Text von Luisa Conroy
Die erste Saison nach seiner Restaurierung währte für den 50er Seefahrtkreuzer „Stromer“ nur kurz. Erst Ende Juli war das Schiff aus der Werft gekommen. Die Crew freute sich seither auf den Ringelnatz-Cup, mit dem Anfang Oktober die Regattasaison im Potsdamer Yacht-Club ausklingt.
Doch schon auf der ersten Kreuz passierte es: „Sie kam hinter meiner Genua vor, und ich konnte nicht mehr reagieren“, berichtet Eigner Lutz Müller. „Sie“, das war eine andere Teilnehmerin mit ihrer Maxi Fenix. Als der Bug ihres Schiffes den „Stromer“ an der Backbordseite traf, barst nicht nur das Mahagoni der Außenhaut. Es zerbrach auch die Hoffnung des Eigners, nach dreijähriger Restaurierung endlich mal Ruhe zu haben vom Werftbetrieb. Dabei hatte Müller schon so lange davon geträumt, ganz in Frieden seine Sommer mit diesem Schiff auf dem Wasser zu verbringen.
Seine Geschichte mit dem 50er Seefahrtkreuzer begann 2006, als er ihn am Steg des Vereins Seemannschaft Berlin zum ersten Mal sah. Damals hieß er noch „Resolute“ und wurde nur selten gesegelt. „Es war ein Blick“, erinnert sich Müller, „dann war das so. Das Schiff musste ich haben.“
Dabei war er sich anfangs gar nicht bewusst, was für eine Rarität er da vor Augen hatte. Denn der Seefahrtkreuzer wurde einst als 60er Nationaler Kreuzer mit der Segelnummer A3 bei Heidtmann in Hamburg gebaut. Und der heimische Wannsee, wo Müller bereits seit Jahren Soling segelt, ist nicht nur das Zuhause dieses Exemplars. Das Gewässer ist auch die Geburtsstätte der Nationalen Kreuzerklassen insgesamt.
Um genau zu sein, entstand die Idee sogar in Müllers Heimatverein, dem Potsdamer Yacht-Club. Anfang des 20. Jahrhunderts fand der Segelsport auf Binnenseen in erster Linie auf den kleineren Meterklasse-Yachten statt, die nicht nur teuer in der Anschaffung waren, sondern unter Deck kaum ausgebaut und damit auch gänzlich ungeeignet zum Fahrtensegeln. In der Schifferstube des Potsdamer Yacht-Clubs reifte daher die Idee einer Nationalen Kreuzerklasse. Die Schiffe sollten erschwinglich, rennfähig, für Binnenseen geeignet sein und noch dazu den nötigen Komfort für längere Törns bieten.
Nach einigem Widerstand aus dem Kaiserlichen Yachtclub wurde auf dem 20. Seglertag schließlich dem Antrag des Potsdamer Yacht-Clubs stattgegeben. Es entstanden der 45er Nationale Kreuzer für Binnenseen und der 75er Nationale Kreuzer für Seereviere, wobei die Zahl jeweils für die Segelfläche in Quadratmetern steht.
Im Laufe der folgenden Jahre wurden viele 45er und 75er gebaut, doch es gab ein Problem: Der 75er erwies sich als nicht besonders seetaugliches Boot. Für Binnenreviere hingegen waren die schönen Schiffe mit dem geringen Freibord wiederum zu groß. Aus diesem Grund stellten der Großherzoglich Mecklenburgische Yacht-Club und der Berliner Segler-Club 1923 einen Antrag auf Einführung einer weiteren Kreuzerklasse: des 60er Nationalen Kreuzers.
Die Klasse fand viele Liebhaber. So schrieb die „Yacht“, für den 60er Nationalen Kreuzer seien „die besten Eigenschaften der Schärenkreuzer mit denen der späteren Seefahrt-Kreuzer harmonisch vereinigt“ worden. Laut Yachtkonstrukteur Paul Francke stellten die 60er „von den nationalen Kreuzerklassen infolge ihrer langen Überhänge die elegantesten und schnittigsten Fahrzeuge“ dar. Umso größer war die Überraschung, als der 60er Nationale Kreuzer schon fünf Jahre nach seiner Einführung zur Altersklasse erklärt wurde.
So kam es, dass zu seiner Hochzeit lediglich 16 Exemplare des 60er Nationalen Kreuzers beim DSV registriert waren, davon segelten allein fünf unter dem Stander des Potsdamer Yacht-Clubs. So auch die A3, „Stromer II“. Sie wurde, wie die meisten ihrer Klasse, Mitte des 20. Jahrhunderts zum 50er Seefahrtkreuzer umgetakelt. Und in ebendiesen Seefahrtkreuzer verliebte sich 2006 dann Lutz Müller.
