Es sind die späten 1980er Jahre, als der Teenager Elmar Specht mit seinem Piraten auf der Elbe unterwegs ist. Der junge Mann ist damals 17 Jahre alt und bereits ein versierter Segler. Discos und tiefergelegte Opel Manta interessieren ihn nicht die Bohne. Specht weilt lieber auf dem Wasser, nutzt jede freie Stunde, um mit seiner Jolle zwischen Glückstadt und Finkenwerder über den Strom zu zischen.
An diesem Sommerwochenende hat er mit seiner Jolle im Stader Binnenhafen festgemacht. Morgens steht er mit einem Kaffee auf der Kaimauer und besieht sich die Yachten, die im Hafen liegen. Fahrzeuge unter Segeln wecken schon früh sein besonderes Interesse. Vor allem Traditionsschiffe.
Als er an diesem Morgen vor 35 Jahren über die Kaimauer spaziert, traut er seinen Augen nicht. Specht erblickt auf einmal einen „schönen, eichenen und schier nicht enden wollenden Jollenkreuzer, der sich unter Segeln in den Hafen schiebt“. Das Boot sticht heraus. Es ist deutlich länger als alle anderen seiner Klasse. Die Gaffel länger, das Heck breiter.
An der Pinne sitzt ein blonder Junge im Vorschulalter, während am Mast ein zierlicher, bereits hochbetagter Mann steht und seelenruhig das Großsegel herunterlässt. Mit letztem Schwung fährt der Jollenkreuzer einen Aufschießer, während Opa und Enkel an Bord die Plätze tauschen und das Boot an die Kaimauer schwebt. Specht geht ein paar Meter, nähert sich dem Schiff. Still wandern seine Augen über den Jollenkreuzer, der da vor ihm liegt. Er sieht das Teakdeck, die eingefassten Bullaugen. Er sieht den langen, schmal zulaufenden Aufbau, den schönen Steven.
Doch nicht nur das Boot fesselt ihn. Auch die Mannschaft trifft einen Nerv in dem jungen Mann. Specht erinnert sich: „Wie gern hätte ich damals so etwas mit meinem eigenen Opa gemacht, der segelte nämlich auch, aber leider war er schon zu alt und nicht mehr rüstig genug dafür.“
Noch weiß Elmar Specht nichts über die Historie dieses außergewöhnlich großen Jollenkreuzers, der den Namen „Elfra“ trägt. Er weiß nicht, dass hinter dem Akronym Ella und Franz Schröder stecken und dass die Geschwister sich den Jollenkreuzer einst eigens haben bauen lassen: 1934 auf der Karl-Richters-Werft in Wischhafen. Inzwischen ist Franz Schröder längst zum Großvater geworden. Mit seiner „Elfra“ aber segelt er noch immer auf der Elbe, dies seit nunmehr 55 Jahren. Und Opa Franz wird nicht müde, seine Familie, vor allem seinen Sohn und seinen Enkel, auf dem betagten Jollenkreuzer mitzunehmen. Nun allerdings hat die zehn Meter lange und 2,86 Meter breite „Elfra“ einen neuen Bewunderer gefunden. Das Schiff wird Elmar Specht nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Mai 2024. Seit dem Treffen in Stade sind über dreieinhalb Jahrzehnte vergangen. Der segelnde Opa Franz Schröder ist lange verstorben, woraufhin sein Sohn Volker das Schiff übernommen hatte. Am langen Schlängel des Wischhafener Yachtclubs steht Elmar Specht, er ist heute 54 Jahre alt. Vor ihm im Wasser, frisch lackiert und seit Ostern aufgetakelt, liegt die „Elfra“. Das Boot schwimmt und segelt wie am ersten Tag. Noch immer zieht es vielen davon und feiert obendrein ein beachtliches Jubiläum. Der gaffelgetakelte Jollenkreuzer mit der enormen Segelfläche wird in diesem Jahr 90 und ist dorthin zurück, wo er einst konstruiert wurde. In Wischhafen.
