Es ist ein sonniger Morgen im Frühjahr 2022, an Bord der „Kelpie“ herrscht nachdenkliche Stimmung. Ein letztes Mal läuft der 1903 gebaute Gaffelkutter unter Eigner Pelham Olive aus dem River Hamble in Südengland aus. Das Ende einer Liebesbeziehung und allem, was dazugehört: Höhen und Tiefen und vielen unauslöschlichen Erlebnissen.
Olive hat beschlossen, das Schiff, das in den letzten 14 Jahren seine Aufmerksamkeit – und einen großen Teil seines Bankkontos – in Anspruch genommen hat, zu verkaufen. Nur diese eine kurze Fahrt über den Solent noch, nach Cowes, bevor „Kelpie“ dem neuen Eigner übergeben werden soll. Spontan hatte sich in letzter Minute eine neunköpfige Crew gefunden, eine gemischte Truppe mit wenig Erfahrung. Der Normalzustand hier, wie sich in den Gesprächen herausstellt.
Und doch hat sich diese klassische 50-Fuß-Rennyacht unter Olives Eignerschaft einen Namen gemacht, weil es ihre Amateur-Crews auf den renommierten Klassiker-Regatten des Mittelmeeres regelmäßig mit den Profis der hochkarätigen Konkurrenz aufnehmen konnten. Tatsächlich gewann „Kelpie“ Dutzende von Rennen im Mittelmeer, und in ihrer spektakulärsten Saison 2018 mit den Regatten in Cannes und Saint-Tropez sogar die beiden prestigeträchtigsten europäischen Klassikerregatten nacheinander.
Doch all das wäre nicht möglich gewesen, wenn „Kelpie“ kein außergewöhnliches Boot wäre. Als eines von acht Exemplaren der Solent 38 One Design des schottischen Meister-Konstrukteurs Alfred Mylne lief sie 1903 auf der Werft J. G. Fay & Co in Southampton vom Stapel. Schon wenige Jahre später, „Kelpie“ hatte nur an drei Regatten ihrer Klasse teilgenommen, wurde sie nach Schottland verkauft. Im Jahr 1923 wurde sie zu einer Zwölf-Meter-Rennyacht umgeriggt und konnte fortan mit einem Handicap gegen die etwas größeren Zwölfer antreten.
1939 kehrte „Kelpie“ – inzwischen mit einer viel handlicheren Ketsch-Takelung – an die südenglische Küste zurück und überstand die Kriegsjahre auf dem River Dart in Devon. Nach einer Zeit als Ausbildungsyacht landete sie erneut im Solent, wo sie wieder ihre ursprüngliche Takelung erhielt und von wechselnden Eignern liebevoll gepflegt wurde.
Als Olive „Kelpie“ im Jahr 2008 kauft, ist sie über 100 Jahre alt, hat eine komfortable Einrichtung und ein ganzes Arsenal an Ausrüstung an Bord. Statt der einstigen 17,5 Tonnen wiegt sie nun 19, die Wasserlinienlänge ist von 38 auf 42 Fuß gewachsen. In den nächsten drei Jahren durchläuft „Kelpie“ ein umfassendes Refit bei Fairlie Restorations. Im Winter wird an ihr gearbeitet, doch im Frühjahr wird sie stets wieder segelklar gemacht, damit Olive auf dem Mittelmeer segeln kann.
„Kelpie“ wird entkernt, der Ausbau dem Original entsprechend durch eine leichtere Renn-Einrichtung ersetzt, und sie bekommt einen neuen Motor. Der lang gezogene Aufbau weicht zwei Luken, wie einst von Mylne vorgesehen. Auch die Takelage wird nach dem Vorbild von 1923 überarbeitet. Unter anderem werden alle Fall- und Schotwinden entfernt und durch Taljen ersetzt. Olive folgt der Philosophie, das Boot so weit möglich wieder in den Originalzustand zurückzuversetzen. Außerdem ist er der Meinung, dass Winschen ein so altes Schiff zu großen Kräften aussetzen und es schädigen würden, und lässt sie entfernen.
