Glänzend lackiert, mit cremefarbenem Lauf- und blauem Kajütdeck, liegt das Schiff im Wasser der Schlei. Schlank und spitz läuft der Bug zu, das Heck nicht minder schnittig, der Mast ebenfalls ein herausragendes Exemplar: In einer weiten Kurve biegt sich die Peitsche gen Himmel, als habe der Konstrukteur das Rigg einst einer gewaltigen Vogelschwinge abgeschaut. Eine seltene Schönheit ist dieses Schiff, der fast zwölf Meter lange Schärenkreuzer namens „Bremen“, das steht sofort nach dem ersten Anblick fest, ohne dass nur ein Meter damit gesegelt wurde.
An Bord, in der Kajüte, ist fast alles noch so wie im Jahr 1927, als das Gefährt in Lemwerder bei Abeking & Rasmussen ins Wasser ging. Die schmalen ovalen Fenster, die beiden Bullaugen zum Bug hin, darunter die Hutablage für die Herren, „noch heute das trockenste Plätzchen im Schiff“, wie der Eigner sagt. Da ist an Steuerbord der kleine Schrank, in dem früher vermutlich die adretten Zweireiher hingen. Gegenüber der flache Küchenkasten, mit dem sich vielleicht kein flambierter Rehrücken aus der Kombüse zaubern lässt, aber doch alles, was für eine kleine Tour unter Segeln nötig ist.
Schmal und sparsam öffnet sich der Salon mit den beiden Kojen, der Besucher sitzt auf blauen Polstern, bewegt sich über lackierte Bodenbretter. Und schaut staunend nach unten, weil Fallen und Trimmvorrichtungen nicht etwa am Mast oder übers Deck ins Cockpit geleitet werden, sondern hübsch kaschiert mitten durch den Salon verlaufen. Großfall, Fockfall, Cunningham, Unterliekstrecker: Über Taljen, Blöcke und Curryklemmen sind die Leinen bis zur Schwelle am Niedergang geführt. Das Boot lässt diese Lösung von außen nur noch minimalistischer und eleganter anmuten, und der Eigner muss beim Trimmen und Heißen der Segel nicht einmal groß aufstehen.
Auch darum ließe sich dieser Klassiker wohl als Besonderheit bezeichnen. Hinzu kommen seine fast hundert Jahre, die er auf dem Buckel hat, seine auf die Länge bezogen äußerst schmal bemessene Breite von nur zwei Metern. Da sind die beiden Schlepperpoller an Bug und Heck, die zierlichen Handläufe auf Vor- und Achterschiff. Da ist der ganze Duft der alten Tage, den diese ranke Holzyacht verströmt.
Ihre wirkliche Besonderheit aber ist nicht offenkundig und steht nirgends geschrieben. Die „Bremen“ nämlich hat eine Geschichte zu erzählen – eine Story, die sich viele der andächtigen Betrachter noch nicht einmal ausdenken könnten. Zweimal schon ist dieser Schärenkreuzer von den Toten auferstanden. Das Boot durchwetterte einen Krieg, zog, sozusagen, ein Baby groß und hielt über zwei Generationen eine ganze Familie bei der Pinne. Es ist ein Schiff zudem, das schon so einige Heimathäfen hinter sich hat. Von der Nordsee ging die Reise zunächst auf den Rhein, vom Rhein zwischenzeitlich an den österreichischen Teil des Bodensees, dann wieder zurück nach Norden und zuletzt an die Ostsee.
Ohne Frage ein Schiff, das gelebt hat; ein Schiff, das noch immer lebt und bester Dinge ist. Das kreuzt und segelt und von seinem Eigner tatsächlich so sehr geliebt wird, dass dieser den Satz sagt: „Ich kann das Boot niemals weggeben.“ In hellen Bootsschuhen und blauem T-Shirt sitzt Jan Kochen im Cockpit und sagt ferner: „Das Boot ist ein Teil von mir. Sobald ich an Bord bin, rieche ich meine eigene Geschichte, dann rieche ich Ursuppe.“ Kochen, mit leicht zerzausten Haaren, macht einen Schritt den Niedergang herunter, setzt sich und zeigt nach oben unter die weiße Kajütdecke. Zu sehen ist eine kleine runde Öffnung, durch die beim Kranen einst die Ketten von den Heißaugen geführt wurden.
