Longboat “Epic”Wenn der Törn in einem offenen Boot Lebensschule wird

Dieter Loibner

 · 09.08.2025

Acht Jugendliche besetzen die Riemen, wenn das traditionelle Longboat ohne Segel in Fahrt gehalten werden soll.
Foto: Dieter Loibner
Auf dem Longboat „Epic“, einer schonergetakelten Gig, stellen sich Jugendliche an der US-Westküste den Herausforderungen eines Abenteuers – und lernen dabei fürs Leben.

Eins-zwei-drei-vier …“ Die Stimmen der jungen Crew hallen im Chor übers Wasser und die Zedernholzriemen biegen sich bedenklich. Alle legen sich mächtig ins Zeug, um im Takt zu rudern und ihr Longboat „Epic“ gegen zünftig Strom vorwärtszupeitschen. In diesem Moment, am Beginn einer fünftägigen Reise durch die Gewässer des Puget Sounds im US-Bundesstaat Washington, zeigen sich die Früchte des gemeinsamen Trainings, das die Besatzung zuvor absolviert hat. Dabei ging es nicht darum, möglichst viele Meilen abzuhaken, sondern um die Vertiefung des Gelernten in der Praxis. Und um Teamwork, Selbstständigkeit, Führungsverhalten und eine Auszeit von Bildschirmen und Unterhaltungselektronik.


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Im Rotationsprinzip nehmen die Teilnehmer alle anstehenden Jobs an Bord und an Land wahr und sind abwechselnd Bootsmann, Navigator, Smut oder Naturkundler. Ein Gesundheitsbeauftragter achtet auf Ernährung und Sonnenschutz. Und jeder ist mal damit dran, das Kommando zu führen, Aufgaben zu delegieren und bei Hafenmanövern am Steuer zu stehen. Nach Ende des Tagewerks sitzen alle ums Lagerfeuer, um Eindrücke und Erlebnisse zu schildern und dabei sich selbst und die Kollegen respektvoll und konstruktiv zu kritisieren. Auch ohne militärischen Drill herrscht die für den reibungslosen Betrieb nötige Disziplin.

Community Boat Project bietet Erlebnispädagogik

Ohne es direkt auszusprechen, beziehen sich die Veranstalter auf eine Erfahrungspädagogik, die zumindest zum Teil von den Ideen des deutschen Reformpädagogen Kurt Hahn inspiriert ist. Der Mitbegründer des Internats Schloss Salem entwarf ein Bildungskonzept, das neben akademischem Wissen auch Verantwortungsbewusstsein, Kooperation und Handlungsbereitschaft vermitteln soll. Der Weg dorthin führt über gemeinschaftliche Aktivitäten in freier Natur, etwa Wanderungen in der Wildnis, Kletterabenteuer oder eben Törns in einem offenen Boot. Die Ausbildungsziele sind dabei stets dieselben: Selbstfindung, Umgang mit Erfolg und Misserfolg, Gemeinschaft vor Individualität und bewusster Verzicht auf Privilegien.

Nach der Verhaftung und Vertreibung durch die Nationalsozialisten emigrierte Hahn nach England, wo er seine Karriere als Erzieher fortsetzen konnte, Schulen gründete und 1941 gemeinsam mit Lawrence Holt den Grundstein für Outward Bound legte, heute eine der weltweit größten Organisationen für erlebnispädagogische Abenteuerreisen.

Der Schulungstörn mit Longboat „Epic“ wurde vom Community Boat Project in Port Hadlock organisiert, einer gemeinnützigen Organisation, die einerseits kostenlose Tischlerkurse für Mittelschüler anbietet und andererseits unter dem Banner Puget Sound Voyaging Society Studenten im Segeln, Rudern und in Meereskunde unterweist. „Große Entfernungen sind weniger wichtig als die Möglichkeit für Teilnehmer, Erfahrungen zu sammeln“, erklärt Chef-Instruktorin Nahja Chimenti, 36, eine gelernte Segelmacherin und die verantwortliche Leiterin dieser Abenteuerfahrt. „Müssen sie sich auf dem Weg zum Tagesziel zu sehr verausgaben, bleibt weniger Zeit für den Genuss.“ Deshalb wurden die Tagesetmale auf sehr moderate Distanzen von drei bis fünf Seemeilen begrenzt.

Gebrauch von elektronischen Geräten ist unerwünscht

Chimenti wuchs an Bord des 48-Meter-Rahseglers „Tole Mour“ auf und begleitete im zarten Alter von drei Jahren ihren Vater, Wayne, damals Kapitän des Schiffes, in die Rahen, weil sie darauf bestand, ihren Geburtstag in luftiger Höhe zu feiern. Später ließ sich die Familie auf Marrowstone Island nördlich von Seattle nieder, wo sie sich zum Teil autonom versorgt und ein weitläufiges Anwesen bewohnt, auf dem neben einfachen Holzhäusern samt Komposttoiletten auch Platz ist für eine Biofarm, eine Segelmacherei, die Traditionsschiffe beliefert, und eine geodätische Kugel für Konzerte, Lesungen oder Yogakurse.

