Es schläft sich gut in Francis Chichesters Sarg. Eine mit dunkelblauem Tuch bespannte Mulde, schmal, gemütlich. Die Engländer nennen die leicht ausgehöhlte Hundekoje zum Achterschiff hin wirklich so: Coffin bunk, Sarg-Koje.
„Schlaf doch an Bord“, hatte Pete Rollason, Chef des Gipsy Moth Trust, am Abend gesagt. Seine Offerte kam gelegen. Im südenglischen Cowes sind an diesem Wochenende Anfang Juli sämtliche Zimmer ausgebucht; 6000 Segler haben die Isle of Wight geflutet, über 1500 Yachten wollen morgen zum Round the Island Race starten. Und statt auf der Parkbank zu nächtigen lieber in die Koje schlüpfen. Und dies ist ja nicht irgendeine, dies ist die Koje von Sir Francis Chichester, dem vielleicht letzten großen britischen Seehelden – die kleine Wachekoje an Bord einer der berühmtesten Yachten der Segelgeschichte.
Mit der „Gipsy Moth IV“, einer schneeweißen, 16 Meter langen Ketsch, konstruiert von John Illingworth, erbaut von Camper & Nicholsons, startete Chichester vor knapp 60 Jahren zu einer bahnbrechenden Langfahrt: Das erste Mal überhaupt segelte eine Yacht nonstop so weit über die Ozeane. Am 27. August 1966 legte der damals 64 Jahre alte Chichester in Plymouth ab. Fuhr, ohne einmal an Land zu gehen oder den Anker fallen zu lassen, bis nach Sydney. Blieb dort einen guten Monat. Und segelte gleich wieder zurück – nonstop nach Plymouth.
Als der zuvor angeblich noch an Krebs erkrankte Chichester am 28. Mai 1967, nach neun Monaten und einem Tag, wieder in England anlegte, jubelten 250.000 Menschen an der Pier, die britische Artillerie ließ zum Salut die Kanonen knallen. Chichester zu Ehren wurde in London unter Glockengeläut die Tower Bridge geöffnet, die Queen schlug ihn zum Ritter. Denn Sir Francis hatte sich mit seiner sagenhaften Fahrt – ohne dies so recht geplant zu haben – gleich mehrere Rekorde gesichert.
Dies war die bis dahin schnellste Weltumrundung auf einem kleinen Schiff. Zudem die mit über 8000 Seemeilen längste Nonstop-Reise, die eine Yacht jemals geschafft hatte: Chichester konnte die damals größte von einem Einhandsegler gemeisterte Distanz mal eben mehr als verdoppeln. Nebenbei heimste er mit seiner „Gipsy Moth IV“ noch weitere Streckenrekorde für Solosegler ein. Das Schwert, mit dem Königin Elisabeth ihn daraufhin adelte, soll jenes gewesen sein, das 400 Jahren zuvor bereits auf der Schulter des Freibeuters, Entdeckers und Vizeadmirals Francis Drake niederging.
Historische Oberliga, da kommt ja kaum ein Neil Armstrong mit. Und jetzt also in dieser Koje liegen, hinten im Achterschiff, an Backbord, in diesem blauen Tuch. Eine Nacht allein an Bord dieser Yacht. Ja, eine Ehre, so ließe es sich wohl sagen.
Vom Kopfende der Koje fällt der Blick auf den kleinen Airguide-Kompass, den Chichester während seiner Monate auf See stets im Auge hatte. Noch im Schlaf las er dort den Kurs ab. Daneben die alten Instrumente, die in den sechziger Jahren das Modernste waren, das der Markt kannte. Windmesser, Logge, Einfallswinkelanzeige. Da ist der schmale Niedergang ins spartanische Cockpit. Das große eigenwillige Rohr der alten Petroleumheizung, das einmal längs durch die Kajüte verläuft. Mitten im Salon der kleine rote Lederhocker zum Ausklappen. Kombüse, Kartentisch. Der eiserne, mit Klettband gesicherte Handpeilkompass in der Navigationsecke. Der alte, mit Rattanbast bespannte Lautsprecher der Funkanlage.