Um „Kelpie“ segeln zu können, ist fortan eine zwölfköpfige Crew nötig. Olives puristischer Ansatz wird jedoch schnell belohnt. Als „Kelpie“ 2010 in Palma, Mallorca, ihre erste Mittelmeer-Saison antritt, wird sie vom Comité International de la Méditerranée (CIM), welches das Handicap-System dort verwaltet, mit dem günstigen CIM-Wert 222 klassifiziert. Der wichtigste Grund für diese vorteilhafte Bewertung ist das Fehlen der Winden, was sich im berühmt-berüchtigten und ebenso umstrittenen Bewertungsfaktor „Koeffizient der Authentizität“ niederschlägt.
„Kelpie“ erringt in dieser Saison Siege auf den Klassikerevents in Palma, Mahón, Imperia, Antibes, Nizza, Cannes und Saint-Tropez. Es folgen Beschwerden von konkurrierenden Crews über diesen Neuling, der so viel Silber gewonnen hat, und Olive bittet das Comité schließlich darum, den CIM-Wert seiner Yacht zu überprüfen. Es ist das erste Mal, dass sich dort ein Eigner selbst und nicht dessen Konkurrenz über eine günstige Einstufung beschwert. Tatsächlich wird „Kelpie“ neu vermessen und ihr Handicap von 222 auf 189 herabgesetzt. Trotzdem gewinnt sie weiter.
„Dieses Boot war unschlagbar“, erinnert sich Mike Inglis, der einzige Profi, der im ersten Jahr an Bord ist. „Nicht mal das neue schlechtere Handicap konnte dieses Schiff am Siegen hindern. Sie ist eines dieser Boote, die einfach richtig gezeichnet und gebaut sind.“ 2014 kommt mit dem Südafrikaner Phil Martinson ein erfahrener Profi-Skipper an Bord. Seine erste Aufgabe ist, in die Ostsee zu segeln, wo „Kelpie“ an Regatten auf dem norwegischen Oslo-Fjord und der Europawoche teilnimmt, gefolgt von der Klassikerregatta im dänischen Svendborg. Sodann soll sie bei den German Classics in Laboe an der Kieler Förde antreten, doch eine Kollision vor dem Start der ersten Wettfahrt führt dazu, dass sie aufgeben und nach Hause transportiert werden muss.
Als „Kelpie“ 2016 nach zwei Jahren Abwesenheit ins Mittelmeer zurückkehrt, hat sie starke Konkurrenz, denn es sind neue Boote zur Flotte gekommen. „Wir haben in der Ostsee gut abgeschnitten, aber im Mittelmeer schienen wir nun immer nur noch Fünfter zu werden“, erinnert sich Phil. „Mir wurde klar, dass wir mit diesen Jungs nur konkurrieren würden, wenn wir deutlich leichter werden. Wir brauchten anständige Segel und mussten alle möglichen Änderungen vornehmen. Und Eigner Pelham sagte dazu nur: „Gut, dann machen wir es.“ Damit war klar, dass es ernst wird.“ Wieder beginnt eine neue Ära, in der „Kelpie“ für den Regattazirkus optimiert wird.
Zu diesem Zeitpunkt lernt Eigner Olive den Segelmacher Guido Cavalazzi kennen. Der ehemalige America’s-Cup-Segeldesigner hatte sich bei Weltmarktführer North Sails zum Experten für Klassiker entwickelt. Als er im September 2016 vor Imperia auf „Kelpie“ segelt, stellt er Probleme mit dem Großsegel fest: zu viel Kurve im Vorliek, zu wenig im Unter- und Oberliek und wieder zu viel im Achterliek. „Das Großsegel sah sackartig aus“, sagt er. „Die Großschot konnte gar nicht genutzt werden, wie sie sollte, nämlich zum ‚Schalten‘.“
Cavalazzi entwirft ein neues Großsegel im sogenannten Eased-out-Shape, ein Design, das er bereits auf „Chinook“ und „Mariska“ getestet hat. Als das Segel im Mai 2017 gesetzt wird, ist die Wirkung sofort bemerkbar. „Der Groß-Trimmer war glücklich, weil er das Segel nun mit der Schot aufpowern oder in Böen entlasten konnte“, so Cavalazzi, der sich als Nächstes die Vorsegel vornahm. „Kelpies“ übliche Konfiguration besteht bis dahin aus ihren drei klassischen Vorsegeln – Klüver, Fock und Flieger – oder einem einzigen großen Vorsegel, genannt „Bastard“.