Nach „Tole Mour“ übernahm Wayne das Kapitänsamt auf dem 41-Meter-Ausbildungsschoner „Adventuress“ in Seattle und war federführend an der Gründung des Community Boat Projects und der Voyaging Society beteiligt, denen er jahrelang vorstand. Kostenloses Lernen ist in den USA keine Selbstverständlichkeit, doch bisher gelang es dem Community Boat Project, mit staatlichen Zuschüssen und der Unterstützung durch Firmen und private Gönner, kostendeckend zu agieren.

„Das ist das Tolle an Port Townsend“, sagt der mittlerweile pensionierte Kapitän Wayne Chimenti. „Geniale Konstrukteure wie Kit Africa, Jim Franken oder Ed Louchard helfen ehrenamtlich und zeichnen alles auf eine Serviette. Dazu kommen Bootsbaumeister wie Jeff Hammond und Ray Speck, die ebenfalls ihre Zeit für den Unterricht opferten.“ Weil aber Bedarf an erschwinglichem Wohnraum auch in dieser etwas abgelegenen Gegend eklatant ist, bauen die Studenten derzeit meist Tiny Houses.

„Lerne was, mach etwas und lehre andere“, sagt Nahja und lacht. Als Ausbilderin, so sagt sie, dürfe sie den Studenten nicht im Weg stehen. Es sei wichtig, ihnen Handlungsfreiheit zu geben, damit sie lernen, Abläufe zu perfektionieren, selbstständig zu denken und der gesamten Gruppe eigene Vorschläge zu präsentieren. Der Gebrauch von elektronischen Geräten ist, mit Ausnahme solcher zu navigatorischen Zwecken, unerwünscht. Die Teilnehmer müssen daher mitkoppeln und stets den aktuellen Bootsstandort auf Seekarten aus Papier eintragen.

Longboat “Epic” von Studenten gebaut

Das passt hervorragend zu einem Gefährt wie Longboat „Epic“, einer modernen Version der traditionellen Gigs, die zur Zeit der Kolonialisierung Nordamerikas von europäischen Entdeckern wie George Vancouver für die Detailerkundung der Küstengewässer eingesetzt wurden.

Das 9,70 Meter lange Boot hat eine Stagsegelschoner-Takelung, die bis zu 37 Quadratmeter Tuch trägt. Außerdem kann es von acht Riemen angetrieben werden. Der flachbodige Rumpf wurde von Ed Louchard konstruiert und von Studenten aus Sperrholz-Epoxy gebaut, mit einer Außenhaut aus GFK. Ein Mittelschwert hilft beim Aufkreuzen und lässt sich in seichtem Wasser bzw. bei Strandlandungen hochziehen.

„Steuerbord stopp, Backbord vorwärts – los!“, lauteten die Befehle von Emilia Ramsey, 20, die das Kommando auf dem Weg von Fort Flagler nach Mystery Bay innehat und zur Feier des Tages den kleinen Jollenspinnaker setzen lässt, der am Fockmast gefahren wird. Wie ihre Kollegen besuchte Ramsey örtliche Schulen und wählte einen praxisorientierten Lehrplan mit nautischem Bezug. Danach nahm sie eine Auszeit, um „Dorjun“, ein acht Meter langes Holzboot mit geklinkertem Rumpf, auf Vordermann zu bringen. Das wurde 1905 an der Ostküste als Rettungsboot gebaut und eingesetzt. Emilia bekam „Dorjun“ vom Northwest Maritime Center mit dem Auftrag vermacht, es zu restaurieren.

Kurse helfen bei der Persönlichkeitsentwicklung

„Ich habe am Girls’ Boat Project und am Bravo Team teilgenommen und dann ein Praktikum bei der Segelmacherei absolviert“, erzählt sie über ihren bisherigen Werdegang. Beim Community Boat Project traf sie Gabriel Hefley, 21, der einen ähnlichen Weg einschlug. „Diese Programme helfen bei der Persönlichkeitsentwicklung und auf dem weiteren Lebensweg“, so Hefley.

Doch davon ist am Ende des ersten Reisetages nicht die Rede, als die Crew Longboat „Epic“ am Kinney Point mit vereinten Kräften auf den Strand schiebt. „Eine derartige Reise führt aus der persönlichen Komfortzone“, sagt Dylan Smith, 29, der Chimenti auf dieser Fahrt als Maat unterstützt. „Es ist okay, sich abzumühen und dabei Fehler zu machen, doch ältere Schüler helfen, indem sie jüngere unter ihre Fittiche nehmen – ein wichtiger Aspekt.“

Nachwuchsprobleme seit Covid

Drei Tage später, nach der Umrundung von Marrowstone, schlägt das Wetter um, weshalb die Reise aus Sicherheitsgründen verkürzt wird. Zeitweise gießt es aus Eimern und es ist Sturm angesagt. Doch die Zwillingsschwestern Eugenia und Viola Frank, 21, behalten gute Laune. Sie sind in den College-Ferien und nehmen als Absolventinnen des Programms an dieser Reise teil. „In der Schule hatten wir Freunde im Community Boat Project, also meldete uns unsere Mutter einfach an“, erinnerte sich Eugenia. „Nach ein paar Jahren stiegen wir zu Assistentinnen auf und blieben bis zum Abi“, sagt Eugenia. Und Viola, die eine Minute nach ihrer Schwester geboren wurde, ergänzt aus ihrer Sicht, dass dieses Programm ihr „einen Vorsprung verschaffte und die Studienwahl inspirierte, weil ich die Natur studieren konnte und Zeit im Freien verbrachte“.

