Zum Zeitpunkt der Kiellegung jeder heute klassischen Yacht und auch noch viele Jahrzehnte danach war die Seekarte das A und O der sicheren Navigation. Das ist im 21. Jahrhundert oftmals nicht mehr der Fall. Auf manchen originalgetreu restaurierten Schiffen schimmert unter Deck längst verschämt ein moderner Plotter mit der Petroleumlampe um die Wette. Über die Herstellung der Karten machte sich selbst früher kaum jemand Gedanken. Und auch in der Gegenwart ist ihr Vorhandensein, ob in gedruckter oder elektronischer Form, vielen eine Selbstverständlichkeit.
Dabei war es lange immens aufwendig und zeitraubend, Informationen über Wassertiefen, Küstenlinien und anderes mehr auf Papier zu bannen – auch wenn dazu keine technisch ausgefeilten Apparaturen vonnöten waren. Im Gegenteil, bei den meisten Arbeitsschritten war penible Handarbeit gefragt. Bis in die Fünfzigerjahre hinein erstellte man Seekarten auf Grundlage filigraner Kupferstiche. Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts konnte sich das Schichtgravurverfahren durchsetzen, das eine rasche Kartenproduktion zuließ. Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) setzte es noch bis vor wenigen Jahren ein – dann erfasste die digitale Revolution auch die Welt der Karten. Ein Blick zurück in die Geschichte verdeutlicht, welcher Stellenwert der exakten Dokumentation und Aufbereitung nautischer Daten seit je zukam.
Das Prinzip der Seekartenherstellung war schon immer recht einfach: Beim Beschippern des Reviers wird so oft wie möglich gelotet, die Tiefe in eine weiße Karte eingetragen, das Ergebnis an Land nochmals sauber gezeichnet, vervielfältigt und gewinnbringend verkauft. Ein Problem stellt sich bei dieser Vorgehensweise jedoch: Wo eigentlich gehört die Tiefenzahl auf dem weißen Blatt genau hin?
Sollte die Küste noch sichtbar und das zugehörige Land bereits zuverlässig vermessen worden sein, haben die Vermesser Glück – sie können die Küstenkarte im exakt gleichen Maßstab in das weiße Blatt einkopieren. Zwei Lakaien an Peilsextanten, nennen wir sie Winkelmesser, singen nun, gute Sicht und wenig Seegang vorausgesetzt, zu jeder geloteten Tiefe ihre Gradzahlen aus. Über den Kniff des Rückwärts-Einschneidens sowie dank eines Anschreibers mit Winkellineal über der noch leeren Karte kann anschließend jede Tiefe punktgenau eingetragen werden. Theoretisch. Praktisch ist erst noch die Lottiefe um den aktuellen Wasserstand zu bereinigen. Der lässt sich auf See nicht ermitteln. Also muss jemand an Land am Pegel mitschreiben.
Während die Männer bei geringen Tiefen bis etwa vier Meter mit Stangen peilen, verwenden sie danach Handlote. Entsprechende Oberarme vorausgesetzt, sind bis zu sechs Messungen pro Minute möglich. Je tiefer es wird, desto weniger Fahrt darf das Peilboot machen. Ab zwölf Meter Tiefe scheitert aber auch diese Methode. Der Vermessungsleiter wird nun für jeden Messpunkt die Fahrt aufstoppen und mit der Handwinde sowie schwerem Gewicht Einzellotungen durchführen lassen. Bis etwa 200 Meter Tiefe werden auf diese Weise vermessen. Darüber hinaus kommen später Motorwinden zum Einsatz.
Schon in einem Aufsatz aus dem Jahr 1879, erschienen in der „Deutschen Rundschau für Geographie und Statistik“, war zu lesen: „Um eine Vorstellung zu geben, welche Ehrfurcht dem Auswerfen und Einholen eines 100 Faden langen Tieflotes entgegenzubringen ist, sei ein Blick auf die Auslotung der Biskaya zu hydrographischen Zwecken im 19. Jahrhundert erlaubt. Dort brauchte der Sinker 33,5 Minuten bis zum Grund in 4456 Meter Tiefe, eine Zwölf-PS-Dampfwinde zirka vier Stunden, um ihn wieder heraufzuziehen.“
Verständlich, dass die Messungen jenseits des Kontinentalschelfs reichlich dünn ausfielen. Elf bis dreizehn Leute Besatzung waren seinerzeit auf einem Peilboot üblich. Diese personalaufwendige Mühe, zu verwertbaren Daten zu gelangen, legt bereits nahe, die entstandenen Karten später wie Blattgold zu veräußern.