Die damalige Eignerin freute sich über das Interesse an ihrem Schiff und lud Müller dazu ein, an Bord zu kommen. Heute sitzt er in der Kajüte seines Bootes und zeigt auf das kleine Schränkchen im vorderen Teil des Schiffes. „Es gab Likör aus diesem Schapp, und ich sagte ihr, wenn sie jemals verkaufen will, soll sie mir Bescheid geben.“
Sie wollte – knapp 13 Jahre später. Nach einem Unfall erklärte sich die Voreignerin zu einem Verkauf bereit. Doch es war keine einfache Trennung, denn die ältere Dame hatte über die Jahre eine starke emotionale Verbindung zu ihrem Schiff aufgebaut.
Der Abschied wurde bei einem Champagnerabend in einem Hotel am Potsdamer Platz in Berlin gefeiert, und die Voreignerin erwarb das lebenslange Recht, auf dem Seefahrtkreuzer mitsegeln zu dürfen. Müller hatte damit kein Problem, und auch der Rest des Kaufs verlief reibungslos. Nur die geplante Rückbenennung auf den ursprünglichen Namen „Stromer“ löste Sorgen aus, erzählt er. Als die Voreignerin das hörte, habe sie schockiert reagiert und prophezeit: „Die ‚Resolute‘ wird sich wehren.“
Und so kam Lutz Müller, der bis dahin vor allem Soling gesegelt war, 2019 zu seinem Traumschiff. Dass „Stromer“ ein Klassiker war, war dabei für ihn nicht ausschlaggebend, wie er erzählt: „Ich hatte nie wirklich eine Leidenschaft für klassische Yachten. Aber für diese schon. Das ist wie mit dem Verlieben, das kann man sich auch nicht erklären.“
Wenn Müller von der Leidenschaft für sein Schiff erzählt, huscht ein Lächeln über sein sonst ernstes Gesicht. Eine Freude, die erklären mag, warum er an diesem Vormittag im Herbst ohne Scheu von der Odyssee erzählt, die er mit dieser Yacht hinter sich hat. Eine Zeit, geprägt von finanziellen Bürden, gesundheitlichen und privaten Problemen und immer neuen Baustellen an einem Schiff, das nach dem ersten Winter in der Werft eigentlich wieder schwimmen sollte. Doch es wurden am Ende zwei weitere Winter und entsprechend auch zwei ausgefallene Segelsommer.
Am Anfang hatte keiner damit gerechnet, dass das Projekt so lange dauern würde. Nach seinem Kauf überführte Müller den 50er Seefahrtkreuzer mit einem Vereinskameraden zur Werft nach Potsdam. Hier wurde das Schiff intensiv untersucht und ein erstes Angebot gemacht. Die Idee: Das Unterwasserschiff des mit GFK überzogenen Rumpfes sollte sandgestrahlt und saniert, außerdem das Laminat an Deck entfernt und ein neues aufgetragen werden. Schließlich sollten die sichtbar vom Rost zersetzten Bodenwrangen ersetzt werden.
Die Bootsbauer machten sich also an die Arbeit. Doch nach und nach zeigte sich, dass das fast hundert Jahre alte Boot lange keine professionelle Pflege erhalten hatte. „Es ist jahrelang immer nur oberflächig angestrichen worden, und darunter hat es gefault“, fasst Müller zusammen.
Das zeigte sich schon beim Entfernen des Deckslaminats. Als das mal aufgetragen worden ist, wurden offensichtlich weder Beschläge noch Süllbordkante abmontiert, und so war „Stromer“ jetzt an all den Stellen faul, wo das Wasser über die Jahre hatte eintreten können. Die oberste Rumpfplanke war, obwohl aus Teak, über die Zeit verrottet, ebenso wie einige der Lärchenplanken darunter. Das am Bugbeschlag eingetretene Wasser hatte wiederum dem Vorsteven zugesetzt, und entsprechend sah es am Heck aus.
