Text von Sam Fortescue
Besonders ihr hoher, senkrechter Steven und das weit überstehende Heck, die strakenden langgezogenen Linien sowie die namensgebende Kuttertakelung zeugen von der Anmut und Grandezza einer längst vergangenen Ära des Bootsbaus. Dennoch ist der Gaffelkutter „Jolie Brise“ in seinem 105. Betriebsjahr weiterhin so aktiv wie präsent. Dabei sorgt ein recht ungewöhnliches Betriebsmodell für den Erhalt der segelnden Ikone britischer Seefahrtsgeschichte. Das Boot gehört seit 1977 der Dauntsey’s School in der landumschlossenen Grafschaft Wiltshire im Südwesten der Insel. Die Schülerinnen und Schüler des bereits 1542 zu Zeiten König Heinrich VIII. gegründeten Internats segeln und pflegen „Jolie Brise“ und nutzen sie intensiv. Bereits sechsmal haben sie beispielsweise den Atlantik mit ihr überquert. Dieses Jahr wird sie fast 200 Tage im Einsatz sein, mit einem vollen Programm, das sie 2019 nach Norwegen und Island bringen soll.
„Jolie Brise“ wurde berühmt durch den Sieg 1925 im ersten Fastnet Race, hatte ihr Leben aber als Lotsenboot im französischen Le Havre im Jahr 1913 begonnen. Sie gilt als der letzte Lotsenkutter, der dort gebaut wurde. Tragischerweise war sie im Grunde schon überflüssig, als sie auf der Werft von Alfred Paumells vom Stapel lief.
Dampfschiffe hatten Segelyachten verdrängt. So war „Jolie Brise“ mit 17 Metern über Deck, der mächtigste Pilot Cutter der Flotte, auf kleinere Einsätze auf der Seine und ihrer Mündung reduziert anstatt große Ozeanliner und Frachter in den deutlich einträglicheren Küstengebieten zu bedienen. Obwohl veraltet, gab es viele Dinge, die auf diesem Boot herausragend und zukunftsweisend waren. Sie wurde vom 33-jährigen Konstrukteur Alexandre Paris entworfen. Der hatte die Arbeiten des legendären Norwegers Colin Archer studiert, der seinerseits das Design vieler typischer Arbeits- und Rettungsboote reformiert hatte.
Paris hatte zuvor Studien zu Lotsenkuttern durchgeführt und nutzte die Gelegenheit, „Jolie Brise“ einen geneigten Kiel und einen runderen Vorfuß zu verleihen. Als Gaffelkutter gerüstet, konnte sie selbst unter den schlimmsten Bedingungen von nur einem Skipper und zwei Deckshänden gesegelt werden. Aber nach gerade mal vier Jahren wurde das Boot an einen Thunfischfänger verkauft. Bei dem stellte sie Können und Robustheit unter Beweis, indem sie einen Sturm überlebte, der Berichten zufolge fünf andere „Thoniers“ zu versenken imstande war.
Inzwischen hatte „Jolie Brise“ die Aufmerksamkeit eines passionierten Oxbridge-Sportlers namens Evelyn George Martin erregt. Der bewunderte ihren „großen Freibord vorwärts und das volle Vorschiff, ihre Rumpflinien überhaupt“. Er ließ „Jolie Brise“ vom Berufsfahrzeug zur Yacht umrüsten – ein baulich recht schlanker Prozess, der im Inneren kaum mehr als das Hinzufügen einer Toilette, eines Wassertanks und eines Kartentischs beinhaltete. An Deck war es aufwändiger: Das Schiff brauchte einen Spinnaker und einen Klüver für mehr Geschwindigkeit, was andere Fallen, Schoten und Blöcke bedingte. Neue Beschläge waren nötig, einschließlich modifizierter Backstagen, um den Toppmast zu unterstützen.