Cavalazzi ist der Meinung, dass der „Bastard“ ein zu kleines Windfenster hat, und entwirft mit „The Blade“ ein neues Vorsegel, das kleiner und flacher ist und damit länger stehen bleiben kann. „So ein Segel hatte gefehlt“, sagt er. „Es ist das Vorsegel, das bei den typischen Mittelmeerbedingungen benutzt wird.“ Auch ein neues Ballonsegel entwirft Meister Cavalazzi, es ist rund 50 Prozent größer als das alte und aus Segeltuch von 0,9 Unzen pro Quadratmeter statt der ursprünglichen 1,5 Unzen genäht.
Mit diesem Segel sei es nun möglich, „Kelpie“ mit überraschend hoher Geschwindigkeit direkt vor dem Wind zu segeln, was ihr einen Vorteil gegenüber anderen Booten verschaffe, die von einem Reach zum anderen kreuzen müssen, so Cavalazzi. Ein weiterer Vorteil des neuen Segels ist ein abermaliger Handicap-Bonus von zwei Prozent für Yachten, die anstelle eines modernen Gennakers den traditionelleren Ballon setzen.
Auch mit dem Toppsegel finden interessante Versuche statt. Das ursprüngliche Jackyard-Toppsegel ist ein spektakulärer Anblick, aber schwierig zu handhaben. Bei sehr leichtem Wind ist festzustellen, dass die dadurch verursachte Störung das Boot tatsächlich verlangsamt. Deshalb wurde der Mast 2013 schon einmal um zehn Fuß verlängert, damit er ein noch größeres Toppsegel tragen konnte.
Cavalazzi entwirft nun ein Toppsegel mit kürzerem Vorliek, das mit Segellatten ausgestattet ist, sodass der Mast wieder um drei Fuß gekürzt werden kann, was für die Bewertung des Schiffes besser ist. Das neue Toppsegel erweist sich als genauso effizient wie das ursprüngliche Jackyard-Toppsegel und lässt sich viel schneller setzen. Im Winter 2017/18 findet die nächste Phase des Optimierungsprozesses statt. Im Mittelpunkt steht der Bau eines neuen Mastes.
Für die süddeutsche Konstrukteurin und Klassiker-Expertin Juliane Hempel, die maßgeblich an der Entwicklung der Hochleistungs-Spiere beteiligt ist, ein spannendes Projekt. „Der hohle Mast eines traditionellen Gaffelschiffs hat rundherum die gleiche Dicke und ist normalerweise sehr steif von einer Seite zur anderen, aber nicht sehr steif nach vorn und hinten“, erklärt sie. „Um ihn vorn und achtern steif zu machen, muss man dickere Wände haben, was den Mast sehr schwer macht.
Olive wollte einen Mast, der vorn und achtern steif, aber auch leicht ist, und das ist nur sehr schwer zu erreichen.“ Doch Hempel findet eine Lösung. Dort, wo der Mast rund sein muss, damit die Ringe des Großsegels nach oben und unten rutschen können, verleiht sie dem Profil stärkere Vorder- und Rückwände, um es auszusteifen. Oberhalb der Klauen gibt sie dem Mast hingegen ein elliptisches Profil, das ihn nicht nur vorn und hinten steifer, sondern auch insgesamt aerodynamisch besser formt. Und im Gegensatz zu einem traditionellen Mast, der sich von allen Seiten gleichmäßig verjüngt, konstruiert Juliane Hempel eine gerade Achterkante, damit das Vorliek des Toppsegels eng am Mast anliegt und Turbulenzen reduziert werden.
Auch die hohle Konstruktion des Mastes wird raffiniert. In Zusammenarbeit mit dem Holzexperten John Lammerts van Bueren wird im Labor die Biegbarkeit jeder einzelnen Leiste ermittelt, damit sich der Mast am Ende in alle Richtungen gleich stark bewegen lässt. Im Ergebnis wurde der neue Mast leichter und gleichzeitig steifer als der alte, genau wie Eigner Olive es sich gewünscht hatte. Juliane Hempel entwirft außerdem neue Mastbeschläge aus Alu anstelle der schweren aus Bronze.
