Haben die das Heck vergessen? Die „Zeeslang“ – niederländisch für Seeschlange – muss der Segelwelt der späten fünfziger Jahre vorgekommen sein wie eine Yacht, der das Hinterteil abgesägt wurde. Denn da sind ja keine Überhänge! Schlimmer noch: Das Boot verjüngt sich nach achtern kaum – heute üblich, weiland geradezu ein Sakrileg. Der stumpfe Spiegel wirkt wie von einer Jolle. Vorn ragt ein vergleichsweise senkrechter Steven empor. Insgesamt: empörend! Gut, der Konstrukteur dieses Vorgriffs auf moderne Yachtmerkmale hatte einen gewissen Erfolg mit seiner „Valk“, einer Sparjolle für den kurzen Sonntagsausflug, konstruiert in den Nöten der Vorkriegszeit, obendrein ein Binnenboot. War jenes Konzept hier einfach in der Länge gestreckt worden? Wer sollte sich damit auf See wagen, zumal noch in die berüchtigten Gewässer am Kap der Guten Hoffnung?
Michael Baumann, 56, ist heute der Eigner dieses besegelten Yacht-Affronts. Mehrere Zufälle führten ihn ab 2005 zuerst an Deck und später zum Kauf. Der Flugzeugbauer war gerade nach Kapstadt versetzt worden, da hatte ihn bei einem Teambuilding auf dem 60-Fußer „Diel“ das Segelfieber gepackt. „Da hinten habe ich noch ein kleines Boot“, habe der „Diehl“-Eigner Bernhard Diebold gesagt und auf die „Zeeslang“ gedeutet, „mach doch einen Segelschein und nimm sie.“
„Ich habe am gleichen Abend einen Segelkurs bei Atlantic Yachting gebucht“, erzählt Baumann an Bord der „Zeeslang“, die mittlerweile am Bodensee liegt. Als Flugzeugkonstrukteur gefiel ihm der Leichtbau sofort. „Ein paar Wochen später hatte ich den Day-Skipper-Schein der Royal Yachting Association (RYA).“ Nutzung gegen Pflege, das war die lapidare Vereinbarung. Aber bald stellte sich heraus, dass eine kostspielige Neulackierung anstand. Beide notierten den Kaufvertrag auf einem Bierfilz und unterzeichneten.
Die „Zeeslang“ mag einen Vorgeschmack auf die 1968er-Bewegung gegeben haben, in der Konventionen generell hinterfragt wurden. Denn hier wurden die bisherigen Übereinkünfte der Yachtkonstruktion pulverisiert. Sie brach seinerzeit mit beinahe allen Werten, die damals für eine Yacht Gültigkeit besaßen. Der Leichtbau wies wesentlich weniger Spanten auf. Tragende Teile der Einrichtung waren selbst welche, nur neun Millimeter dünn. Dabei galten Boote aus Sperrholz allenfalls als Notbehelf. Die „Zeeslang“ hingegen wurde ganz bewusst daraus gebaut.
Das passte: Der Niederländer Cees Bruynzeel („C. B.“), Auftraggeber der „Zeeslang“, hatte bereits zuvor die Yachtszene brüskiert. Als Türenfabrikant zunächst in Hamburg, später in seinem Heimatland, produzierte er „Hechthout“ (hecht, niederländisch: eng verbunden), ein neuartiges Sperrholz, bei dem die Lagen mit Kaurit und Phenolharz verklebt sind anstatt mit den bisherigen Leimen, die sich in Wasser und Wärme auflösen. Cees Bruynzeel hatte bereits eine seiner Sperrholztüren in einem Wasserbecken schwimmen lassen, um deren Haltbarkeit zu demonstrieren. Er segelte für sein Leben gern und genoss es zu gewinnen. Siege nach berechneter Zeit waren ihm piepegal. Mit der Sparkman&Stephens-Konstruktion „Zeearend“ hatte er das Fastnet-Rennen 1937 gewonnen.
Beim Schlendern durch Zaandam soll er kurz darauf seinem Freund Ericus Gerhardus van de Stadt seinen Geistesblitz enthüllt haben: Die Aufgabe für den seinerzeit nur einer Minderheit bekannten Konstrukteur bestand darin, aus dem wasserfesten Sperrholz, aus Türen also, ein Boot zu bauen. Die Aktion war weiterhin eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, denn im seinerzeitigen wirtschaftlichen Abschwung wollte Bruynzeel niemanden entlassen. Aber nicht, dass die Arbeiter nun hätten bummeln können: In 150 Stunden musste das Boot fertig sein, das Limit galt für Angestellte und den Konstrukteur. Cees Bruynzeel war erfolgreich als Holz- und Türenmagnat, aber nun wollte er eine Serienwerft gründen. Ein Auftrag also, der zum Scheitern verurteilt war? E. G. van de Stadt schlug ein, ein Handschlag, der ihm später viel Schulterklopfen und Anerkennung verschaffen sollte.