Zu jener Zeit gab es Bestrebungen, ein neues Offshore-Rennen in britischen Gewässern ins Leben zu rufen. Engagierte Privatpersonen und die Redaktion des englischen Segelmagazins „Yachting Monthly“ erdachten den Kurs, der zum Sinnbild des Hochseesegelns werden sollte, des heutigen Rolex Fastnet Race: Start von der Isle of Wight, an der südenglischen Küste entlang, rund um den Fastnet Rock in der Keltischen See und über die Scilly-Inseln zurück nach Plymouth.
Mit einem Feld von nur sieben Konkurrenten in diesem ersten Jahr und dem küstennahen 605-Seemeilen-Kurs, der kaum Hochseebedingungen bietet, gab es jedoch noch einige Kritiker. Aber schon damals zeigte „Jolie Brise“ ihr Potenzial als Regattaboot, als Eigner Martin nach sechs Tagen, 14 Stunden und 45 Minuten vor dem Hafen von Plymouth die Ziellinie überquerte und das Rennen mit beachtlichem Vorsprung gewann – und dies schließlich auch nach berechneter Zeit.
Das Boot war bei den leichten Winden, die das erste Fastnet prägten, schnell, und Martin spürte, dass dies zumindest zum Teil auf die größere Garderobe zurückzuführen war, die er „Jolie Brise“ hatte angedeihen lassen. Ein brandneues Großsegel und ein riesiger, 102 Quadratmeter großer Spinnaker werden fraglos auch geholfen haben.
Sein zweiter Versuch beim Fastnet im Jahr 1926 war weniger erfolgreich. Er brachte aber immerhin den dritten Platz in einem Feld von neun Yachten. Bei den stürmischen Winden, die die Crew am Fastnet Rock begrüßten, hatte Martin keine andere Wahl als beizudrehen, die Vorsegel backzusetzen und das Ruder festzulaschen. Die verlorene Zeit konnte er später in den leichten Winden allerdings nur teilweise wettmachen. Im Folgejahr dann trennten sich die Wege von Martin und „Jolie Brise“. Sie belegte beim Bermuda-Rennen den fünften Platz und hatte die begehrte Blue Water Medal des Cruising Club of America gewonnen.
Martins Einstellung zu Ozeanrennen waren aber für immer von „Jolie Brise“ inspiriert: „Wenn ein Mann bezweifelt, dass sein Schiff einem schweren Sturm zu trotzen imstande ist, kann er nicht mit Zuversicht in See stechen. Andererseits gibt es nichts, das ihm ein so starkes Gefühl von Stolz und Sicherheit verleiht wie die Erfahrung eines solchen Sturms, der ohne Missgeschick überstanden wird.“
Unter dem gemeinsamen Besitz von Warren Ferrier und Dr. Brownlow Smith erhielt „Jolie Brise“ einen Motor und eine zusätzliche Kabine. Im Fastnet Race von 1927 gab die Crew in Sichtweite der Ziellinie auf. Das Boot trieb im Gegenstrom immer wieder ab. Es ist nicht überliefert, ob diese Erfahrung die Begeisterung der Besitzer für den Rennsport beeinträchtigte – fest steht jedoch, dass „Jolie Brise“ nach dieser unrühmlichen Episode ihres ansonsten fast makellosen Daseins wieder verkauft wurde.
Das Schiff in Form zu halten ist wegen seines Alters und mehr noch der intensiven Nutzung eine schier endlose Aufgabe. Toby Marris und Wochenend-Freiwillige aus dem Dauntsey’s Schulsegelclub werden fast den gesamten Winter damit verbringen, zu schleifen, zu streichen und zu lackieren, um es wieder gut aussehen zu lassen. „Wir machen alles selbst, bis auf komplizierte Elektrik und Elektronik“, sagt der Skipper.
Letztes Jahr gab es neue Segel aus gelbbraunem Dacron. „Wir erwarten nur, dass sie fünf Jahre halten, aber sie haben die Leistung des Bootes um etwa15 Prozent gesteigert“, sagt Toby erstaunt. In diesem Winter müssen einige Holzteile getauscht werden, und man erwägt, den Kraftstofftank vom Maschinenraum in die Bilge zu verlegen.
