Lasse Johannsen
· 23.03.2025
Sommer 1992, im Kattegat. Der steife Westwind hat die Reise von Marstrand nach Skagen zu einer langwierigen Bolzerei werden lassen. Der Tag ist zu Ende, bevor ein Hafen in Sicht kommt. In der Dunkelheit nimmt Skipper Sven Klingenberg einen Lichtschein wahr, der die Wellenkämme weiß aufleuchten lässt. Durchs Glas erkennt er ein dänisches Marineschiff, ruft es über Funk, und fragt was los ist. Die Antwort elektrisiert den 25-Jährigen: Die Soldaten sind auf der Suche nach einer aufgeschwommenen Seemine. Und die „Chapina“, mit der sich der junge Mann und seine Crew auf Urlaubstörn befinden, ist aus magnetischem Stahl, der den Zünder auslösen könnte.
Doch das Ereignis nimmt damals einen guten Verlauf. Seine 40-Fuß-Yacht schwimmt noch heute, und Klingenberg kann laut darüber lachen, als er seinen Gästen bei einem Besuch an Bord von diesem Erlebnis berichtet. Natürlich bleibt es nicht die einzige Anekdote aus dem Leben mit diesem Schiff. Er erzählt von einer Kindheit auf dem Wasser, vom Erwachsenwerden in Verantwortung und Abenteuern zwischen Kattegat und Karibik. Und im Mittelpunkt all dessen: die „Chapina“ – denn auf ihr segelt Klingenberg, seit sie sein Vater vor 50 Jahren eigenhändig und nach selbst konstruierten Plänen gebaut hat.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1975. Sven Klingenberg ist damals neun Jahre alt und staunend dabei, als kopfüber erst die feuerverzinkten Spanten aus Stahl aufgestellt und anschließend mit den vom Vater in der Sandkiste in Form gehämmerten, 60 mal 40 Zentimeter großen und nur drei Millimeter starken Stahlplatten beplankt werden. Vor seinen Augen baut der Enthusiast in nur einem Jahr das komplette Schiff inklusive Innenausbau. Und das am Feierabend, denn der Schiffbauingenieur ist für den Germanischen Lloyd als Zertifizierer im Einsatz.
Als die „Chapina“ im Sommer 1976 ihrem Element übergeben wird und ihren ersten Liegeplatz in Kiel-Schilksee bezieht, ist sie das größte Schiff im ganzen Hafen. „Kümo“ sagt der Clubvorsitzende trocken zu dem stählernen Koloss, doch jeglicher Spott ist bald verstummt, denn der 40-Fußer ist gut konstruiert, wiegt nur neun Tonnen und segelt vom ersten Tag an vielen davon.
Vor zehn Jahren ist der Erbauer ohne sein Schiff auf die letzte Reise gegangen. Sohn Sven aber pflegt und segelt die „Chapina“ weiter. In Heiligenhafen, dem heutigen Heimathafen, sitzt er in der Plicht und serviert kräftigen schwarzen Tee. Eine Tradition, die wie so vieles hier vom Vater stammt, denn der kam aus Ostfriesland.
Die Rumpflänge von 40 Fuß hatte Symbolkraft für den Erbauer. Sven Klingenberg erinnert sich: „Junge, wenn du mal groß bist, segeln wir über den Atlantik“, habe der Vater ihn bei der Arbeit ermuntert und erklärt, dass die Wellen dort von Berg zu Berg 120 Fuß lang sind und ein Drittel davon die perfekte Größe für das Vorhaben sei.
Es ist nicht die einzige Überlegung, die Vater Klingenberg seinerzeit anstellt. Auf dem Reißbrett entsteht eine zeitgemäße Fahrtenyacht mit Center-Cockpit und mittellangem Kiel. Die Konstruktion des Lateralplans ist inspiriert von den Sparkman & Stephens-Rissen der frühen 1970er-Jahre. Und bei zahlreichen Details greift der Konstrukteur auf Lösungen zurück, die sich bei seinem ersten Eigenbau bewährt haben, und auf seine Berufserfahrungen als Schiffbauer.