Doch es waren nicht nur die faulen Stellen am Rumpf, die das Projekt in die Länge zogen. „Der Eigner hat sich immer tiefer in das Projekt hineinversetzt“, erzählt der Geschäftsführer der Potsdamer Werft, in der die Restaurierung durchgeführt wurde. Verständlich, findet er, schließlich müssen sich Boot und Eigner auch erst kennenlernen. Müller erinnert sich an diese Zeit und sagt: „Ich wollte ja ein Schiff, das ich eine gehörige Zeit segeln kann. Nachdem sich die ersten Überraschungen aufgetan hatten, wollte ich auch an anderen Stellen nachsehen, was wir unter der Oberfläche finden.“
Was den Kiel anging, hatte Müller schon länger ein komisches Gefühl. „Das war ein Bereich, den wir bei der ursprünglichen Begehung nicht gut einschätzen konnten“, erklärt der Werftchef. „Um den Kiel herum war vieles verrottet und durch Vergussmasse ersetzt worden.“ Es fragte sich daher, in welchem Zustand Bodenwrangen und Kielbolzen sind, und nach langem Hin und Her, ob sich Röntgenaufnahmen von diesem Bereich lohnen würden, fiel die Entscheidung, den Ballast einfach komplett abzunehmen.
Davor allerdings wurden Schablonen und ein 3D-Scan vom Kiel angefertigt. Das war gar nicht so einfach: Weil ein großer Teil der Bilge mit Zement und Laminat ausgegossen worden war, um das Schiff dicht zu halten, brauchte es mehrere Bohrungen, bis die Werft zur Kielaufhängung vorgedrungen war. Neben einer ganzen Menge Vergussmasse fanden die Bootsbauer tatsächlich korrodierte Bodenwrangen und Bolzen. „Da weiß ich noch, wie ich mit meinem Sohn neben dem Boot stand“, erzählt Lutz Müller. „Wir fragten uns: ‚Lassen wir das jetzt so oder sanieren wir die ganzen Tothölzer mitsamt Kielaufhängung und Ruderlager?‘“ Und wie so viele Male zuvor entschieden sie sich für die Sanierung.
Manchmal sei die Restaurierung eine große Herausforderung gewesen, gibt Müller zu. „Mehrfach ist es mir vorgekommen, als würde sie niemals enden“, sagt er. „Aber willst du auf halbem Weg stehen bleiben? Nein, das ging nicht.“
Ob Lutz Müller wusste, worauf er sich einließ, als er „Stromer“ kaufte? „Man hat ja gehört, was bei so alten Schiffen alles im Argen sein kann“, antwortet er gelassen. Aber mit dem Ausmaß habe er nicht gerechnet. Geändert hätte das ohnehin nichts. „Ich wollte das Boot ja haben, egal was ist.”
Der Kiel wurde also abgenommen und instand gesetzt. Den hinteren Teil bauten die Bootsbauer aus Eichenholz neu. Die korrodierten Wrangen wurden saniert und teilweise durch solche aus Edelstahl ersetzt und auch das Totholz mitsamt der Mastspur erneuert. Unter dem Sichtlaminat, mit dem der restaurierte „Stromer“ am Ende überzogen wurde, findet sich nun ein Puzzle der Jahrhunderte: Hundert Jahre altes Holz schmiegt sich an jüngeres, alte wie neue Wrangen verbinden den restaurierten Kiel mit dem Rumpf. Und vielleicht ist das ja der Luxus einer Restaurierung: Neue Materialien und Techniken halten das alte Boot am Leben.
Dabei ist Lutz Müller gar kein Vollblut-Klassikerfan, vielmehr wollte er mit seinem neuen Schiff durchaus in der Lage sein, Regatten zu segeln. „Alles andere ist doch ein bisschen langweilig“, sagt er, während er seinen „Stromer“ über den Wannsee steuert. Die Ausstattung auf dem 50er Seefahrtkreuzer spiegelt diese Binarität wider. Über das traditionelle Deck laufen neue, bunte Schoten, an dem Holzmast sind moderne Fallenstopper angebracht. Müller erklärt, warum: „Ich habe der Werft gesagt, sie sollen Teile einbauen, die einen modernen Ablauf erlauben.“
Für diesen Ablauf zuständig ist Müllers Crew, die, genau wie die Ausrüstung, bunt zusammengewürfelt ist. Da ist Harry, der eigentlich Soling segelt und sonst nicht besonders viel mit Klassikern am Hut hat. Da ist Jens, der selbst einen klassischen 20er Jollenkreuzer besitzt. Und schließlich Claus, der in Berlin und Umgebung als Klassikerenthusiast bekannt und schon seit 25 Jahren Mitglied im Freundeskreis Klassischer Yachten ist. Er ist es auch, aus dessen Aussagen manchmal Verblüffung für Müllers Umgang mit seiner klassischen Yacht spricht. „Aber dass du hier einfach so dein Flaggenalphabet aufgeklebt hast“, platzt es mitten auf der Kreuz auf einmal aus ihm heraus. Er zeigt auf den Niedergang. Müller guckt überrascht. „Darf ich das nicht?“, fragt er unschuldig. Beide grinsen.
