Fridtjof Gunkel
· 23.06.2024
Es ist ein Dilemma: Mit Beendigung der beruflichen Laufbahn nimmt die freie Zeit im Quadrat zu, während der Körper sukzessive abbaut. Bis zu einem Prozent Muskelmasse verliert ein Mensch ab seinem 30. Lebensjahr per anno, wenn er keinen intensiven Sport treibt. Die Kraft schwindet, die Agilität sinkt, die Reaktionsgeschwindigkeit und die Multitasking-Fähigkeit ebenso. Und dies alles gerade dann, wenn die Umstände mehr Zeit zum Segeln ermöglichen und genau diese Fähigkeiten gefragt wären. Ebenfalls diametral: Mit dem Thema Rentenalter einher geht der Wunsch nach großen Taten und der persönlichen Bucketlist.
Die Wege, die Ziele, die der Segler noch per Boot erkunden will, sind meist hochgesteckt. Da steht die große Ostseeschleife auf der Liste, Europa an Backbord vielleicht bis ins Mittelmeer. Die Runde um England oder die Atlantikpassage gar. Mit den ferneren Zielen wachsen Wunsch und Bedarf nach einem geeigneten Boot, das für diesen Zweck größer, schneller, sicherer, komfortabler, langfahrttauglich, langzeitbewohnbar und bei allem auch gut beherrschbar sein sollte.
Dachte sich auch Hans-Peter Glück aus dem schweizerischen Madiswil. Der Zahnarzt und seine Frau Katharina interessierten sich für einen Einzelbau mit diversen smarten Lösungen. Viele davon selbst ersonnen oder weiterentwickelt. Im Laufe der Zeit zeigte sich jedoch, dass der Einzelbau, angedacht war einer aus Aluminium, zu viel Zeit und vor allem Kosten vernichten würde.
Plan B: Man nehme ein erhofft taugliches Schiff von der Stange, statte dies nach eigenem Gusto aus und implementiere obendrein die vielen Ideen, die sich hoffentlich als gut erweisen. Die Wahl fiel auf eine Hanse 455 – ein bewährtes, in hoher Stückzahl gebautes Boot in guter Größe für die lange Fahrt und viele Tage an Bord.
Hans-Peter Glück: „Hanseyachts zeigte sich als gute Lösung. Wir konnten direkt dort zwar nichts umbauen, aber gewisse Dinge weglassen, die wir anders haben wollten. Und die konnte die neben Hanseyachts ansässige Yachtwerft Greifswald einbauen.“
Nun bietet ein 45-Fuß-Boot zwar den für lange Fahrten passenden Wohnkomfort und ein angenehmes Seeverhalten – hat aber eben auch eine Größe, die das Handling gerade für eine ältere Zweier-Crew schwierig macht. Was besonders für das An- und Ablegen gilt, wie nicht nur Erfahrungswerte vieler Skipper belegen, sondern auch die Studie „Fit & Sail“ des Bonner Ingenieurs Wolf-Dieter Mell, mit dem Hans-Peter Glück für seine „Rubberduck“ zusammengearbeitet hat. Mells Studie, für welche unter anderem die Herzfrequenzen von 42 Probanden im Alter zwischen 60 und 70 Jahren während eines typischen Segeltörns gemessen wurden, besagt, dass neben dem Segelsetzen die Hafenmanöver nicht nur als große mentale, sondern auch als nachgewiesene körperliche Belastung empfunden werden.
Hier setzt Glück mit der Hanse an; er hat zusammen mit Partnern aus der Industrie den ebenfalls von Forscher Mell angedachten Comfo-Drive weiterentwickelt und zur Funktionsreife gebracht. Das System besteht aus dem standardmäßigen Dieselmotor sowie einem Bug- und einem Heckstrahler mit je 6,3 Kilowatt Leistung. Ein Drei-Achsen-Joystick bedient diese Komponenten, wobei die Bowdenzüge für die Hauptmaschine von Servomotoren gesteuert werden. Mit dem Joystick lässt sich “Rubberduck” vor und zurück sowie seitwärts steuern sowie Gas geben, und es lässt sich drehen. Das System ist komplett redundant; wenn der Joystick und die Steuerungsmotorik ausfallen, steht der konventionelle Gashebel zur Verfügung.
Den Comfo-Drive haben wir bei moderatem bis böigem Wind ausprobieren können. Die „Rubberduck“ lässt sich gegen den Wind an- und ablegen, sie dreht auf der Stelle, sie lässt sich gut am Liegeplatz halten, beispielsweise, um in Ruhe die Leinen ausbringen zu können. Das soll noch erweitert werden. Mit einer „Hold“-Funktion sollen GPS und Steuerungssystem das Boot automatisch auf einer Position halten können. Sogar ein selbsttätiges Anlegesystem befindet sich in Vorbereitung.
