert – aber sich ohne jegliche Erfahrung so ein Projekt ans Bein binden? „Der kleine Schatz ist aus dem Baujahr 1946 und eine absolute Rarität – konstruiert von M.S.J. Hansen“, so die Frau des mittlerweile bettlägerigen Eigners. M.S.J. wer? Das Einzige, was Melzer zu diesem Zeitpunkt an dem Boot reizt, ist dessen Preis: 5.800 Kronen, umgerechnet rund 770 Euro.
Doch „Hængi“, so der Name des Bootes, lässt ihn nicht mehr los. Melzer recherchiert, dass Marius Sofus Johannes Hansen, so sein voller Name, neben Aage Utzon in den dreißiger und vierziger Jahren zu den bekanntesten Bootskonstrukteuren Dänemarks gehörte. Während Utzon die schnellsten Spitzgatter entwarf, stand Hansen in dem Ruf, die schönsten zu zeichnen. Von denen haben zwar noch einige bis heute überlebt, ein zweiter 20er-Klassenspitzgatter jedoch nicht.
Zwei Tage später auf dem Heimweg nach Hamburg muss die Entscheidung fallen, bevor die Idee im Alltag zu versanden droht. Melzer erinnert sich an seine zwiespältigen Gefühle: „Ich träumte schon ewig davon, einmal ein altes Segelboot zu restaurieren. Andrerseits war ich sechs Monate im Jahr beruflich auf Reisen und hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einlasse. Aber ich wollte auch nicht immer nur die schönen Dinge anderer Leute filmen, sondern mal etwas für mich ganz allein machen.“ Kurz vor Hamburg fasst sich Melzer dann ein Herz und sagt per Telefon zu. Das Abenteuer kann beginnen!
Eine Woche später steht der Spitzgatter samt durchgerottetem Hafentrailer auf einem Anhänger und wird mit Gurten und Keilen nach bestem Gewissen gesichert. Dazu gibt es noch eine Kiste mit den Originalbeschlägen und die Bitte, sich gut um das Boot zu kümmern. Auf die Frage, was der Name „Hængi“ bedeutet, antwortet die Frau des Eigners lächelnd und mahnend zugleich: „Gib nicht auf. Bleib dran. Gib dein Bestes!“
Die Überführung ins Winterlager im niedersächsischen Wildeshausen wird gleich zur ersten Bewährungsprobe. Sturmböen und Starkregenschauer fallen regelmäßig über das fragile Gespann her, sodass auch die Nervosität des Neueigners beständig neue Wellen schlägt. Immer wieder der bange Blick in den Rückspiegel, ob sich Boot und Anhänger nicht aufschaukeln. Die Angst ist groß – besonders auf den exponierten Beltbrücken. Doch alles geht gut. Erst beim finalen Trailermanöver kommt es zum Malheur, als „Hængis“ Ruderaufhängung ein Loch in die Scheunenwand schlägt. „Na dann haben wir endlich Licht in der Scheune“, kommentiert der Besitzer trocken.
Die erste Erkenntnis, die der gänzlich unerfahrene Restaurator machen wird, ist, dass es nicht nur viele Experten gibt, sondern auch viele Meinungen. Doch auf wessen Stimme soll er hören? Ein Bekannter seines Vaters, ein Bootsbauer aus Süddeutschland, hatte ihm vorgeschlagen, die gebrochenen Spanten mit 12 bis 14 Millimeter starkem Bootsbau-Sperrholz zu schienen. Voller Elan legt sich Melzer ins Boot, bastelt aus Pappe für jeden Spant eine Schablone, sägt die Verstärkungen anschließend aus eigens gekauftem Sperrholz aus und passt sie liebevoll an. Stolz schickt er sogleich Fotos von seinem ersten Werk an Gaßner in Kopenhagen. „Schönes Modell. Damit kannst du jetzt in den Wald gehen und dir Krummholz aus einem vernünftigen Holz suchen, um von vorn anzufangen.“ Von dieser Reaktion erst einmal bedient, belässt Melzer die Sperrhölzer vorerst im Boot. Bis der nächste Bootsbauer vorbeikommt und ihm nahelegt, damit in den Wald zu gehen und Holz zu suchen. Schließlich findet Melzer geeignete Krummhölzer aus Eiche, die den erhobenen Daumen von gleich zwei Bootsbauern bekommen.