An Bord steigt an diesem Mittwoch im Mai der neue Eigner. Elmar Specht hatte die „Elfra“ in all den Jahren nie mehr aus den Augen verloren – bevor er und seine Lebensgefährtin Conny sie von der Familie Schröder im September 2018 übernehmen konnten. Seither ist er es, der das Schiff hegt und pflegt. Der es segelt wie einst der alte Opa Schröder. Bei jedem Wetter, jedem Wind – und am liebsten ebenfalls mit Familie an Bord.
Das Hochwasser kommt am Abend. Specht und seine Tochter Jacqueline machen das Boot klar, legen ab, segeln für ein paar Schläge auf die Elbe hinaus. Der kapitale Jollenkreuzer marschiert sofort los, schon bei leichtem Wind im Hafen. Das dürfte vor allem an seiner Länge liegen, an der ausgewachsenen Segelfläche von 48 Quadratmetern sowie am geringen Tiefgang von nur 30 Zentimetern (1,90 Meter mit ausgeklapptem Schwert). Bei Regatten belegte die „Elfra“ fast immer die vorderen Plätze, in den 1950er Jahren gewann sie das Blaue Band der Niederelbe und zeigt heute noch selbst so manch moderner Yacht das Heck. Unter Traditionsseglern ist die „Elfra“ seit jeher bekannt. Ihr folgt ein geflügeltes Wort: „Die haben die Bremse noch nicht gefunden.“
Drinnen ist das Schiff umso gemütlicher und mutet an wie ein alter englischer Salon. Grüne Polster, weißer Holzboden, lackierte Schapps und Schränke. Mittendrin und gleichzeitig als Salontisch nutzbar: der große Schwertkasten. Der alte Kreuzer bietet unter Deck reichlich Raum: zum Schlafen, zum Kochen, zum Leben. Als Elmar Specht das Schiff 2018 übernahm, staunte er denn auch nicht schlecht. Unten im Salon stand neben dem Schwertkasten noch immer das 28er-Herrenfahrrad von Sohn Volker Schröder und lag das alte Surfbrett, das dieser immer als Dingi genutzt hatte. Utensilien, die Schiffe vergleichbarer Länge normalerweise bersten lassen.
Doch sind es letztlich nicht nur die Geschwindigkeit und das Platzangebot des klassenlosen „Ausgleichers“, die ihn so besonders machen. Auch nicht die Tatsache, dass dieser Jollenkreuzer deutlich größer ist als selbst seine großen 30er-Brüder. „Man muss das Leben dieses Boots kennen, um es zu verstehen“, sagt Elmar Specht. „Und diese Geschichte geht weit zurück bis in jene Tage, als wir alle hier noch nicht einmal geplant waren.“
Die Schröders führten in den 1930er Jahren einen Haushaltswarenladen in Stade, und vermutlich hatten sie ein sportliches, aber auch familientaugliches Schiff im Sinn, als sie die Werft mit dem Bau des Kreuzers beauftragten. Die „Elfra“ erinnert noch heute an jene frühen Yachten, die anfangs groß und stabil gebaut waren. Fahrzeuge, die innen teils eine mondäne Einrichtung besaßen und den Begriff des tourentauglichen Sportboots erst noch prägen mussten. Als das Schiff 1934 in Wischhafen zu Wasser geht, ist es ein Hingucker: mit drei Tonnen sehr solide gebaut, Eiche auf Eiche geplankt, wobei jeder dritte Spant nicht geleimt, sondern natürlich gewachsen und gesägt ist.
Die Schröders segeln die „Elfra“ damals vornehmlich auf der Elbe. Sie machen Familienausfahrten, ankern vor den Sänden im Strom, Franz nimmt an Regatten teil. Doch den Jahren des ersten Segelglücks folgt bald der Krieg. Um die schöne „Elfra“ nach Kriegsende vor dem Zugriff der britischen Besatzer zu bewahren, kommen Franz Schröder und die Mitglieder des Stader Segelvereins auf eine verwegene Idee: In den Boden des Ölzeugschranks bohren sie ein Loch – und versenken die „Elfra“ im Stader Burggraben. Drei Meter geht der gesamte Kahn auf Tiefe und ward nicht mehr gesehen!