Aber schon jetzt bietet das System eine Menge: Eine zweite mobile Steuereinheit lässt sich auf dem Vorschiff per Kabel anschließen und dort an der Reling befestigen. Somit kann der Steuermann das Boot, ohne am Rad zu stehen, beispielsweise beim Anlegen mit dem Heck zur Pier, manuell auf der Stelle halten, während er sich gleichzeitig die Muringleine geben lässt und diese am Bug durchholt.
Dabei hilft ein weiteres schlaues Arrangement, das an Bug und Heck auf jeder Seite für die Festmacher installiert ist. Die zu belastende Leine wird durch eine oben schließbare Lippklampe und eine daran montierte übergroße Curryklemme aus Aluminium und schließlich auf eine Winsch geführt. Achtern sind das die elektrischen Schotwinschen, vorn eine zentrale Muringwinde. Wenn mit der Winsch genug Spannung auf die Leine gebracht und das Boot wunschgemäß vertäut wurde, lässt sich die Leine abklemmen, von der Trommel nehmen und konventionell auf Klampen wieder belegen. Zum Fieren arbeitet man in umgekehrter Reihenfolge.
Damit nicht genug der Unterstützung: Die Glücks können eine Unterwasserdrohne an einer Stange gelagert am Vorschiff absenken. Spielerei? Der Tüftler: „Damit können wir den Untergrund anschauen und beobachten, wie sich der Anker eingräbt.“ Zu dem Zweck lasse sich die Drohne auch am Kabel fernsteuern. Das Gerät ist sicher nicht zwingend – aber warum auch nicht, man hat ja Zeit.
Angesichts der teils aufwändigen Maßnahmen, Umsetzungen und Modifikationen an Bord zeigt sich das gesamte Rigg überraschend konventionell. Die Standard-Selbstwendefock wurde ebenso beibehalten wie Seldéns Rollreffmast, das Ganze mit Elvströms Triradial-Ware aus Dacron-Sandwich bestückt. Die Winschen sind elektrifiziert, klar. Besonders ist jedoch der Traveller. Der sitzt auf einem recht wuchtigen und multifunktionalen Targabügel, einer Sonderanfertigung von Edelstahl Haese, am Ende des Cockpits und lässt sich elektrisch mit Joysticks proportional bedienen.
Damit stören die Großschot und ihre Blöcke weder im Cockpit noch auf ihrem bei Hanseyachts üblichen Platz vor dem Niedergang. Der Targabügel dient außerdem als Träger für die elektronischen B&G-Displays sowie die halbkardanische Radarantenne und nimmt neben der GPS- und einer Mobilfunkantenne einen Sonnen-/Wetterschutz auf. Die Sprayhood ist an einer festen Scheibe angeschlossen. Achtern ist ein solider Handlauf installiert. Zwischen Sprayhood und Targabügel lässt sich ein Bimini einfach aufspannen.
Als Zusatzsegel, um die Defizite der schmalen Fock auf raumen Kursen auszugleichen, kann ein Code Zero gesetzt werden. So weit, so üblich. Auf der „Rubberduck“ jedoch ist der entsprechende Segelsack oben offen an einem großen Ring befestigt, der schwenkbar am Luk der Segellast montiert ist. Eine prima Sache: Das Segel ist dort gestaut, wo es gesetzt und geborgen wird, damit entfallen Geschleppe und Rüstzeit – wodurch das Segel letztlich öfters eingesetzt werden wird. Ebenso ließe sich ein Gennaker direkt aus dem Luk setzen, vorzugsweise in einem Schlauch.
Des Weiteren komplettiert eine Schwerwetter- oder Sturmfock an einem eigenen mobilen Stag die Garderobe. Da das textile Stag nicht nur an Deck hinter dem Vorstag, sondern auch am Mast darunter ansetzt, sind Backstagen notwendig, die mit den hinteren Schotwinschen auf Spannung kommen. Sie sind ebenfalls textil ausgeführt und mit Alukauschen anstelle von Blöcken ausgestattet, somit leicht und nicht störend.
Der obere Relingshandlauf ist nicht als Draht, sondern als solides Rohr ausgeführt; das schafft Sicherheit beim Begehen des Decks. Kleine blaue LED beleuchten das Rohr indirekt. Das ließe sich als optische Spielerei abtun, macht den Gang aufs Vorschiff im Dunkeln aber leichter.
Am Bug von “Rubberduck” finden sich keine Hilfen, die den Weg an oder von Bord erleichtern; das Boot liegt im Mittelmeer, wo man für gewöhnlich mit dem Heck zur Pier anlegt. Dann kommt eine Gangway zum Einsatz, die unterwegs in einer Tasche am Heckkorb quer gestaut wird. Eine Halterung für den Heckanker ist in gewissen Revieren und Situationen ebenfalls recht dienlich.