Zwei weitere Tipps stellen sich langfristig als wertvoll heraus. Zum einen, die Kosten klein zu halten, um das Projekt nicht zu gefährden. Und zum anderen, das Boot nicht kaputt zu restaurieren, sondern alles zu retten, was noch brauchbar ist.
Wochen, Monate und Jahre vergehen. Und wann immer Florian Melzer zwischen seinen Drehreisen Zeit findet, fährt er von Hamburg zu seinem Boot in Wildeshausen. Die meiste Zeit verbringt er mit Schleifen und Streichen, wobei ihm seine zwei Kinder unter die Arme greifen. Oft sitzt er aber auch einfach auf einem Klappstuhl davor, um es in aller Ruhe zu betrachten. „Du sitzt ja immer nur vor deinem Boot und machst gar nichts“, entfährt es einem Besucher. „Ja, ich muss auch erst einmal gucken und es begreifen. Und wer sagt denn, dass es jemals fertig sein soll?“
Während einer Filmproduktion auf den Azoren lernt der Kameramann im legendären Segler-Treffpunkt „Peter Café Sport“ zwei Blauwassersegler unterschiedlichster Couleur kennen. Den grenadischen Solosegler Joel Mark, der mit einer selbst gebauten Nussschale den Nordatlantik bezwang, sowie den Deutschen Sven Junge, der mit einer vorzüglich ausgestatteten Fahrtenyacht auf Langfahrt war. Und der stellt dem Langzeitrestaurator die Frage, ob er segeln oder basteln wolle. Auch wenn die Frage einen despektierlichen Unterton hat, sie stachelt Melzer an und bringt ihm die Bedeutung von „Hængi“ wieder in den Sinn: Gib nicht auf. Bleib dran. Gib dein Bestes!
Zurück zu Hause, nimmt das Projekt wieder Fahrt auf. Da zwei 2,80 Meter lange Planken so große Risse aufweisen, dass sie ausgetauscht werden müssen, sucht Melzer den Rat des renommierten Bootsbaumeisters Bernd Thal aus Hamburg. Der kommt bei der Besichtigung des Spitzgatters mit Melzers Sohn Justus ins Gespräch, der gerade die Schule geschmissen, aber noch keine Alternative vor Augen hat. Thal bietet dem handwerklich begabten Jungen an, bei der Restaurierung eines Jugendwanderkutters einzusteigen. Zweimal die Woche arbeitet der 16-Jährige fortan bei dem Sozialprojekt mit. Das gibt seinem Leben wieder Struktur, und er erfährt Wertschätzung. So motiviert, holt er sein Fachabitur nach und beginnt in Leipzig Maschinenbau zu studieren. „Ohne ‚Hængi‘ hätte sich das alles bestimmt nicht so wunderbar gefügt“, sagt sein Vater mit einem Augenzwinkern. Die zwei gerissenen Planken operiert Melzer schließlich selbst vorsichtig Niet für Niet aus dem Rumpf, um sie als Vorlage für die neuen nehmen zu können.
Für drei letzte Jahre wird der dänische Klinkerbau schließlich auf das Werftgelände von Bernd Thal nach Hamburg-Allermöhe verholt. Auch wenn der Holzbootspezialist mit Rat und Tat zur Seite steht, muss Melzer weiterhin seine eigenen Erfahrungen machen und aus Fehlern lernen. „Ich hätte nie gedacht, dass die Restaurierung eines so kleinen Bootes so viel Arbeit bedeuten würde, und auch nicht, dass man so viel Neues darüber lernt. Bootslack zum Beispiel. Beim letzten Anstrich habe ich mir erst das Begleitheft durchgelesen, um zu erfahren, wie man den verdünnen muss, damit er richtig einzieht. An manchen Stellen sieht man heute noch das Resultat meiner damaligen Unwissenheit.“
Da das Boot jetzt draußen steht, wird auch das Wetter zur Herausforderung. Nachdem die Scheuerleisten mehrmals lackiert und mühsam wieder montiert wurden, setzt Regen ein, und Melzer versucht sein Tageswerk mit einer Plane zu schützen. Am nächsten Tag klebt die Plane auf den Leisten, und die Arbeit geht wieder von vorn los. Die großen Katastrophen bleiben jedoch aus, auch wenn die Nerven mal blank liegen oder sich das Gefühl einschleicht, nie fertig zu werden. „Im Frühjahr sind immer alle anderen ab ins Wasser und segeln gegangen, während ich auf meinem Stuhl hocken blieb.“ Als der Rumpf im Sommer 2022 immer weiter austrocknet und sich dabei neue Risse im Holz auftun, wird klar, dass es höchste Zeit ist, „Hængi“ endlich wieder ins Wasser zu bringen. Um größere Schäden zu vermeiden, benässt Melzer das Schiff regelmäßig mit einem Eimer.