Und doch wirkt dieses Schiff auf dem Wannsee seltsam harmonisch, trotz der bunten Ausstattung und der zusammengewürfelten Crew. An Bord geht es um vergangene und kommende Regatten, um die Chat-Gruppe, die man einrichten müsse, um die nächste Saison zu organisieren, und um T-Shirts, die man drucken wolle.
Nur einmal scheint die Crew kurz von Ehrfurcht für das Alter ihrer Yacht ergriffen, einmal scheinen die 99 Jahre Segelsport deutlich zu werden, die sie symbolisiert: als neben ihr ein Vikingkreuzer von 1947 auftaucht. Während die Steuerleute rufend versuchen, sich über das Alter des jeweils anderen Schiffes zu erkundigen, ergibt sich auf dem Wannsee ein in sich stimmiges Bild: zwei klassische Holzyachten auf einer Ausfahrt am Wannsee. Dass sie beide auch schon vor über 70 Jahren Segelsportliebhaber ausführten, wird der Crew an Bord des „Stromer“ sichtlich bewusst.
Müller steuert seine Yacht über den heimischen See und ruht dabei völlig in sich. Der Stress der letzten Jahre, die aufwändige Restaurierung, die Trennung von seiner Frau, eine größere Herz-OP, das alles scheint vergessen, wenn er die hölzerne Dame ausführen darf. Er sei sofort eins mit dem „Stromer“ gewesen, erzählt Müller, als er das Boot zum ersten Mal überführen durfte: „Das gehört einfach zu mir.“ Der 77-Jährige arbeitet noch, inzwischen aber in erster Linie, um das Boot zu finanzieren. An die Reparaturen oder die Restaurierung denke er beim Segeln allerdings selten, sagt er. „Man muss das jetzt erst mal genießen“, sagt Lutz Müller, und über sein Gesicht huscht wieder ein seltenes Lächeln.
Doch leider geschieht am nächsten Tag das Unglück. Voller Wut sei er nach dem Zusammenstoß beim Ringelnatz-Cup gewesen, erzählt der Eigner. Den ganzen Tag habe er sich niedergeschlagen gefühlt. Ob das vielleicht die Rache der „Resolute“ war? Er lacht. „Ich glaube nicht!“ Zum Frühjahr, das hofft er inständig, soll der „Stromer“ wieder schwimmen. Dann hätte er auch diese Hürde rechtzeitig genommen, denn 2024 wird „Stromer“ einhundert Jahre alt.
Nach dem Kauf vor fünf Jahren ließ der heutige Eigner das 1924 als 60 qm Nationaler Kreuzer gebaute und nach dem Zweiten Weltkrieg zum 50 qm Seefahrtkreuzer umgetakelte Schiff begutachten. Zu der Zeit waren Rumpf und Deck schon seit Längerem mit Kunststoff überzogen. Wasser hatte sich an verschiedenen Stellen trotzdem den Weg zur hölzernen Bausubstanz gebahnt. Eine Werft in Potsdam erhielt den Auftrag, Außenhaut und Struktur wie Vor- und Achtersteven, Heckbalken, Spanten und Wrangen zu überholen. Viele dieser Bauteile galt es, gänzlich auszutauschen. Die stählernen Kompositbauteile in diesen Bereichen wurden teilweise durch solche aus Edelstahl ersetzt.
Auch die Bug- und Heckpartie mussten vollständig neu aufgebaut werden. Die Außenhautbeplankung aus Lärche hatte ebenfalls gelitten und musste stellenweise ersetzt werden. Der eiserne Ballastkiel wurde sandgestrahlt und saniert, Tothölzer und Kielbalken erneuert. In dem Zuge bekam „Stromer“ zudem neue Kielbolzen aus Edelstahl. Auch neuralgische Stellen wie Ruderanlage, Püttinge und die Spieren des Riggs wurden überarbeitet. Davon, dass sich der Aufwand gelohnt hat, konnten sich die Besucher der Berliner Wassersportmesse Boat & Fun Berlin überzeugen, wo „Stromer“ wieder strahlte wie ein neues Boot.
Der Artikel erschien erstmals in YACHT Classic 2/2024.