Doch noch sind sie nicht gedruckt. Das Endergebnis, das in klassischen Yachten auf dem Kartentisch auslag, war ja nicht nur das Produkt sehr aufwendiger Messungen. Es stellte auch eine der größten Herausforderungen für die damals noch junge Druckkunst dar. In diesem Zusammenhang war die Kupferplatte als Grundlage für den Druck immerhin bereits ein großer Fortschritt. Im 16. Jahrhundert wurde noch im Hochdruckverfahren von kunstvoll geschnitzten Holzplatten gedruckt, der sogenannte Holzschnitt. Nur später Schwarzes durfte dabei stehen bleiben. Mit dem Kupferstich, im Tiefdruck also, konnten hingegen die weißen Flächen unbehandelt bleiben. Vielmehr wurden die nach dem Druck schwarzen Linien ins Material eingeritzt, man spricht von der Kaltnadel-Radierung.
Wurden darüber hinaus mit einem Stichel winzige Kupferrinnen erzeugt, ergaben die später beim Druck eine kontrastreiche, scharfe und sogar leicht fühlbare Linie.
Daniel Janssen, einer der heute seltenen Graveure – so die korrekte Bezeichnung der Kupferstecher –, führt im Hamburger Museum der Arbeit das Verfahren an einem handtellergroßen Schaustück vor. Die kraftraubende Prozedur beginnt mit dem Bereitlegen der Stichel. „50 Stück waren für einen einzigen Graveur keine Seltenheit. Sie waren genau auf dessen Handlänge abgestimmt“, erklärt Janssen. „Für Zahlen oder Wracksymbole kamen noch spezielle Stahlstempel dazu.“ Der Graveur muss nicht nur alle Linien exakt und gleichmäßig tief ausheben, sondern sie auch zurück-stechen. Denn er kann den Stichel am Beginn einer Linie nur mit Gefälle ins Kupfer treiben. Für einen sauberen Linienstart wird daher jede Rinne nochmals von der anderen Seite bis zum Ende ausgehoben.
„Die Graveure verwenden deshalb eine Kugel, auf der sie ihr Gravurstück hin und her drehen können“, so Janssen. Kaum verwunderlich, dass das Stechen von Land- und Seekarten bei den Handwerkern nicht gerade beliebt war, denn die großen Druckplatten ließen sich nicht sehr schnell drehen. Die Graveure griffen daher zu einem Trick: Zunächst wurden erst möglichst viele Linien in die eine Richtung begonnen und dann nach einer Plattendrehung en gros zurückgestochen. Damit nicht genug, kam erschwerend hinzu, dass das Druckverfahren spiegelbildliches Arbeiten erforderte. Janssen: „Um es zu einem fähigen Graveur zu bringen, gingen nicht selten vier Lehrjahre ins Land.“
Stellten bereits Landkarten eines ganzen Staates für die Graveure und Vermesser eine schier kolossale Aufgabe dar, bedeutete die Erstellung von Seekarten zusätzlich eine Arbeit gegen die Zeit. Nicht 1861 auch in Preußen nur dass sich der Seegrund im Gegensatz zu jedem sichtbaren Hügel an Land einer direkten Vermessung verweigert, er verändert sich zudem ständig. Aus diesem Grund besitzen die „Segelanweisungen“ und „Seehandbücher“ eine gleichermaßen lange Tradition wie die Karten selbst: Hierin wurde zügig veröffentlicht, was sich verändert hatte. Denn nach der Vermessung dauerte es bereits gut und gerne sechs Monate, bis aus den gewonnenen Lotungen eine neue Seekarte auf Karton ins Reine gezeichnet wurde. Der Graveur schließlich beugte sich über eine einzige Kupferdruckplatte ein ganzes Jahr lang! Danach folgte erst der eigentliche Druck, der ebenfalls zeitaufwendig war, gefolgt vom Vertrieb der Karten.