An einem Freitag, am 1. September 1939, am Tag des deutschen Überfalls auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste, zeichnete er die ersten Linien. Die „Valk“-Boote, drei Türen lang, liefen ab Januar 1940 aus der Werkshalle und fanden sofort Zustimmung und Abnehmer. Der Konstrukteur van de Stadt war in der niederländischen Segelwelt mit einem Schlag in aller Munde.
Die mit Kiel nur 450 Kilogramm wiegende „Valk“ segelte ausgezeichnet, die ersten hundert Boote waren flugs verkauft. Im Krieg endete dann aber bei Baunummer 250 die Erfolgssträhne. Vorübergehend: Heute noch segeln „Valks“ aus diesen ersten Serien. Als „Poly-Valk“ wird eine daran angelehnte Konstruktion mittlerweile aus glasfaserverstärktem Kunststoff gebaut. E. G. van de Stadt hatte aus der Not eine Tugend gemacht und damit vorweggenommen, was spätere Schlepptankversuche bestätigten: Kurzkieler mit flachem Boden und Chines sind schnell. Und exakt diese Konstruktionsmerkmale wandte van de Stadt auch auf die größere Seeyacht „Zeeslang“ an.
Sie liegt für unsere Ausfahrt am Steg der klassischen Yachten im Interboothafen Friedrichshafen. Denn inzwischen ist Michael Baumann wieder am Bodensee und hat seine Yacht aus Kapstadt mitgebracht. Doch sie wirkt trotz adäquatem Baujahr seltsam fremd zwischen den hochglanzlackierten Mahagoni-Zahnstochern mit ihren spitzen Bugen und weit auskragenden Hecks. Und sie passt auch nicht zwischen die hochbordigen aktuellen Neukonstruktionen an den Stegen gegenüber. Dabei ist sie ihnen konstruktiv viel näher.
Ohne Motor – wie einst – geht es zunächst mit paddelnder Besatzung auf dem Vorschiff, dann gezogen von einem der Messemotorboote weiter raus auf den See.
Michael Baumann erzählt währenddessen den konstruktiven Weg von der „Valk“ zur „Zeeslang“: Türenfabrikant Bruynzeel plante 1956 einen Umzug nach Kapstadt und ließ sich für das neue Gewässer dort ein Wochenendboot zeichnen: schnell, einfach zu segeln und seegängig genug für das offene Wasser vor dem Kap; von behaglichem Wohnen an Bord war nicht die Rede. Immerhin: Auf Bruynzeels Vorgängeryacht musste die Crew selbst auf Schlafmatten verzichten, die waren beim Grammfuchser mittlerweile salonfähig.
E. G. van de Stadt konstruierte anhand dieser Vorgaben „eine überdimensionierte Jolle, der wir uns nicht einmal in der Table Bay, dem einzigen geschützten Bereich der umtosten Kapküste, anvertrauen würden“, werden in der „History of the Royal Cape Yacht Club“ die unverblümten Zweifler in Kapstadt zitiert. Van de Stadt hatte dem Boot selbst einen Skeg vorenthalten, das Ruderblatt steht frei, der Kurzkiel mit seiner visionär gepfeilten Finne und der Bombe sowie der nach damaligem Gefühl beinahe mittig stehende Mast verliehen dem Boot eine reichlich gewöhnungsbedürftige Silhouette. Auch der geringe Freibord trägt dazu bei. Das ist heute noch nachzufühlen, das Bodenseewasser lässt sich mit ausgestrecktem Arm aus dem Cockpit erreichen.
Die Segel sind flott über die Winschen am Mast aus Fichte gesetzt. Jetzt, bei gerade mal 1 Beaufort, ist aber ein Nachteil der Konstruktion zu erkennen: Der Spiegel taucht. Das war für die am Kap vorherrschenden Winde kein Problem, das Wasser fließt bereits bei wenig Fahrt glatt ab.
Doch schon ab 5 Beaufort begann der vorn V-förmige und achtern platte Rumpf zu gleiten, wird berichtet. Bereits bei den seinerzeitigen Testfahrten auf der Nordsee soll die Nadel der Logge des Fabrikats Kenyon bei 12 Knoten am Anschlag gestanden haben. Im stürmischen 70-Meilen-Race von Kapstadt aus rund Dassen Island gaben alle Gegner bis auf „Paragon 3“ auf, ein 16-Tonnen-Kutter, der als schnellstes Boot im Club galt. Dort an Bord war man der Ansicht, Erster zu sein und ein Fischerboot entgegenlaufen zu sehen.