Weiteres Gewicht wird in der Takelage durch stehendes Gut aus Dyneema-Tauwerk abgespeckt. Die Faser ist zugfester und leichter als Stahl, eine sehr wünschenswerte Eigenschaft, besonders im Rigg. Rund 350 Kilogramm Gewicht konnten in er Takelage eingespart werden. Auch unter Wasser wird „Kelpie“ schließlich optimiert. Hempel verbessert das Profil des Ruders, und es werden neue Seeventile eingebaut, die bündig mit dem Rumpf abschließen. Das Unterwasserschiff wird gespachtelt und geschliffen sowie ein glattes Antifouling aufgetragen.
Mit der Amateur-Crew werden Trainings anberaumt und der Teamgeist gestärkt. Die Mühen zahlen sich bald aus. „Kelpie“ segelt immer öfter wieder vorn mit. Sind es im Jahr 2016 noch fünfte und sechste Plätze, werden im Sommer darauf schon dritte und vierte ersegelt. Im dann folgenden Jahr 2018 dominiert „Kelpie“ gar ihre Klasse und gewinnt endlich auch im Mittelmeer mit Siegen vor Palma, Menorca und Neapel.
Aus verschiedenen Gründen steht der neue Mast erst für die letzten beiden Regatten der Saison zur Verfügung – Cannes und Saint-Tropez –, und so wundert es nicht, dass „Kelpie“ diese beiden Wettfahrten gewinnt und sogar die Saison mit dem Sieg in allen vier Rennen ihrer Klasse auf der Les Voiles de Saint-Tropez beschließt. Es ist der Schlussstrich unter einer eindrucksvollen Metamorphose, die zeigt, wie selbst (oder gerade?) ein betagter Klassiker auch für kompetitiven internationalen Regattasport mit Zeit, Geld, Energie und Planung wieder optimiert werden kann.
Zurück auf dem Solent herrscht Festtagsstimmung, als wir nach Cowes auf der Isle of Wight segeln, der Wiege des America’s Cup. Die Stimmung an Bord ist ausgelassen, obwohl es Olives letzter Törn auf seiner geliebten Yacht ist. Aber sagt man nicht auch in England, dass die zwei besten Tage einer Eignerschaft der Tag ist, an dem man ein Boot kauft, und der Tag, an dem man es wieder verkauft?
Wir kehren ein im hafennahen Pub „Anchor Inn“, um auf den Eigner anzustoßen. Doch es dauert nicht lange, bis ein Südwest mit Windstärke 3 bis 4 aufkommt und wir lieber wieder segeln gehen. Es ist eine schnelle Fahrt zurück über den aufgewühlten Solent, und trotz der windigeren Bedingungen lässt Olive die Anfänger an den Schoten hart arbeiten, obwohl es die letzten Seemeilen sind, auf denen er das Schiff bewegen wird.
Es ist seine Art, sich von seiner Muse zu verabschieden, mit einem Haufen glücklicher Amateure und ein paar treuen Crew-Mitgliedern, die ihm den Rücken stärken – wie in all den vergangenen 14 Jahren auf den Regattabahnen Europas.
Der Refit bei Fairlie Restaurations dauerte von 2009 bis 2012 und erweis sich als entsprechend umfangreich. Kielbalken, Steven, Teile des Hecks waren zu erneuern, wofür einige Spanten entfernt und wieder eingesetzt wurden. Im Zuge dieser Arbeiten wurde die Welle außermittig durch den Rumpf geführt. Das Ruder wurde erneuert. Planken waren nur wenige auszutauschen. Die Decksbalken waren jedoch hin, und im Zuge dieser Arbeiten verlegte Fairlie teils ein neues Teakdeck. Die Inneneinrichtung wurde in den Originalzustand versetzt. Und das Boot erhielt neben einigen neuen Beschlägen eine fast komplette moderne Elektrik.