Schnüffeln. Wie riecht es hier unten im Schiff? Nun, es mag Einbildung sein, aber es riecht nach Seemeilen. Still dümpelt das Boot am Ponton der UK Sailing Academy, unweit der Altstadt von Cowes. Überall Schiffe, Yachten. Um sieben am Morgen kommt langsam Leben in den Hafen, die Segler treffen ein. Dann betritt die „Gipsy Moth IV“ Pete Rollason, 48, der sich als Manager der Stiftung um den Erhalt der Yacht kümmert. „Gut geschlafen?“, fragt er. „Formidabel!“
Als Nächster klettert Dick Saltonstall aufs Schiff, ein alter Salzbuckel der Marine und langjähriger Ausbilder. Er wird heute den Skipper machen und die „Motte“ mit fünf Gästen an Bord durchs Rennen und durch die See prügeln. Draußen im Englischen Kanal sind bis zu 30 Knoten Wind angesagt, aber Saltonstall, knall-rote Sonnenbrille im Gesicht, wirkt tiefenentspannt. Auf die vorsichtige Frage eines Gasts, ob man während der Regatta an Bord eventuell rauchen dürfe, antwortet der Navy-Mann: „Dies ist ein 54 Fuß langer Aschenbecher, hier rauchen alle.“
Ähnlich unaufgeregt nimmt Saltonstall die Handhabung des Schiffs nach dem Hinaustuckern in Angriff. Mitten im Getümmel Hunderter Masten lässt er Vollzeug setzen und knüppelt die alte Yacht mit sechs Knoten über die Startlinie. Es gibt sofort eine heftige Kreuz gegenan, das Meer ist grünweiß zerpflückt. Der Wind pustet ordentlich, Gischt spritzt übers Deck, der leewärtige Seezaun schießt durchs Wasser. Die alte Yacht macht 6,5 Knoten, ackert sich unbekümmert in Richtung der Needles, jener Felsnadeln am Westende der Insel, die aus dem Meer ragen wie Haifischzähne.
Ganz uneitel sieht die berühmte Yacht aus. Nicht groß hochgelackt ist sie, hier und da blättert Farbe. Verwaschenes Teaksüll, grün angelaufene Bronzelüfter, weiche, alte Segel. Man würde es sofort glauben, behauptete jemand, das Boot sei soeben nonstop aus Australien wiedergekommen – und wolle nächste Woche schon wieder zurück. Nein, kein Chichi-Dampfer, sondern ein Salzwasserschiff.
„Fast alles ist noch im Originalzustand“, sagt Pete Rollason 2016, der selbst eingefleischter Segler und schon zweimal um die Welt ist. „Nur die Winschen und den Besanmast mussten wir ersetzen.“ Der alte Mast kam von oben, brach, als sie während einer früheren Cowes-Regatta mittschiffs von einer anderen Yacht gerammt wurden.
Die „Gipsy Moth“ ist schnell, macht bald acht Knoten bei gut 7 Beaufort. Am Wind wohlgemerkt, während das Meer in Lee dauerhaft übers Deck sprudelt. Die ansehnliche Schräglage scheint Skipper Saltonstall nicht zu kratzen; er lässt und lässt nicht reffen, während fast alle anderen Boote ein, zwei Reffs gesteckt und die Vorsegel verkleinert haben. An den Alumasten und doppelten Stagen der „Gipsy Moth“ steht noch die gesamte Fläche ihrer alten Tücher: Besansegel, Groß, Fock, Stagsegel. Saltonstall: „Das kann sie ab, sie ist noch ganz anderes gewohnt.“
Tatsächlich musste die weltberühmte Yacht schon einiges einstecken, auch nach der legendären 28.500-Seemeilen-Fahrt Chichesters, die einige als „Reise des Jahrhunderts“ bezeichneten. Zunächst landete das Boot nach seiner historischen Tat in einer Art umzäumtem Schaukäfig im Londoner Stadtteil Greenwich, wo sie neben der „Cutty Sark“ als Ausstellungsstück an Land stand und als todgeweihtes Museumsstück vor sich hin gammelte – 39 Jahre lang. „Am Ende lagen Eisbecher und Chipstüten auf ihrem Deck“, sagt Pete Rollason. „Ein trauriger, ein bedenklicher Anblick.“
Als sie eines Tages veräußert werden sollte, kaufte sie ein englisches Geschäftspaar, um partout zu verhindern, dass sie ins Ausland ging. Schließlich handelte es sich hier um eine nicht unerhebliche Episode britischer Seegeschichte. Danach wurde die Gipsy-Moth-Stiftung ins Leben gerufen – sie erwarb das Schiff für den symbolischen Preis von einem Pfund und einem Gin Tonic. Ihre Verpflichtung, bis heute: die Yacht in Schuss halten und möglichst viel mit ihr segeln; sie der Öffentlichkeit zugänglich machen, Chichesters Abenteuergeist huldigen und damit zukünftige Generationen inspirieren.