Da oben, sagt er, habe er schon als Säugling gehangen. In einem Babykorb schaukelte Kochen unter der Kajütdecke, als die Eltern früher segelten. Nicht mal sechs Monate war er alt, da roch er schon den Lack, das Leinöl dieses Kreuzers. Und baumelte im Wellengang.
Heute ist Jan Kochen 58 Jahre alt – und seit 1961 verbindet ihn mit der „Bremen“ ein halbes Menschenleben. Das Boot ist für ihn eine Art Krippe, segelnde Kinderstube und schwankender Jugendhort: Mit diesem Schärenkreuzer ist er aufgewachsen. Kennt jede Messingschraube an Bord. Jeden Beschlag, jede Bodenwrange. Kennt natürlich auch die ganze Geschichte der „Bremen“, selbst die Historie aus jenen Tagen, als der Kreuzer das erste Mal das Wasser touchierte – und selbst seine Eltern noch Kleinkinder waren.
1927. Ein vergleichsweise gutes Jahr, ein Jahr ziemlich genau zwischen den beiden Weltkriegen. Während in Lemwerder längst anerkannte Schönheiten vom Stapel rutschten – darunter Zwölfer, entworfen von Henry Rasmussen –, wurde auch der 30er-Schärenkreuzer hier gebaut: für den Weser Yacht Club Bremen. Die Jugend wurde auf dem Schiff ausgebildet, segelte damit in den dreißiger Jahren Touren bis nach Helgoland. Eine herbe Angelegenheit, mit so einem flachen Boot durch die Nordseewelle zu rauschen; es dürfte nass gewesen sein.
Das Schiff besaß für solche Ausflüge damals noch ein selbstlenzendes Cockpit, eine eigens in die Plicht eingelassene Zinkwanne. So machte die „Bremen“ ihre frühen Törns, ein weißer Vogel, der über die Weser zog und manchen Schlechtwettertag auf der Nordsee durchlebte. Bis das Boot eines Tages verkauft wurde: nach Düsseldorf.
Ihren übelsten Sturm erlitt die schöne Schäre allerdings nicht auf der Nordsee, nicht in den Strömungen des Rheins, sondern im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs. Als Düsseldorf bei späten Angriffen zum wiederholten Male bombardiert wurde, trafen Granaten das Schiff, Treffer zerfetzten Bug und Heck – bis die „Bremen“ sank und im Becken des Yachthafens verschwand. Ein halbes Jahr lag das Schiff auf Tiefe, dämmerte halb verrottet in den Fluten, doch der Untergang war keineswegs das Todesurteil. Zum einen: Die Alliierten konfiszierten das gesunkene Schiff nicht, sie brachten es nicht – wie viele andere intakte deutsche Yachten – als segelnde Trophäe nach England.
Jan Kochen blickt sich immer wieder im Boot um, als er die Geschichte erzählt. Es muss ihm vorkommen wie die Kulisse zu einem alten, düsteren Schwarzweißfilm. Düsseldorf im Bombensturm, Flammen über dem Rhein, während seine „Bremen“ zerschossen auf Tiefe geht – und er noch nicht einmal geplant ist.