Beim Segeln beugt sich Elmar Specht kurz nach unten, öffnet den Schrank. Das Loch ist heute noch zu sehen. Ein Pinsel steckt noch immer darin, der Stiel, mit dem man die damalige Bohrung zur Rettung später wieder verschloss. Denn: Die unter Wasser versteckte „Elfra“ wurde verraten. Schon bald ließen die Engländer den deutschen Jollenkreuzer heben und verlangten vom revierkundigen Eigner, die Herrschaften doch bitte schön ein bisschen auf der Elbe spazieren zu fahren. Franz Schröder hatte obendrein entdeckt, dass sämtliche Segel zerschnitten waren. Nun hatte er sich um seine „Elfra“ zu kümmern, dies sozusagen angeordnet von oberster Stelle. Natürlich ließ er sich nicht lange bitten und wurde während der Besatzung so zu einem der ersten Sportbootsegler, die wieder auf die Elbe hinausfahren durften.
Zum Glück bleibt der Jollenkreuzer später weiter im Familienbesitz. Franz Schröder segelt bald wieder Regatten, und die „Elfra“ wird im Laufe der Jahre so viele Rennen gewinnen, dass sich die Schröders am Ende einen eigenen Schrank bauen lassen müssen, um all die Gold- und Silberpokale unterzubringen.
Nach dem Tod von Opa Franz übernimmt dessen Sohn Volker den Jollenkreuzer. Auch er segelt Regatten, verbringt viel Zeit mit der „Elfra“ auf der Elbe. Oft segelt er einhand, auch bei viel Wind. Im Revier ist er bald bekannt dafür, noch bei Windstärke sieben unter Vollzeug in die Häfen zu brettern. Mit schlagenden Segeln kreuzt er auf und bringt die „Elfra“ unter Geraune an die Stege.
Manöver dieser Art mochten jedoch nicht nur seinem Gemüt geschuldet sein. Einhand nämlich lässt sich das Rollreff am Großbaum nicht so einfach bedienen – und so segelte der Sohn oft genug unter vollen Tüchern weiter, weil sich die Segel nicht mal schnell verkleinern ließen. Dass er dabei teils wilde Hafenmanöver fuhr, lag zudem daran, dass der alte Zehn-PS-Marstal-Motor öfter streikte. Sohn Volker Schröder nahm es gelassen: dann eben segeln!
Dabei konnte er sich aber auch gewisse Späßchen unter Segeln nicht verkneifen. Weil er das Revier von den vielen Fahrten mit seinem Vater sehr genau kannte, kürzte er bei Regatten des Öfteren ab und querte so manches Flach. Und weil die „Elfra“ aus einiger Entfernung noch immer groß und wie eine Kielyacht anmutete, folgten dem Skipper immer wieder auch solche Schiffe, die deutlich mehr Tiefgang besaßen – und prompt liefen sie auf! Bei einer dieser Verfolgungsjagden soll einer Yacht sogar der Mast gebrochen sein.