Kaum hatte die Stiftung das Boot gerettet, kam sie ihrer Aufgabe nach. Möbelte die „GM IV“ auf – und schickte sie zum 40. Geburtstag 2006 prompt ein zweites Mal um die Welt. Es sollte eine denkwürdige Reise werden. Zehn wechselnde Skipper kamen an Bord, dazu über 100 Crewmitglieder jeden Alters: eine kunterbunte Bande, die zu den einzelnen Etappen aus- und eingeflogen wurde. Darunter befanden sich krebskranke Kinder, Ex-Drogensüchtige, ehemalige Knastis, dies nebst Millionären und Herzögen, die ebenfalls auf manchen Passagen mitsegelten.
Die „Gipsy Moth“ besuchte auf ihrer zweiten Weltreise 32 Länder, lief in Rangiroa auf ein Riff, wonach ein drei Meter langes Loch im Rumpf klaffte. Mit einer haarsträubenden Rettungsaktion wurde sie geborgen, ihre zerstörten Planken aus Honduras-Mahagoni erneuert und der Rumpf überlaminiert. So überlebte die „GM IV“ auch ihren zweiten Tod und segelte weiter durch ein keinesfalls ödes Bootsdasein. Auf den Tuamotus geriet sie in Brand, in der Tasmanischen See fuhr sie durch einen 50-Knoten-Sturm. In Australien kam Prinzessin Anne an Bord, immer weiter ging die Reise. Nach abermaligen 28264 Seemeilen und 610 Seetagen legte das Schiff wieder in Plymouth an. Eine Million Pfund soll diese zweite Reise verschlungen haben – doch die Engländer waren stolz auf ihre Mission: den Namen Chichester in allen Ehren halten.
Nach ihrer Rückkehr lag die auffallend schlanke Yacht in Cowes, machte Touren mit Gästen, segelte zu Events an der englischen Küste, aber auch nach Frankreich, Irland, Schottland. Berühmte Rugbyspieler und TV-Moderatoren waren schon an Bord, Stars wie Ellen MacArthur, Pete Goss und Mike Golding kamen und wollten dieses Schiff einmal segeln.
Und ja, das kann sie. Am Nachmittag sind die Needles längst gerundet, mit acht Knoten rollt, schiebt und zischt die „Gipsy Moth IV“ mit nun achterlichem Wind durch den offenen Englischen Kanal. Von achtern laufen drei Meter hohe Wellen heran, links und rechts noch immer Dutzende Masten und Boote, die durch die See galoppieren. Die „GM“ hält gut gelaunt mit, auch mit der Überzahl moderner Kunstoffyachten.
Big Roller“, ruft Pete Rollason Skipper Dick zu, wenn mal wieder bedrohlich hohe Wellenmauern von hinten heranwälzen. Die Yacht, so schmal sie ist und so flach ihr Freibord ausfällt, hebt kurz den Hintern, lässt die reisenden Wasserwände galant unterm Rumpf passieren; legt sich auf die Seite, zieht nach Luv, um gleich wieder volle Fahrt aufzunehmen. Die alte Windsteueranlage benutzen sie heute nicht mehr, und man spürt die enorme Kraft des Schiffes an der Pinne. Beim Abreiten der Wellen müssen die Muskeln mit Macht an der großen Pinne zerren, damit es nicht in den Wind schießt. Für einen Langkieler erstaunlich sensibel marschiert das Boot durch die See.