Pfiffig ist er auch bei der ökonomischen Umsetzung seines Traums. Das Herz des Antriebs, ein Mercedes OM 636, entnimmt Vater Klingenberg kurzerhand seinem Dienstwagen. In dem hat der Motor damals nach 300.000 Kilometern genug geleistet, auf der „Chapina“ arbeitet er heute noch zuverlässig mit. Und ein Getriebe, das kaputtgehen könnte, gibt es nicht. Der Motor treibt mit regulierbarer Drehzahl die Welle an, an deren Ende ein Verstellpropeller für Vorwärts- oder Rückwärtsfahrt sorgt.
Auch einen Wärmetauscher gibt es nicht. Gekühlt wird der „Oel-Motor“ mit 60 Litern Flüssigkeit, die in einem Kreislauf durch Kanäle im Skeg gepumpt wird, der vom Seewasser umgeben ist. Der Dieseltank ist eine Abteilung im hinteren Bereich des Kiels, der Tank für 400 Liter Frischwasser ist als Crashbox Teil des Vorstevens in Höhe der Wasserlinie.
Gesteuert wird die „Chapina“ an einer Pinne, die den weit hinter der Plicht sitzenden Quadranten über ein Gestänge bewegt. Das Schiff lässt sich mit einem Heißgeschirr kranen, das durch eine Öffnung an Deck geführt und direkt am Kiel angeschlagen wird.
Beim Bau kommen dem Schiffbauingenieur seine beruflichen Kontakte zugute. „Mein Vater hat hier vieles verbaut, was er für Werften entwickelt hat“, sagt Sven Klingenberg. Blöcke und Beschläge für 40-Fuß-Yachten liegen 1975 nicht in den Regalen der Ausrüster und müssen einzeln angefertigt werden. Klingenberg macht das in Zusammenarbeit mit den Lehrwerkstätten der Werften, auf denen er ein- und ausgeht. Sven Klingenberg erinnert sich noch gut daran, wie der Vater die Stahlplatten in der Sandkiste in Form gedengelt und an den Rumpf geheftet hat, bevor ein Schweißer sie endgültig befestigte. Den Bleiballast gießt der Senior eigenhändig in den Kiel.
Auch bei der restlichen Ausrüstung ist der Tüftler erfinderisch. Bug- und Heckkorb entstehen aus alten Druckleitungen. Selbst den Anker schweißt er selbst zusammen und verändert die Konstruktion so lange, bis sich das Eisen bei Schleppversuchen mit dem Auto am Strand richtig eingräbt. Und als Anfang 1976 der Ausbau beginnt, darf der damals neunjährige Sven sogar mit anpacken. „Und dann war bereits im Frühling 1976 die Schiffstaufe und in den Ferien gingen wir direkt auf Tour hoch nach Schweden und Norwegen.“
Nach dem Abi vertraut der Vater ihm die „Chapina“ als Skipper an. Auf Sommerreisen wechseln sie sich fortan ab und erweitern dadurch den Radius. Auch den Traum vom Atlantik setzt er eines Tages in die Tat um: Im September 1994 geht Sven Klingenberg in Lissabon an Bord, wohin der Vater die „Chapina“ überführt hat. Mit wechselnden Crews segelt er zu den Kanaren und erreicht mit der ARC die Karibik, wo das Schiff für zwei Saisons bleibt und von Vater und Sohn abwechselnd gesegelt wird, bevor sie es, wieder im Wechsel, zurücksegeln und im Juli 1996 wieder in Kiel-Schilksee festmachen.
Große grundlegende Veränderungen hat es an Bord der „Chapina“, nie gegeben. Der Eigenbau hat sich bewährt, wie er vom Stapel gelaufen ist. Sein charakteristisches Aussehen wird von markanten Linien geprägt, einem Bug mit angedeutetem Klippersteven, dem Tumblehome-Rumpf, der freien Decksfläche, von dem kleinen Aufbau und der tiefen Plicht dahinter, dem gewaltigen Poopdeck und dem markanten, roten Streifen auf dem Rumpf. Schon von Weitem ist die Yacht außerdem an ihrem knallroten Mast zu erkennen, der auch schon immer so war wie heute.