Kurz und gut, sollte also das gesamte Küstengebiet eines Landes auf Seekarten erscheinen, war dies eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung. Das erkannte man 1861 auch beziehungsweise erst in Preußen. Man war ein bisschen spät dran mit der Erkenntnis. Seit 1800 hatten Spanien, die USA, Russland, Portugal und Belgien bereits Kartendruckwerke vorzuweisen. Zwar existierte damals schon „Preussens See-Atlas“ von 1841, der sogar als recht genau galt. Die Landvermesser waren jedoch lediglich mit kleinen offenen Booten und Spiegelsextanten eineinhalb bis drei Kilometer aufs Meer hinausgerudert und hatten dort mit Peilstangen und Schnurloten die Tiefen ermittelt. Weiter vor die Küste hatten sie sich nicht gewagt.
Das BSH, der heutige Nachfolger des Hydrographischen Bureaus, hat derzeit rund 800 Mitarbeiter. Vor 151 Jahren startete es mit einem einzigen leitenden Kartografen und zwei Zeichnern. Es dauerte sechs Jahre, bis die erste Karte herauskam. Zwischenzeitlich fielen noch die Küsten der einverleibten Länder Schleswig-Holstein und Hannover an Preußen, wodurch sich die Aufgaben vergrößerten. Dennoch konnten bis 1882, 21 Jahre nach Gründung des Bureaus, 44 Karten von Ostsee, Belten, Sund sowie der Nordsee ver öffentlicht werden. 1893 wurde das kartografische Personal auf neun Mann erhöht, 1896 auf elf. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch vor Westafrika vermessen. Hieraus entstanden neun Karten. Ferner wurde der Bismarck-Archipel kartiert und ebenso das Kaiser-Wilhelm-Land, was zu acht Karten führte. Die See vor Deutsch-Ostafrika schließlich wurde in 14 Karten dokumentiert. Bis 1899 konnte man 220 Seekarten vorweisen – eine bemerkenswerte Leistung.
Admiral von Tirpitz, Staatssekretär im Reichsmarineamt, brachte im Jahr darauf eine Vorlage in den Reichstag ein, in der er den weiteren Ausbau des deutschen Seekartenwerkes auf außerheimische Gewässer forderte. Die deutschen Kolonien galten ja noch als Heimatküste. Zwei Jahre später bewilligte der Reichstag zwei Millionen Mark für diese Aufgabe, ein gelernter Maurer verdiente damals 40 Mark pro Woche. Räumliche Expansion war ein großes Thema, vor Kriegen schreckten wenige zurück.
1903 schrieb Erskine Childers „Das Rätsel der Sandbank“, den ersten Spionageroman überhaupt. Es war ein Hilferuf des Autors aus verzweifelter politischer Überzeugung: Das Buch sollte einem Überfall aus dem deutschen Watt vorbeugen. Später zeigte sich: Er war tatsächlich geplant. Nicht als direkte Folge davon, aber mit ebendieser Geisteshaltung sollten ab 1908 binnen 50 Jahren etwa 2400 Karten der ganzen Welt entstehen – eine Aufgabe, der sich alle Seefahrernationen gleichzeitig widmeten. Und das keineswegs arbeitsteilig. In drohenden Krisenzeiten wollte niemand auf die Karten des Gegners angewiesen sein, die im Kriegsfall rasch eingezogen wurden. Die Kupferstecher – inzwischen wurden mehrere Gravuranstalten beschäftigt – hatten volle Auftragsbücher. Bis zum Ersten Weltkrieg waren 664 Karten erschienen, Ende des Zweiten Weltkriegs summierten sie sich auf 1050. In verschiedenen Firmen arbeiteten 60 Karto-Kupferstecher nun ausschließlich an deutschen Seekarten.
Die steigenden Auflagen und die sagenhaft schnellen Stichzeiten stellten die Drucker allerdings vor ein Dilemma: Die Kupferplatten wurden mit jedem Druck flacher, die Vertiefungen recht bald von den Druckmaschinen platt gewalzt. Nur etwa 50 bis 100 scharfe Drucke sind von einer Kupferplatte gewöhnlich möglich. Zu wenig.