Am frühen Abend geht es längst wieder gegenan, durch ein Meer aus Masten, das um den östlichen Zipfel der Isle of Wight biegt und nun, bei saftiger Strömung, aufkreuzt zur Ziellinie vor Cowes. Wieder hübsche Schräglage, die Steuerbord-Relingspersenning ist längst zerfetzt, weil sie ständig durch die See schleift. An Reffen aber denkt Skipper Saltonstall noch immer nicht. Keines der beiden Vorsegel lässt er bergen, verkleinert das Groß über das Rollreff am Baum um keinen Zentimeter. „Mit einem neuen Rigg und neuen Segeln würde ich ihr glatt zutrauen, auch noch eine dritte Reise um die Welt zu schaffen“, sagt er und blickt auf das silberne Wasser vor dem Bug.
Kurz vor der Ziellinie herrscht Chaos, Dutzende Yachten drängen sich ins Nadelöhr vor Cowes. Eine Wende folgt auf die nächste, das Segeln wird Arbeit. Skipper Salstonstall lässt das Groß fieren, wieder dichtholen, legt ein wenig Speed zu, nimmt ein bisschen raus, nutzt jeden Meter seines Kursrechts aus. Zwei, drei Yachten kommen beängstigend nah heran, schneiden den Kurs, ziehen nur wenige Meter vor dem Bug vorbei. Hier und da wird geschrien: „Wendet, verdammt noch mal!“
Unten hängt alles schief, als die „Gipsy Moth“ den letzten Anlieger hoch am Wind fährt. Tampen und Trockentücher baumeln in der Kajüte, durch die großen gewölbten Fenster und Skylights blickt man weit in den Himmel, sieht das gesamte Rigg. Chichester hatte großen Wert gelegt auf diese ungewöhnlich offene Sicht aus dem Schiff. Es mag seiner Zeit als Pilot geschuldet sein, als er in den 1930er-Jahren einen Doppeldecker um die halbe Welt flog. Sein Flugzeug war eine DeHavilland vom Typ „Gipsy Moth“. Alle seine späteren Yachten taufte er danach, und offenbar wollte er auch auf den Cockpit-ähnlichen Ausblick nicht verzichten.
Noch immer macht das Boot 30 Grad Krängung, und man wünscht sich den kardanisch aufgehängten Sessel herbei, den Chichester sich für seine lange Reise damals hatte einbauen lassen. Darin saß er halbwegs horizontal mitten in der Kajüte, selbst wenn seine „Motte“ noch so heftig durch die See torkelte. Saß in seinem schaukelnden Seesessel und zapfte sich mitten auf den Ozeanen sein Bier. Ein großes Fass Whitbread Pale Ale hatte er sich installieren lassen, samt bordeigener Zapfanlage.
Als die Yacht die letzte Wende über die Ziellinie zentimetert, dies unter dichtem Schiffs-Gemenge, hat man den leisen Eindruck, dass sich die streunende Motte nach den alten Tagen zurücksehnt. Wie ein weitgereister Fregattvogel mutet sie neben den meisten anderen Schiffen an. Als wolle sie sagen: nein, lieber kein Zickzack um eine Insel herum. Lieber die Segel wochenlang auf einem Bug stehen lassen, weiten Kurs nehmen und für Monate da draußen über die Meere zigeunern. Ohne große Worte, begleitet lediglich vom stillen Applaus der Wellen.
Aktuell wird die “Gipsy Moth IV” einer mehrphasigen Restaurierung unterzogen mit dem Ziel, sie in den Zustand von 1966 zu versetzen. Die Restaurierung wird im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden durchgeführt. Eine weitere Weltumsegelung ist angedacht.
Der Artikel erschien zum ersten Mal 2016 und wurde für diese Onlineversion überarbeitet.