Während die ersten Schläge einer Saison fast ausschließlich im Heimatrevier abgesegelt werden, auch der zwei- bis dreiwöchige Sommertörn noch häufig durchs Heimatrevier, wo die Fahrwasser ebenso bekannt sind wie die Häfen und ihre Ansteuerung, die Konstellation bei Winden aus verschiedenen Richtungen – eben alles, was für eine sorgfältige Törnplanung berücksichtigt werden muss.
Dass diese zur guten Seemannschaft gehört, versteht sich von selbst. Auch, dass das Thema umfassend ist, schließlich zählt die Ausstattung des Bootes ebenso dazu wie die Unterweisung der Crew, das detaillierte Planen der Route und eine sichere Navigation unterwegs.
Besonders spannend wird all das aber, wenn es – egal ob auf eigenem Kiel oder mit dem Charterboot – in neue Regionen geht. Denn mit der Revierkenntnis fehlt dann ein entscheidender Aspekt für die Törnplanung: die Erfahrung, die im Heimatrevier dabei hilft, das Segeln dort bei den unterschiedlichsten Bedingungen richtig einschätzen zu können.
Zum Beispiel, wie es sich auswirkt, wenn in einem Gewässer über einen längeren Zeitraum eine Windrichtung geherrscht hat. Oder was passiert, wenn die Wassertiefe vor einer Küste abrupt abnimmt, Wellen sich spiegeln und bei einer bestimmten Windrichtung unangenehme Kreuzseen die Folge sein können.
Wie antizipiert man also die Bedingungen für ein bisher unbekanntes Revier? Welche Informationsquellen helfen dabei, welche Grundregeln gibt es? Wie zieht man auch ohne Ortskenntnis die richtigen Schlüsse aus der Recherche in Törnführer, Seekarte und Wetterbericht? Und: Ist genau das die Herausforderung, wenn es um Törns in unbekannte Gefilde geht – oder nur eine zu theoretische, vielleicht sogar verkopfte Vorgehensweise?
Ganz und gar nicht, meint Leon Schulz. Der 59-Jährige ist seit 15 Jahren Ausbilder der britischen Royal Yachting Association (RYA) und hilft Seglern auf dem Weg zum Yachtmaster Offshore und Ocean. Die Ausbildung ist für ihre Praxisorientierung bekannt und angesehen. Theorie-Unterricht gibt es dennoch. Und darin wird dem Thema Törnplanung so viel Bedeutung beigemessen, dass die Kurse bei Schulz ganze sechs Tage dauern.
Die richtigen und relevanten Informationen zu finden ist eine Kunst“, sagt der Ausbilder. Nicht ohne Grund widme sich ein ganzer Block der theoretischen RYA-Ausbildung der Frage, woher man die wesentlichen Angaben für die Törnplanung bekommt. Dieser Block heißt „Appraisal“. Wörtlich übersetzt bedeutet das so viel wie „Untersuchung“, Einschätzung“ und „Bewertung“. Inhaltlich bedeutet es, Informationen für das Revier zu suchen und zu beurteilen. „Es geht um die übersichtliche Informationssammlung, Bewertung und Interpretation der Quellen“, erläutert Leon Schulz. „In diesem Schritt dreht es sich noch nicht ums Detail, also etwa um die Frage, wo im Ausgangshafen die Tankstelle ist und wie man aus dem Hafen kommt.“
Das passiert erst im nächsten Schritt der Herangehensweise nach RYA-Standard, dem „Planning“. Es folgen die Schritte „Execution“ (die Umsetzung des sogenannten Passage-Plans unter Berücksichtigung der herrschenden Bedingungen) und „Monitoring“ (Abgleich des geplanten Kurses mit der Realität). Diese Ausbildungsbestandteile sind sogar in der Solas-Konvention der International Maritime Organization (IMO) festgeschrieben und damit vor allem auch Handlungsanweisung für die Berufsschifffahrt. Ganz verkehrt kann also ein Vorgehen nach diesem Schema bei der Vorbereitung der Navigation auch für Segler nicht sein – eben angefangen bei der Suche und Bewertung von Quellen.
„Wer liest, ist König“, sagt Leon Schulz. Sein Tipp für Reviere rund Europa: der „Reeds Almanach“. „Da steht alles drin – auch Telefonnummern, die man anrufen kann, wenn man noch weiterführende Informationen benötigt.“ Wer außerhalb Europas unterwegs ist, sollte sich nach den jeweiligen Pilotbooks und Revierführern umschauen. Helfen können dabei spezialisierte Buchhandlungen wie Hansenautic oder im englischsprachigen Bereich Bookharbour.
Robert Eichler, Inhaber der Yachtsportschule Eichler an der Elbe, geht ähnlich vor. Mit seinen Skippern widmet er sich der Literatur für die Törnplanung für fremde Reviere sogar im Team, meist zu zweit oder dritt. „Wir gucken: Was ist navigatorisch reizvoll, was ist navigatorisch gefährlich, was ist unmöglich?“, so Eichler. Aus den Informationen über Klima und Wetterbedingungen ergebe sich dann das Zeitfenster, „in dem dieses Revier realistisch vernünftig befahren werden kann“.