Da es keine Zeichnungen und Segelpläne mehr gibt, werden die neuen Tücher anhand der sich aus Mast und Baum ergebenden Lieklängen und nach Vorbild der alten Fotos genäht. Wo die Holepunkte positioniert waren, weiß heute auch keiner mehr – sie werden nach Gefühl gesetzt. Noch mehr Kreativität ist gefragt, als das Boot im neuen Heimathafen Weiße Wiek in Boltenhagen ankommt und dringend eine Persenning vonnöten ist. Da mitten in der Saison alle Segelmacher ausgebucht sind, kauft Melzer kurzerhand wasserfesten Stoff und bringt ihn zur Änderungsschneiderei, die sonst seine Hosen umnäht. Nach einigem Hin und Her lassen sich die Schneider darauf ein und nähen einen Schutzbezug, der sich sehen lassen kann und seinen Zweck zumindest vorerst erfüllt.
Beim Probeschlag in der Wismarer Bucht regt sich kaum ein Lüftchen, und doch gleitet „Hængi“ federleicht über das Wasser, was auch daran liegt, dass der Innenausbau noch fehlt. Das Plätschern am geklinkerten Rumpf wird durch diesen hohlen Resonanzkörper angenehm verstärkt und ist die perfekte Begleitmusik für den sonnigen Segeltag. Selbst unter Motor wird das Klangerlebnis nicht gestört, da Eigner Melzer sich für einen elektrischen Außenborder entschieden hat.
Der wiederauferstandene M.S.J.-Hansen-Spitzgatter von 1946 strahlt nun frisch restauriert im hellsten Weiß mit dem stolzen Eigner um die Wette. Während die knuffige Dänin im Profil einem spitzen Holzschuh ähnelt, offenbart sich die Bootsbaukunst insbesondere am Heck, wo die Planken sich elegant zum Achtersteven aufschwingen, an den sich die Ruderaufhängung passgenau anschmiegt. „Ich kann es kaum glauben, dass sie jetzt wirklich schwimmt. Ich hatte die Befürchtung, dass sie sofort auf Tiefe geht“, sagt Melzer.
Was genau der Kreativgeist von Mare TV mit dem Boot in Zukunft vorhat, weiß er selbst noch nicht. „Erst einmal richtig segeln lernen und dann mal schauen, wohin mich ‚Hængi‘ führt.“ Melzer lacht: „Ich muss ja erst herausfinden, ob Segeln auf Dauer das Richtige für mich ist. Nächstes Jahr werde ich mich vorsichtig herantasten und längere Törns in Angriff nehmen.“ Dafür sollen im anstehenden Winter Bodenbretter gebaut werden, um darauf schlafen zu können. Dazu ein Trangia-Kocher, mehr nicht. Spartanisch soll es bleiben.
„Der Weg hierher mit seinen unendlich vielen schönen und lehrreichen Nachmittagen, aber auch all den Tagen in der dunklen Jahreszeit, an denen ich mutterseelenallein am Boot rumprokelte – das war eine einzigartige Reise, die ich nicht missen möchte!“ Auch wenn die Arbeit ein Fixpunkt für die Familie und ein guter Ausgleich zu seinen Filmreisen war, wird „Hængi“ wohl ein Once-in-a-lifetime-Projekt für Melzer bleiben: „Noch mal würde ich solch einen Aufwand nicht stemmen wollen. Aber sollte sich wirklich eine glühende Segelleidenschaft entfesseln und ich meinem Boot treu bleiben, dann habe ich allein mit der Erhaltung ein nie endendes Projekt vor der Brust.“ Hængi – bleib dran!