Ein Sohn ganz wie der Vater: segelbegeistert bis in die Haarspitzen. Und diese Euphorie trug er allzu gern weiter. So kamen auf der „Elfra“ auch immer wieder Schüler und Jugendliche mit. Im Stader Segelverein (STSV), wo der Jollenkreuzer bis heute im Winterlager liegt, brachte die Familie Schröder im Laufe der Jahre zahllosen Novizen das Segeln bei. Und noch einmal Jahre später, nach dem Tod von Volker Schröder, ist es schließlich der Enkel der Familie, der den inzwischen über 80 Jahre alten Jollenkreuzer nunmehr besitzt.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Im dritten Jahrtausend bleibt immer weniger Muße, sich um die alten Schiffe zu kümmern. Nicht jeder hat genügend freie Stunden, besitzt obendrein die Kenntnisse und den Elan, um zu schleifen, zu lacken, zu pinseln – und die betagten Schönheiten am Segeln zu halten. So ist es 2018 schließlich Elmar Specht, der die „Elfra“ in all den Jahren nie vergessen hatte und der sie nun vom Enkel Sönke Schröder übernimmt – von ebenjenem „kleinen Butsche“, den er Ende der 1980er Jahre an der Pinne sitzen sah, als dieser mit seinem Opa die Elbe entdeckte und morgens im Stader Hafen einlief. Es klingt fast wie eines dieser Bootsmärchen. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Als Bootsbauer und Freund der Klassiker bedeutet Specht der außergewöhnliche Jollenkreuzer viel – nicht nur wegen der eigentümlichen Anekdoten. Die „Elfra“ ist ein einmaliges Exemplar innerhalb der Familie der „Jollies“. Und sie segelt noch immer im Originalzustand. Bis heute wurde weder eine Planke noch ein Spant ersetzt. Nur der Schwertkasten musste zweimal erneuert werden. Und auch das dürfte ziemlich einzigartig sein: ein 90 Jahre alter Klassiker, der quasi aus erster Hand stammt.
Seit Specht das Boot übernommen hat, ist jedoch einiges geschehen. Die „Elfra“ hat eine neue Maschine bekommen, eine neue Wellenanlage, eine neue Schraube, ein neues Ruderblatt. Specht hat das Deck und den Schwertkasten abgedichtet, einen neuen Mast gebaut und die originale Inneneinrichtung überarbeitet. Es folgten weitere Maßnahmen: neues laufendes und stehendes Gut, neue Elektrik, neue Persenninge.
Hinzu kam dann noch eine Überraschung. Spechts Tochter Jacqueline, inzwischen Segelmacherin in Wischhafen, schenkte ihrem Vater zu Weihnachten eine neue, selbst geschneiderte Fock, und die Schwiegermutter nähte neue Polster. Womit sich bei der „Elfra“ ein alter Kreis schließt. Eine Tradition, die heute ebenfalls zur Rarität geworden ist: Die ganze Familie segelt. Die ganze Familie macht mit. Kind und Kegel – in einem Boot.
Und noch eines bleibt, wie es immer war. „Die ,Elfra‘ ist auf der Elbe zu Hause“, sagt Elmar Specht. „Und hier wird sie weiter segeln.“ Mit allen Abstechern, die bei der nahen Nordsee dazugehören. Die Spechts sind mit dem Jollenkreuzer schon nach Büsum gesegelt, nach Neuwerk, haben sich etliche Mal trockenfallen lassen. Mit seinem flachen Rumpf ist das Boot dafür geschaffen. Weiche Landungen im Schlick, wobei Schwert und Ruderblatt mit wenigen Handgriffen aufgeholt sind. An diesem Tag im Mai aber vollzieht sich auf der Elbe noch etwas, das der „Elfra“ – neben all ihren seglerischen Qualitäten – inzwischen in den Genen stecken dürfte. Der Wechsel der Generationen, der sich an Bord wie selbstverständlich abspielt. Auch heute noch.
5 Beaufort wehen und legen die „Elfra“ auf die Seite, als sie hoch an den Wind geht. Das Boot macht gerefft sofort sieben, acht Knoten, zieht mühelos über das flache Wasser. Elmar Specht steht an der Pinne, während sich unten im Salon und im großen Cockpit längst der eigene Nachwuchs tummelt. Tochter Jacqueline ist mit ihren beiden Söhnen an Bord. Jannis, dreieinhalb Jahre alt, und sein Bruder Kian, gerade mal sechs Monate, sind schon munter am Mitsegeln – und keinesfalls das erste Mal mit von der Partie.
Die Knirpse lernen früh, bekommen schon im Kindersitz alles mit. Und die beiden lieben es. Kein Geschrei, kein Gequieke. Und wenn, dann aus Freude am Wind. Die Enkel, so der Plan, sollen den alten Jollenkreuzer irgendwann einmal selbst übernehmen. Eines Tages, wenn er längst weit jenseits der 100 ist. Die „Elfra“ freilich kennt das alles schon. Nur eines ist neu. Der Opa heißt jetzt Elmar.