Dass das Schiff heute noch übers Wasser kreuzt, ist aber vor allem den damaligen Eignern zu verdanken. Die nämlich ließen das Wrack nach dem Krieg bergen, brachten es zurück nach Lemwerder, wo es die Bootsbauer bei Abeking & Rasmussen instandsetzten. Bug und Heck entstanden neu, bis die „Bremen“ nach langer Prozedur wieder ein segelfertiges Fahrzeug war. Abermals ausgeliefert wurde das Schiff kurz nach der Währungsreform 1948 – und weil die Eigner nach dem Krieg kein Geld, wohl aber ein Autohaus besaßen, bezahlten sie die anfallenden 3000 Deutsche Mark, indem sie der Werft zwei neue DKWs überließen. Tausche zwei Neuwagen gegen frisch restauriertes Schiffswrack. Schon die damaligen Besitzer dürften gewusst haben, was wahre Bootsliebe bedeutet.
Sechs Jahre später erblickten die Eltern von Jan Kochen den Schärenkreuzer und konnten ihn für die Familie ergattern. Vorgefertigte Verträge für Gebrauchtyachten waren damals noch nicht zur Hand, so setzte man ein Papier zum „Gebrauchtwagenkauf“ auf. Das Wort „Auto“ wurde darin kurzerhand durch „Boot“ ersetzt.
Die Familie segelte von diesem Zeitpunkt an regelmäßig auf dem Rhein, machte Ausfahrten am Wochenende, nahm an Regatten teil; als Sohn Jan geboren war, mit dem Baby im Salon baumelnd. Jan Kochen kramt an Bord in einem der Schapps, holt das Eignerschild aus diesen Tagen der „Bremen“ hervor. In Shorts und Basthut kommt er aus dem Vorschiff gekrochen, wühlt sich durch einen Berg aus Segeln und Tampen und hält eine alte „Messingplakette“ in Händen. „S. Y. Bremen“ steht darauf, „30/G32 Düsseldorf“. Darunter, eingraviert: „Annemie Kochen.“ Der Kreuzer war damals auf seine Mutter zugelassen, eindeutiges Indiz dafür, dass in der Familie keineswegs nur die Herren Segelnarren waren.
Entsprechend ernsthaft wurde das Schiff stets gesegelt, auch schon von den Voreignern. Insgesamt 50-mal startete die „Bremen“ im Laufe ihres Lebens bei der Rheinwoche, gewann dabei siebenmal das Blaue Band als schnellstes Schiff der Regatta. Unten in der Kajüte hat Kochen seine Kopfbedeckung abgenommen, kratzt sich die Haare, und man weiß nicht, ob er so den Hut vor seinem eigenen Boot zieht oder aufgrund all der Geschichten selbst immer wieder ins Staunen gerät. Denn das nächste Kapitel ist noch lange nicht erzählt: Die arme „Bremen“ nämlich musste bald ein weiteres Mal dran glauben.
Das Boot lag 1986 noch immer in Düsseldorf, als während eines Sturms zwei Pappeln umstürzten und der „Bremen“ den Bug abrasierten. Die Yacht ging abermals entzwei, vorn war die halbe Backbordseite regelrecht weggebrochen. Ein trauriger Anblick – doch die Eltern wollten das Schiff partout behalten.
Weil sie keine Kasko-Versicherung besaßen, mussten sie eine Stange Geld in die Hand nehmen und transportierten die „Bremen“ nach Hard an den Bodensee zur österreichischen Biatel-Werft. Der Senior-Chef hatte sich das Boot vorab angeschaut und sprach: „Herr Kochen, wenn Sie das wirklich wollen, dann richten wir Ihnen das.“ Herr Kochen wollte. Ein Jahr dauerte die Reparatur, der Rumpf wurde neu aufgeplankt, zwei Lagen Holzfurnier kamen hinzu, eingesetzt wurde erstmals auch das neue Material Epoxid. Und dann schwamm die „Bremen“ wieder – nun bereits nach ihrer zweiten Auferstehung.