Der neue Besitzer Robert „Bobby“ Somerset übernahm sie, und es sollte der Höhepunkt ihrer Rennkarriere werden: 1929 und 1930 gewann „Jolie Brise“ erneut das Fastnet-Rennen. Dies nicht nur nach gesegelter, sondern auch wieder nach der sportlich relevanteren berechneten Zeit. Damit ist der ausgemusterte französische Lotsenkutter das erfolgreichste Schiff in diesem Offshore-Klassiker, der heute noch unter dem Namen Rolex Fastnet Race ausgetragen wird. Kein Schiff, keine feste Größe wie „Dorade“, keine „Stormy Weather“, keine „Myth of Malham“ hat es vermocht, drei Siege zu erzielen.
„Jolie Brise“ brachte 1929 auch den Pokal der Königin von Spanien in Santander nach Hause und konnte diesen Sieg im folgenden Jahr wiederholen. Beim Bermuda-Rennen 1932 kehrte sie unter großem Risiko um, um die Besatzung des Schoners „Adriana“ vor einem Feuer zu retten. Alle außer dem Skipper konnten abgeborgen werden. „Jolie Brise“ entkam mit leicht verkohlter Takelage. Mit diesem Einsatz bescherte Somerset dem Schiff die zweite Bluewater-Medaille.
Weitere Eigner folgten. Mal hatten sie Regattaambitionen, mal handelte es sich um reine Freizeitskipper. Mit dem drohenden Krieg in Europa wurde das Boot von der Royal Navy beschlagnahmt und in einem Tidehafen in Shoreham-by-Sea untergebracht.
Die nächsten neuen enthusiastischen, aber ebenso ahnungslosen Besitzer änderten den Namen in „Pleasant Breeze“ und wollten nach Neuseeland segeln. Sie kamen jedoch nicht weiter als nach Lissabon. Dort wurde das Schiff an eine portugiesische Familie verkauft und für das Segeltraining genutzt. Erst nach der portugiesischen Revolution 1974 sah der Lotsenkutter wieder die Gewässer des Ärmelkanals. Besitzer Luis Lobato erhielt vom Regime die Erlaubnis für einen Tagesausflug, dehnte diesen aber mit seiner Familie an Bord bis nach London aus.
Üblicherweise ist „Jolie Brise“ mit den Schülern der Dauntsey-Schule unterwegs, aber trotz des recht vollen Segelprogramms besteht vereinzelt die Möglichkeit, auf dem Boot mitzusegeln. Nächstes Jahr wird der Lotsenkutter nicht am Fastnet-Rennen teilnehmen, sodass es im Sommer Chartergelegenheiten gibt. Die ebenso anspruchs- wie reizvolle Route führt „Jolie Brise“ an der schottischen Westküste entlang, nach Norden auf dem Kaledonischen Kanal diagonal durch Schottland und an der britischen Nordseeküste wieder südwärts bis nach London.
Weitere Informationen unter https://www.dauntseys.org/life-at-dauntseys/adventure/jolie-brise oder kontaktieren Sie direkt den Skipper Toby Marris unter t.marris@dauntseys.org.
Dort diente sie den Lobatos mehrere Jahre als Hausboot, lag in St. Katharine Docks im Herzen der Stadt fest. Nachdem die Kinder Schule und Universität absolviert hatten, suchte Luis Lobato nach einem Käufer, der den Kutter als Ausbildungsschiff am Leben halten sollte. Die Lösung kam aus einer völlig unerwarteten Ecke. Sie brachte „Jolie Brise“ die längste und solideste Periode ihres Daseins ein.