Für die Stromversorgung gingen Hans-Peter Glück und seine Partner wieder unkonventionellere Wege. Das werftseitig vorgesehene Bordnetz aus Starterbatterie, zwei Servicebatterien und zwei weiteren Akkus für Bug- und Heckstrahler wurde beibehalten. Die beiden Hydrogeneratoren, für mehr Effizienz kardanisch am Heck gelagert, versorgen den Heckstrahler-Akku und das Servicenetz mit jeweils 600 Watt Spitzenleistung. Weiteren Strom liefern Lichtmaschine und Solarzellen.
Ein zusätzliches Stromsystem besteht aus zwei vom Germanischen Lloyd zertifizierten Lithium-Batterien mit jeweils 2 Kilowattstunden Speichervermögen und einem Wechselrichter mit 3000 Watt Dauerleistung sowie doppelter Belastbarkeit in den Spitzen. Die 12-Volt-Verbraucher werden bei Bedarf von einem Batterie-zu-Batterie-Lader gespeist. Der Wechselrichter versorgt auch unter Landstrom den Verbrauch der 230-Volt-Geräte. Bei zu geringem Landstrom füttert er unterbrechungslos Akkupower hinzu.
Hauptzweck des Zusatzsystems: An dem Inverter hängen haushaltsübliche Geräte wie Induktions-Kochfeld, Heißluftofen, Waschmaschine, Zentralstaubsauger und Kaffeebereiter, die für mehr Lebensqualität bei Langzeitaufenthalten stehen. „Das ist komfortabel, verbraucht aber doch recht viel Saft“, berichtet Hans-Peter Glück. „Wenn wir viel kochen, müssen wir nach einem Tag in der Ankerbucht nachladen. Auf See sieht das durch die Hydrogeneratoren anders aus. Außerdem dauert das Nachladen der Lithiumakkus nicht lange.
Schnelles selbsttätiges Nachfüllen statt großer Mengen vorhalten ist auch die Maxime für den Trinkwasserbereich: Der mit einer UV-Entkeimungsanlage ausgestattete Wassertank schluckt lediglich 450 Liter. Ein im Vorschiff installierter Watermaker schafft jedoch 60 Liter die Stunde und sorgt so schnell für frischen und sauberen Nachschub. Unter Deck finden sich ansonsten wenige Umbauten oder Erweiterungen. Ein schwenkbarer Monitor an Backbord lässt sich für den Bordrechner oder als Fernsehschirm nutzen. Die Sicherheitsausstattung ist recht ausgeprägt: Ein aktives AIS befindet sich an Bord, ebenso ein aktiver Radarreflektor, eine Epirb und eine Rettungsinsel. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind durch eine 4G-Zusatzantenne mit lokalem Hotspot, einen Iridium-Go-Hotspot und ein mobiles Intercom-System für sechs Personen (Cee Coach) erweitert.
Rund fünf Wochen hat die „Rubberduck“ in und zwischen Greifswald, Neustadt und Laboe verbracht, in denen die verschiedenen Komponenten zum Laufen genötigt und verbessert wurden. Dann ging es auf die große Reise rund Europa mit fünf verschiedenen Crews. Der Törn führte über fünf Wochen in Etappen mit Längen zwischen 40 und bis zu 450 Seemeilen über Holland, Belgien, Südengland, Portugal, Gibraltar, Spanien und Frankreich bis nach Loano in der Nähe von Genua. Die Hälfte der Zeit wurde gesegelt, der Rest motort, was dem engen Zeitplan und den Crewwechseln geschuldet war.
Hans-Peter Glück: „Der Joystick und der Comfo-Drive bereiteten keine Probleme, und auch der Traveller samt Targabügel hat bestens funktioniert. Die Zusatz-Elektrik braucht jedoch noch Fine-Tuning.“ Die habe man von Hand schalten müssen, sie sei zu Testzwecken sogar wieder ausgebaut und beim Hersteller Aentron im Labor untersucht worden. Somit konnten die Glücks und ihre „Rubberduck“ schon eine große Reise als Projekt für die Zeit nach dem Job hinter sich bringen. Dabei hat dem ambitionierten Törn auch der Charakter einer Testfahrt innegewohnt.
Insgesamt haben sich das Boot und seine Komponenten bewährt, so der recht zufriedene Eigner, der Teile seiner Ideen zu kommerzialisieren sucht und aus diesem Anlass seinerzeit auf der boot Düsseldorf am Stand seines Partners Edelstahl Haese zu sehen war, wo er unter anderem einen Simulator für den Comfo-Drive präsentierte.
Den langen Törn hat Hans-Peter Glück wissenschaftlich methodisch zusammen mit Altersforscher Dr. Wolf-Dieter Mell analysiert. Jeder Mitsegler musste einen Fragebogen ausfüllen und dabei die verschiedenen neuartigen Funktionselemente hinsichtlich Einsatz- und Funktionsfähigkeit beurteilen. Am häufigsten benutzt wurden Sprayhoodfenster, feste Reling und der Handlauf im Salon. Auch eine Erkenntnis; manche Lösungen sind eben einfach.
Der Artikel erschien erstmals in YACHT 7/2020 und wurde für die Online-Version aktualisiert.