Gemeinsam macht sich die Familie in den nächsten Jahren an die Winterarbeit. Sohn Jan, inzwischen schon groß, kommt immer wieder vorbei, hilft, ist auf dem Rhein regelmäßig mit von der Partie; zu schön ist das Boot, zu gut lässt es sich segeln. Und viel zu tief verwurzelt sind sie inzwischen alle mit seiner Geschichte, als dass je über Trennung oder Aufgabe der Yacht nachgedacht wird. Jan Kochen sagt: „Das Boot war und ist ein Teil der Familie.“
Und seit dem Jahr 2000 zeichnet er, der Sohn, für das Schiff verantwortlich. Selbstredend übernahm er es von seinen Eltern, als die eines Tages bei bestem Willem nicht mehr wollten, nicht mehr konnten. Immerhin: Dies hier ist sein schwimmender Kinderwagen! Seine seegehende Seifenkiste! Kaum in seiner Hand, steckte auch er eine ordentliche Summe in den Unterhalt der „Bremen“. Die Püttinge kamen neu, ein durchgehender Rahmenspant wurde eingebaut, mit dem die Yacht heute „stärker denn je“ ist, obendrein ließ Kochen sieben Bodenwrangen aus Edelstahl einsetzen. Keine Kinkerlitzchen. Das Aufmöbeln seines betagten Familienstücks kostete eine gute fünfstellige Summe.
Über Arnis an der Schlei scheint die Sonne, über dem neuen Revier der alten Dame. Bereits 2001, gleich nach der Übernahme, trailerte Kochen das Boot nach Norden, kreuzte damit erstmals durch die Dänische Südsee, segelte in Schweden, machte 500 Seemeilen in einem Sommer. Stolz sitzt er im Cockpit, lässt seinen Blick über die Details wandern. Zum Beispiel über den stäbigen Schlepppoller auf dem Vorschiff. „Auf dem Rhein war es früher ganz normal, den Berufsschiffern mit einer Trosse zuzuwinken und zu rufen: ,Hey, nehmt ihr mich mit? Ein paar Kilometer stromaufwärts?‘“ Er erinnert sich: „Im Schlepp der großen Kähne nahm das Boot ordentlich Fahrt auf, wurde nicht selten mit gut zwölf Knoten gezogen, weit über Rumpfgeschwindigkeit. Ja, ja, das geht, auch wenn das Boot eine mächtige Heckwelle produzierte.“
Vor dem Bug der „Bremen“ glitzert nun in aller Regel die Ostsee. Kochen setzt auch an diesem Nachmittag die Segel, gleitet hinaus für eine Runde auf der Schlei. Leicht neigt sich das Boot, grazil, es nimmt sogleich Fahrt auf, der Skipper mit Hut lehnt gemütlich in Lee und führt die Pinne.
Die Geschichte des Schärenkreuzers „Bremen“ ist nicht nur eine lange, sondern auch eine schöne. Was sicher auch an ihrem Anblick liegt – ein gewöhnliches Allerweltsboot hätte wohl nicht so viel Mühe und Liebe erfahren. Ganz besonders macht diese Erscheinung letztlich ein Merkmal, das über all die Jahre unverändert blieb: das markante „Marconi-Rigg“ – ihr extrem stark gebogener Peitschenmast, früher ein spektakulärer Nachfolger der Steilgaffel.
Guglielmo Marconi, Ingenieur der Funktelegrafie, war damals auf die Idee eines einzeln und hochstehenden Masts gekommen, stark gekrümmt, abgespannt lediglich mit drei Drähten. Und dabei orientierte sich Marconi an der Natur, an nichts anderem als einer Adlerschwinge. Äußerst ansehnlich mutet das an. Heute ist das nicht mehr der Weisheit letzter Schluss, aber es verströmt durchaus noch eine seltene Eleganz. So segelt die „Bremen“ wie von einem Flügel angetrieben dahin. Engelsgleich beinahe – und über irdische Katastrophen schlichtweg erhaben.
Dieser Artikel erschien erstmalig in YACHT-Ausgabe 20/2019 und wurde für diese Onlineversion überarbeitet.