Die Dauntsey’s-Schule erwarb das Boot für ihre aufstrebende Segelsparte über einen langfristigen Mietvertrag. Schließlich kaufte sie es schließlich im Jahr 1977 für 75.000 englische Pfund. Die Schule erweckte im alten Kutter wieder den Racer, gewann 1980 das Tall Ship’s Race über alles und eine Etappe des Rennens von 1986. Dann, im Alter von fast 80 Jahren, wurde sie in der Werft von Tommy Nielson in Gloucester ein Jahr lang umgerüstet. „Einige der Spanten wurden entweder gedoppelt oder ausgetauscht, und einige Planken wurden ebenfalls ersetzt“, erklärt Toby Marris, der jahrelange Skipper. „Dies fand ungefähr zu der Zeit statt, als kommerziell genutzte Schiffe wie ‚Jolie Brise‘ zertifiziert werden mussten.“
Es folgten ambitionierte Reisen über den Nordatlantik von Spanien und Portugal aus in die USA und nach Kanada oder auch in die Ostsee. Den 11- bis 18-jährigen Schülern wurde der Lotsenkutter zum segelnden Abenteuerspielplatz. Er ist im Polarkreis gesegelt, hat mehrfach den Atlantik überquert und die norwegische Küste erkundet. Unterwegs hat er in den Jahren 2000, 2008 und 2011 Gesamtsiege bei den Tall Ship’s Races geholt und im Jahr seines 100-jährigen Bestehens 2013 wieder am Fastnet teilgenommen.
„Mein Lieblingsmoment war unsere Osterkreuzfahrt 2017 nach London“, sagt ein Mädchen, als wir im Frühjahr zwischen Cowes und Hamble Segel setzen. „Wir haben uns auf das Tall Ship’s Race vorbereitet, und es war toll, nachts die Themse hochzusegeln.“ Eine andere Schülerin spricht über einen Wochentörn von Québec nach Halifax in Neuschottland „Das Segeln war nicht großartig, weil wir keinen Wind hatten“, sagt sie. „Aber wir sahen viele Wale auf einer Wache, und in einer anderen Nacht sprangen Delphine um den Bug.“ Skipper Toby nickt energisch und bestätigt, dass das Segeln bei dieser Gelegenheit tatsächlich „Mist“ war. Aber dann wird er wieder ernst. „Wo sonst können Schüler diese Art von Erfahrungen machen – alles für nur 60 Dollar pro Tag?“
Mit ihrer vier Meter langen Pinne und dem langen Kiel ist es durchaus eine Herausforderung, „Jolie Brise“ im Hafen zu manövrieren. Aber unter Tobys souveränen Anweisungen macht eines der Mädchen einen ausgezeichneten Job – indem sie mit der langen Pinne über Deck läuft, während ein anderer Schüler schubweise den Gashebel bedient. Einer springt am Bug auf den Steg und setzt die Spring.
Das Segeln selbst ist mühsam ohne Winschen. Der erste Schritt ist das Setzen der schweren Gaffel mit dem Piek- und dem Klaufall. Zwei Jugendliche fallen rückwärts in die jeweilige Leine ein, während ein dritter die Lose am Belegnagel durchholt. Mit Spaß und Spucke dauert der Vorgang eine Viertelstunde. Toby ist zufrieden, das Vorliek hat genug Spannung, das Segel steht gut. Ein weiteres Dreiergespann wiederholt den Vorgang, um auch das Toppsegel zu setzen und zu trimmen, dann folgen Klüver, Fock und Kuttersegel.
In einer sanften Brise von acht bis zehn Knoten klettert „Jolie Brise“ besser als erwartet nach Luv und hält dabei fünf Knoten Bootsgeschwindigkeit. Toby lässt die Vorsegel backhalten, um den Bug herumzudrücken, und an einem Punkt bewegt sich „Jolie Brise“ rückwärts, obwohl sie sich immer noch durch den Wind dreht. Mit raumem Wind arbeitet sie sich auf sieben bis acht Knoten Bootsgeschwindigkeit.
Toby ist in seinem Element, er ermahnt, lobt und spornt die Schüler an, die ihm mit Respekt begegnen, so wie er sie fair behandelt. Plötzlich jedoch bricht Chaos aus, als ein Dutzend Kinder alle auf einmal anpacken wollen. Toby nimmt es gelassen. Und nach dem Törn bereitet er stoisch das Boot auf die nächste Ladung Dauntsey’s-Schüler vor, die mit dem Internatsbus anreisen. „Ich bin sehr stolz auf das, was sie tut, diese alte Lady – und auf die Kinder, mit denen sie unterwegs ist“, sagt der Skipper.
Dieser Artikel erschien erstmals in YACHT 13/2018.