Im Jahr 2008 beschließen Vater und Sohn, das Schiff fortan als Eignergemeinschaft zu bereedern. Für Sven der richtige Zeitpunkt um ein Refit durchzuführen und diverse Neuerungen umzusetzen. Nach Ausflügen in die Maxiyacht-Szene hatte er deren Ausrüstungsstandards schätzen gelernt und Ehrgeiz entwickelt, auch die „Chapina“ entsprechend zu modernisieren.
Unter Deck werden Verkleidungen erneuert und die Bordelektronik, es kommen ein Bugstrahlruder und eine elektrische Ankerwinde an Bord, dazu weitere Komponenten für mehr Komfort wie Kühlschrank, Wasserboiler, Außendusche und ein fest eingebauter Autopilot. Der Rumpf erhält eine Süllkante aus Edelstahl, damit sich unter dem hölzernen Setzbord nicht länger Rost bildet, der bisweilen zu unansehnlichen Streifen auf der Außenhaut geführt hat.
„Ein Vierteljahr waren wir jede Woche sieben Tage auf der Werft, bis mein Vater sich beschwerte, er komme sich vor wie ein Hilfsarbeiter“, erinnert sich Klingenberg, lacht, und erzählt, dass er seit dieser Zeit wisse, dass ein Schiff nie fertig werde. „Ich habe anschließend eine Liste erstellt, mit den noch offenen Punkten und kam auf 18 Seiten, kleingeschrieben.“ Seither arbeite er je nach Zeit und Budget die Liste ab, auf der aber auch immer wieder neue Punkte landeten.
Ein paar Jahre segelt Vater Klingenberg die „Chapina“ noch mit seiner Frau oder Freunden und wechselt unterwegs mit dem Sohn, dann geht er in den seglerischen Ruhestand und überträgt dem Sohn auch seinen verbliebenen Anteil am heiß geliebten Schiff.
Sven Klingenberg segelt seither mit Freunden oder auch einhand auf der Ostsee. Noch einmal, während der Coronazeit, packt ihn der Elan und es geht an eine umfassende Überholung des Rumpfes. Im Frühjahr 2020 wird das Unterwasserschiff gesandstrahlt und mit einem Gemisch aus Zinkstaub und Epoxidharz beschichtet.
In Heiligenhafen ist trotz der Sonne zu merken, dass der Sommer sich dem Ende neigt. Es weht frisch, und die Luft ist kühl, als sich die Chapina unter dem sonoren Brummen ihres „Oelmotors“ aus der Box bewegt. Sie seeklar zu machen, und hinter der Hafenausfahrt unter Segel zu bringen, hat nur wenige Minuten gedauert. Am Mast tun zwei Fallwinden, selbstredend Eigenkonstruktionen, seit 50 Jahren zuverlässig ihren Dienst, das Vorsegel wird über eine Furlex abgerollt und zieht das Schiff sogleich mit Wucht.
Schon ist der Reisemodus hergestellt. In der tiefen Plicht sitzt die Crew geschützt und dicht an der Schiffsmitte, sodass die ohnehin sanften Bewegungen gedämpft sind. Der Rudergänger schaut, die Pinne in der Hand, über das freie Deck nach vorn. Während unter ihm dann neun Tonnen Stahl mit kräftig Druck durch die See schieben, kann er das weich eintauchende Schiff locker aus der Hand auf Kurs halten. Gut vorstellbar, dass es jetzt tagelang geradeaus gehen könnte. Ferneren Zielen entgegen. Dass die „Chapina“ dafür erdacht, konstruiert und gebaut wurde, dass sie sich schon auf dem Atlantik bewiesen hat, all das ist unter Segeln sofort spürbar.
Daraus, dass er mit ihr noch Pläne hat, macht der Eigner auch gar kein Geheimnis. „Als wir von der Atlantikreise zurückkamen, waren auch die ,Kieler Nachrichten‘ zum Interview an Bord. Und da habe ich gesagt, wenn man auf diesem blauen Planeten lebt, sollte man ihn einmal umrundet haben. Und die ‚Chapina‘ ist vom Konzept her ja ein Hochseeschiff. Sie will eigentlich mehr“, sagt Sven Klingenberg und schaut zufrieden in die Segel.