Doch da war „C. B.“ bereits auf dem Rückweg. Im Ziel hatte er 40 Minuten gutgemacht und dem Teufel ein Ohr abgesegelt. „Länge läuft“, hatte es vorher geheißen; doch die „Zeeslang“ geizt mit Überhängen, und sie läuft trotzdem. Das verdankt sie ihrer Leichtigkeit: 1,8 Tonnen auf neun Metern, das war schon was damals. Erreicht wurde das durch einen weitgehend selbsttragenden Rumpf. Heute werden Leichtbau-Rennyachten als Hochseejollen bezeichnet, und zwar bewundernd. Seinerzeit galt die „Zeeslang“ als „besegelte Zigarrenkiste“ – das war eher abwertend gemeint.
Sperrholzbooten sagte man eine kurze Lebensdauer voraus, da lag man falsch. Dass „Zeeslang“, diese Wendemarke der Yachtkonstruktion, aber heute noch in Fahrt ist, ist mehreren Pflegeeltern zu verdanken. Denn 1960 verkaufte Bruynzeel das Boot, es wurde zunächst weiter über Regattakurse gescheucht. Auf Podiumsplatzierungen folgte ein Sieg im Cape Town to Saldanha Easter Race. Auch die 250 Meilen nach Gansbaai und zurück gewann sie. Einmal loggte sie 73 Meilen in 6 Stunden und 20 Minuten – 11,5 Knoten. Im Schnitt!
Mit Aufkommen neuer Verrechnungen wurden Siege aber zusehends schwieriger, das Boot verkam. Nach mehreren Eignerwechseln gründete der südafrikanische Segler Colin Farlam eine „Action Group“ zur Rettung. Die suchte – erfolglos – Sponsoren und vermittelte – erfolglos – Richtung Maritimem Museum in Kapstadt. Schließlich erwarb und restaurierte Tony Randall die mittlerweile räudige Rennziege, aber dessen Arbeiten waren offenbar zu oberflächlich, denn als Bernard Diebold, Michael Baumanns Voreigner, sie übernahm, war ein so grundlegender Refit zu absolvieren, dass Cockpit, Deck und der Aufbau neu entstanden. Zum Glück. Denn Zwischeneigner hatten den auffälligsten Teil des Bootes durch einen gewöhnlichen Kajütaufbau ersetzt.
Nun wölbt sich wieder die ehemals installierte Haube aus grünlichem „Perspex“ (Polymethylmethacrylat, Acrylglas) und Sperrholz-Gerüst über den Köpfen: Blick und Lichtflut gleichen denen im Aussichtswagen des Rheingold-Express oder einem der Dome-Cars der Kanadischen Eisenbahn: himmlisch, in doppelter Hinsicht!
Ob Konstrukteur E. G. van de Stadt die Idee zu dieser hellen Haube beim gemeinsamen Betriebsausflug gekommen war? Ein historisches Foto aus den fünfziger Jahren zeigt die Mitarbeiter des Konstruktionsbüros in einem vollbesetzten Cabrio-Reisebus mit gerundeten Dachfenstern.
Für die Kanzel am Boot gab es ganz praktische Gründe, denn so konnten Kurs und Segel aus der warmen und trockenen Kajüte im Auge behalten werden. Eine zweite Pinne ragte unter dem am Deck schwebenden Cockpit hindurch nach vorn. Zwischen Achterkoje und den beiden Schränkchen auf Masthöhe hatte van de Stadt zum Steuern Schalensitze platziert, quer zur Mittschiffslinie. Wie bequem sie sind! Die Hüfte passt eben zwischen die Seitenwände, damit muss die Abstützung gerade im Seegang ausgezeichnet gewesen sein. Die Winschen besaßen zusätzliche Kurbeln unter Deck.
Auf der „Zeeslang“ sind beide im Refit nicht wieder installiert worden, der seinerzeitige Eigner berichtete, er wolle die Nase lieber in den Wind stecken. Von Cliffie Leih, dem Eigner nach „C. B.“, ist aber überliefert, dass er diese Besonderheit regelmäßig nutzte, „beim Einlaufen mit niemandem an Deck, sehr zur Bestürzung der Betrachter“.