Danach stehen die navigatorischen Besonderheiten der Region im Fokus. Zwei Beispiele aus der Praxis: „Je weiter man nach Norden kommt, desto häufiger tritt das Problem der magnetischen Anomalie auf. Also eine völlig chaotische Missweisung“, erklärt Robert Eichler. „Das kann bei der Fahrt unter Autopilot sehr gefährlich werden und schlimmstenfalls den Baum oder das Rigg kosten.“ Eine weitere regionale Besonderheit im Norden Europas: Ströme in engen Zufahrten der norwegischen Fjorde. „Dort gurgelt es schon mal mit zehn, zwölf Knoten rein oder raus.“
Wie schafft man es nun, keine dieser relevanten Hinweise zu übersehen – und wie bewertet man sie korrekt? „Es ist revierabhängig, was man sich genau anschauen muss“, sagt Leon Schulz. „Ich unterscheide in erster Linie zwischen statischen und dynamischen Informationen.“ Die statischen seien immer gleich und lassen sich etwa den Seekarten entnehmen, beispielsweise Untiefen. Dynamische Informationen, etwa Wind, Strömung oder Tide, ändern sich von Tag zu Tag und sind schwieriger zu erhalten. Auch Schießübungen, Positionen von manövrierbehinderten Arbeitsschiffen oder Stellnetze von Fischern zählen dazu.
Profiskipper Schulz: „Wenn man diese Angaben über ein Revier erhält, in dem man schon war, kann man sie natürlich viel besser interpretieren. Das ist dann Erfahrung – und die ist Gold wert. Aber je neuer man ist oder je unerfahrener, desto schwieriger ist es, die ganzen Warnungen zu interpretieren.“
Ein Beispiel: Wer sich mit der portugiesischen Atlantikküste beschäftigt, stößt schnell auf die Information, dass die Ansteuerungen der dortigen Hafenstädte an Flussmündungen aufgrund brechender Wellen sehr gefährlich werden können. Gewisse Häfen sind dann sogar geschlossen, das Anlaufen ist untersagt. „Man findet dazu im Revierführer beispielsweise die Information, dass man dort bei starkem Südwestwind nicht reinsegeln soll – was aber heißt starker Südwestwind?“, so Leon Schulz.
Sprich: Was bedeutet das, was man liest, in Wirklichkeit? Sicherlich gibt es dazu einige allgemeingültige Regeln, etwa dass steile Wellen entstehen können, wenn Wind gegen Strom steht. Doch genau an dieser Stelle kommt eine Informationsquelle ins Spiel, die im Zweifel deutlich besser helfen kann als der Törnführer. Schulz nennt sie „Local Knowledge“, also die Ortskenntnis der Segler, Fischer oder Hafenbetreiber vor Ort. Eine gute Quelle für Ortskenntnis sind etwa lokale Segelclubs und deren Webseiten oder ein Anruf dort. Einige größere Vereine in anspruchsvollen Gebieten, etwa der Irish Cruising Club oder der schottische Cruising Club in Forth, geben sogar eigene Revierführer heraus.
Im deutschsprachigen Raum ist der Verein Trans-Ocean eine gute Anlaufstelle für Informationen über Reviere, die nicht vor der Haustür liegen: Im Mitgliedermagazin erscheinen Törnberichte aus aller Welt, und im Vereinsforum und in WhatsApp-Gruppen können die Mitglieder Fragen zu Revieren stellen. Die Stützpunkte rund um den Globus sind nicht nur Anlaufstellen, sondern auch Informationsquelle über örtliche Besonderheiten für die Segler. Außerdem gibt es längst für viele Bereiche Facebook-Gruppen, in denen reger Austausch zur jeweiligen Region stattfindet, der allerdings auch über navigatorische Besonderheiten hinausgeht.
Auch Schwarmwissen jenseits der sozialen Medien kann weiterhelfen. Leon Schulz etwa empfiehlt einen Blick auf Navily, eine App, die primär Hinweise zu Ankerplätzen und Häfen enthält, aber auch weiterführende Revierinformationen. Navigations-Apps haben ebenfalls Funktionen, in denen Nutzer ihre Erfahrungen weitergeben können, zum Beispiel Active Captain von Garmin. Natürlich muss man diese Quellen besonders gründlich hinterfragen, sollte sie aber durchaus berücksichtigen, wenn man erstmals ein neues Revier ansteuert.
Eine weitere Option, die sich für die Törnplanung bietet, wenn man in einer bisher unbekannten Region segeln möchte, ist, sie zunächst von Land aus zu erkunden. Wer beispielsweise davon träumt, in der Bretagne oder Irland zu segeln, die Häfen und Küsten aber vorher gern kennenlernen möchte, könnte im Landurlaub die Tour mit dem Mietwagen abfahren. Zumindest in Europa lässt sich das leicht realisieren. Schulz’ Erfahrung: „Dabei kommt man in den Häfen schnell mit den Leuten ins Gespräch.“ So erfährt man aus erster Hand, was bei der Ansteuerung der Marina und auch im ganzen Revier besonders zu beachten ist.
Sich auf diese Art schrittweise heranzutasten ist also durchaus eine Option. Oder auch unter Anleitung ein Revier zu erkunden, also einen Chartertörn mit Skipper zu segeln oder bei einer Segelschule einen Mitsegeltörn zu buchen. „Dabei sammelt man genau den Wissensvorsprung, der dabei hilft, die lokalen Gegebenheiten später allein einschätzen zu können“, so Schulz. Sinnvoll ist dann, diese Interpretation mit der Crew zu besprechen. Zum schrittweisen Herantasten kann auch zählen, seinen Törnradius Stück für Stück zu erweitern und anfangs vor allem bei moderaten Bedingungen in neuen Revieren zu segeln.
Es führt also nichts daran vorbei: Es geht beim Segeln und der Navigation darum, Erfahrung zu sammeln. Auch darin, wie man an die Infos für die richtige Törnplanung kommt. Um diese Herangehensweise dann auch auf das nächste neue Revier übertragen zu können. Nichtsdestotrotz sollte natürlich auch vor der Haustür gut geplant werden. Denn gerade dann, wenn man sich zu sicher fühlt, steigt das Risiko, dass aus Nachlässigkeit Fehler passieren.