Dass Absolventen des Programms für eine Reise mit deutlich jüngeren Studenten anheuern, deutet allerdings auf ein Nachwuchsproblem hin: Andere Veranstalter ähnlicher Touren mussten seit Covid mangels Teilnehmern den Betrieb einstellen, und auch die Puget Sound Voyaging Society muss zusehen, dass das Klassenzimmer voll ist. Laut Webseite sollen jährlich bis zu 45 Studenten betreut werden, wobei auch zehn bezahlte Praktika vergeben werden.

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Dabei stellten die Studenten unter tatkräftiger Mithilfe von Freiwilligen bisher sechs Boote und 18 Tiny Houses fertig. „Unser Fokus liegt darauf, dass Studenten Werkzeug in der Hand halten und etwas erschaffen“, erklärt Geschäftsführer Brent Bellamy, Wayne Chimentis Nachfolger. Neben Handwerk, so Bellamy, werden im Community Boat Project auch Bürgerinitiative und soziale Kompetenz geschult.

Daneben sollen aber auch weiterhin mehrtägige Bootstouren stattfinden, bei denen die Teilnehmer nicht nur rudern und segeln, sondern auch Teamgeist und Führungsverhalten lernen und Selbstvertrauen tanken, um ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Feinfühliger Segeltrimm und kraftvoller Einsatz der Riemen stehen dabei metaphorisch für das Leben, das bekanntlich nicht nur Bagstagsbrisen und Schiebestrom anzubieten hat.

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Waynos Welt – Community Boat Project

Wayne „Wayno“ Chimenti ist Mitbegründer des Community Boat Projects.Foto: Dieter LoibnerWayne „Wayno“ Chimenti ist Mitbegründer des Community Boat Projects.

Wayne „Wayno“ Chimenti ist eine Kultfigur der Traditionsseglerszene im pazifischen Nordwesten der USA. Für die Freiheit auf See verzichtete er auf seine Karriere als Meereswissenschaftler, lernte stattdessen das Takler- und Segelmacherhandwerk und diente sich bis zum Schonerkapitän hoch. Aufgewachsen an der US-Ostküste, lernte Chimenti seine Frau Nicole, eine gebürtige Belgierin, auf der Insel Moorea in Französisch-Polynesien kennen, wo sich die beiden 1984 während der Produktion des Films „Bounty“ mit Mel Gibson, Anthony Hopkins und Laurence Olivier über den Weg liefen. Mit der 1989 geborenen Tochter Nahja segelte die Familie an Bord des Schoners „Tole Mour“, der damals die medizinische Versorgung der Marshallinseln im Westpazifik sicherstellte.

Als es Zeit war, von hoher See an Land umzuziehen, entschieden sich die Chimentis für Port Townsend. „Mein Gott, das ist eine Seglerstadt!“, erinnerte sich Wayne an den ersten Eindruck seines neuen Zuhauses. Neben dem Aufbau der Force-10-Segelmacherei skipperte er lokale Ausbildungstörns auf dem B.-B.-Crowninshield-Schoner „Adventuress“ und gründete gemeinsam mit Pädagogen und der Bootsbauschule in Port Hadlock das Community Boat Project und die Puget Sound Voyaging Society. Zu Beginn bauten die Studenten unter Anleitung von professionellen Bootsbauern offene Boote und auch Longboat „Epic“, das Flaggschiff des Programms.

Doch mit der Zeit wurden zunehmend kleine Holzhäuschen gebaut. Das geht schneller und hilft, die akute Wohnungsnot für einkommensschwache Teile der Bevölkerung zu mildern. „Wir haben einen festen Kreis von Geldgebern, großteils Stiftungen“, erklärte der mittlerweile pensionierte Chimenti. „Alle Programme, sowohl in der Werkstatt als auch am Wasser, sind für die Schüler stets kostenlos. Wir versuchen dabei nicht, Seeleute auszubilden, sondern zu vermitteln, wie man Selbstständigkeit und Entschlossenheit entwickelt, die früher zum Überleben notwendig waren.“


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​Diese Reportage ist in der aktuellen Ausgabe der YACHT classic erschienen, die seit dem 21. Mai im Handel ist (außerdem hier erhältlich). Abonnenten der YACHT bekommen das Heft gratis nach Hause geliefert. Lesen Sie außerdem darin das Porträt des Werftgründers Henry Rasmussen, die Geschichte der „Nordwest“ und lassen Sie in Fotos von Nico Krauss die Classic Week 2024 Revue passieren.

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