Erhalten geblieben sind dagegen die Klapp-Cockpitdeckel und der ausgesprochen technisch anmutende Großbaum, ein Brett mit seitlichen Leisten. Der hat die historischen Beschläge, ist aber nachgebaut: „Ich hatte mich mit einem Skipper zum 1700-Meilen-Race nach St. Helena angemeldet und das Boot entsprechend ausgerüstet“, erzählt Michael Baumann. „Ich stellte mir das als ruhiges Rückenwindrennen vor, denn zurück kommen Yachten und Crews mit dem Postschiff.“ Doch dann wehte es mit 8 Beaufort, und in einer Patenthalse krachte der Baum in die Backstage und brach. „Ich war ebenfalls sehr geknickt. Wir haben Baum und Segel an Deck gelascht und sind wieder nach Kapstadt zurück. Heute würde ich zu dritt segeln und vor allem einen Bullenstander setzen.“
Cees Bruynzeel hätte wohl getobt. Überhaupt musste man bei ihm an Bord nicht nur hart im Aushalten der Brecher sein. Ein Mitsegler auf dessen späterem „Stormvogel“ berichtet, „die Crew hatte zwei Rand pro Mann und Tag zu bezahlen. Ich fragte Bruynzeel warum, denn das war für einen Mann seines Wohlstandes vernachlässigbar. Er lächelte und sagte, die Maßnahme trenne die Männer von den Jungs.“
Zigaretten seien erlaubt gewesen an Bord – angezündet mit halbierten Streichhölzern. Weitere Spezialität: Auf Siegerehrungen wurde der Türen-Tycoon nie gesehen, er drehte im Ziel stets Richtung Heimat ab. „Zeeslang“-Voreigner Bernard Diebold musste eine Reise in die Niederlande antreten, um endlich bei van de Stadt die benötigten Pläne für den Refit zu bekommen, die „C. B.“ beim Verkauf nicht übergeben hatte: „Warum?“, soll dieser gesagt haben. „Sie haben mich mehr gekostet, als ich nun für das Boot erhalte.“
Bekannt ist, dass eine leicht modifizierte Form der „Zeeslang“ als Ausführung „Black Soo“ in mehreren Einheiten gebaut wurde, auch sprachlich sehr nahe am Original: „Soo“ bedeutet bei den Sioux-Indianern „kleine Schlange“. Auch die Konstruktion der Royal Cape One Design-Yacht (RCOD) erinnert stark an die „Zeeslang“. Denn, so erzählte Cees van Tongeren, zwölfter eingestellter Zeichner im Konstruktionsbüro van de Stadt der YACHT: „Der Unterschied besteht im Wesentlichen im Sprung, ansonsten sind es beinahe dieselben Boote. Außerdem hat die ‚Zeeslang‘ eine 7/8-Takelung; alle ähnlichen Konstruktionen sind toppgetakelt.“
Der Grund: Bruynzeel wollte jeweils Unikate und konnte das dem Konstrukteur gegenüber auch durchsetzen. Eine dieser „Zeeslang“-Blaupausen entstand als Konstruktionsnummer 509 für einen Auftraggeber in Los Angeles, aber das Boot stürzte bei der Anlieferung vom Frachter. 1960 wurde ihm deswegen ein weiteres, Nummer 519, gebaut. Nummer 596, ähnliche Konstruktion, ging 1968 nach San Francisco. E. G. van de Stadts Konstruktionen der Folgejahre, selbst die für Bruynzeel, waren nicht so radikal wie die „Zeeslang“, obwohl er den getrennten Lateralplan und Leichtbauten weiter verfolgte.
Die „Zeeslang“ hatte mit „Zeevalk“ hingegen eine berühmte Vorgängerin: Der Entwurf, ebenfalls von „C. B.“ in Auftrag gegeben und gesteuert, segelte 1951 im Fastnet Race als kleines und besonders leichtes Boot auf Platz zwei. „Der Konstrukteur Rod Stephens aus dem damals angesagtesten Büro Sparkman & Stephens warf einen Blick auf die Zweitplatzierte“, erzählt ein Mitsegler, „und fragte eher rhetorisch: Damit soll man aufs Meer gehen?“ Die Yachtwelt vermochte die gewinnbringenden Vorzüge erst Jahrzehnte später zu erfassen, stattdessen tat sie den frühen Erfolg als zufälliges Ergebnis tüchtiger Segler ab.
Die jollenartige Kielyacht war ihrer Zeit jedenfalls weit voraus, ebenso die Bauweise. 1953, zuzeiten der klassisch beplankten Langkieler, berichtete die YACHT etwas väterlich- distanziert über Sperrholzbauten. Erst 1963 war der Werkstoff im Bootsbau etabliert – und wurde dann schnell durch glasfaserverstärkten Kunststoff abgelöst.
Ein Wandel, den Ericus Gerhardus van de Stadt mitmachte, der auch in Deutschland sehr bekannt wurde. Ab 1965 war der Holländer mit der „Varianta“ und diversen weiteren GFK-Yachten erfolgreich, die er für Willi und Heinz Dehler und deren Werft im nordrhein-westfälischen Freienohl zu Papier gebracht hatte.
Dieser Artikel erschien im Mai 2020 und wurde für diese Online-Version aktualisiert.