Bereits 1870 wurden Versuche unternommen, die Karten direkt auf den standfesteren Solnhofener Kalkschiefer zu zeichnen, einen besonders feinen Stein aus ehemaligem Kalksediment, der nur in einem bayerischen Steinbruch verfügbar ist. Damit eroberte der Seekartendruck Neuland. Nicht mehr Hoch- oder Tief-, sondern Flachdruck war plötzlich angesagt. Aber auch dieses Verfahren barg Nachteile: Die Platten in Seekartengröße wogen nicht nur 350 Kilogramm pro Stück, das Ergebnis war zudem zu flach im Vergleich mit den Abzügen, wie man sie von Kupferstichen gewohnt war. Darüber hinaus war eine Korrektur der Steinplatten nur unter großen Mühen möglich. Und auch das Umkopieren auf Galvanoplastiken erzeugte nicht die gewünschte Randschärfe. Als Maß der Dinge galten stets die brillanten britischen Seekarten.
Folglich wurde wieder in Kupfer gestochen. Waren Berichtigungen erforderlich, klopfte man anfangs die Platten noch von hinten wieder platt. Das war nicht ganz einfach, da ja die richtige Stelle erst von vorn übertragen werden musste. Später brachte man daher mithilfe galvanischer Verfahren bei Korrekturen vorn neues Kupfer auf. Dann folgte das Planschleifen und Neustechen. Trotz der Arbeitserleichterung alles in allem immer noch eine Mammutaufgabe.
Und noch weitere Probleme galt es zu bewältigen: Das Tiefdruckverfahren mit Kupferstich funktioniert am besten mit gut saugendem Papier. Seekarten sollen hingegen auf möglichst wasserfestem Papier gedruckt sein. Und sie sollen viele Ausradierungen der mit Bleistift eingetragenen Orte und Kurse aushalten. Man war also gezwungen, nach Kompromissen zu suchen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Schichtgravur praktikabel, sowohl beim damaligen Deutschen Hydrographischen Institut (DHI) als auch beim Seehydrographischen Dienst (SHD) der DDR. Das neue Verfahren brachte eine große Zeitersparnis, es löste die Karto-Kupferstecher ab.
Janet Gudusch vom BSH nimmt sich noch einmal ihre „Elefanten“ und „Gravurringe“ vor – empfindliche Stichel für blitzsaubere Linien. Sie bevölkern weiterhin ihren Arbeitsplatz. Nicht nur aus Nostalgie, sie funktionieren bis heute tadellos. Die schmalsten besitzen eine Saphirspitze, die auf einen Hundertstelmillimeter angeschliffen ist. Das Schichtverfahren erinnert ans Abkratzen von Fingerfarbe auf einer Fensterscheibe, nur viel ebenmäßiger. In eine transparent-rote Beschichtung aus maßhaltiger Folie ritzt die technische Kartografin mit den Gravurwerkzeugen Küsten, Straßen, Brücken, so entsteht ein negatives Bild. Am Ende eines Arbeitstages hat sie einen Fingerhut voll Beschichtung in Form feinster Linien entfernt. Ein spezielles Kopierverfahren erzeugt von diesem Negativ eine positive Kopie, auf der nun alles, was vorher entfernt wurde, satt schwarz erscheint. Auf dieser Kopie werden dann noch Tonnen, Tiefen und Schriften montiert. Das bedeutet, mit Cutter und Pinzette kleinste, selbstklebende Filme an den richtigen Platz zu kleben.
Für jede der bis zu zehn Farben fertigte man solch eine eigene Folie an. Das machte den Druck zwar mühsam, da jedes Kartenblatt zehnmal die gleiche Offset-Druckmaschine durchlaufen und die Karte dabei jedes Mal neu eingerichtet werden musste. Aber zehn Farben, davon konnte man zu Zeiten des Kupferstichs nur träumen. Zudem waren nun relativ einfach Korrekturen mit Tusche und Feder auf den Folien möglich. Außerdem konnten die technischen Kartografen endlich seitenrichtig arbeiten.
Benötigte selbst ein geübter Drucker noch etwa zehn Minuten pro Druck von einer Kupferplatte, waren jetzt viel höhere Durchsätze möglich. Die Druckmaschinen liefen meist pro Seekarten-Sonderfarbe einen ganzen Tag und wurden dann gewaschen. Dann einen Tag auf der nächsten Farbe, und so weiter. Seit zwei Jahren wird jedoch nur noch im Vierfarb-Offsetdruck produziert. Die Bögen durchlaufen die vier Skalen-Farbwerke Cyan, Magenta, Yellow und Schwarz in einem Rutsch. Die Druckplatte aus Aluminium, früher das Jahreswerk eines Kupferstechers, wird innerhalb von ein paar Minuten vom Digitaldrucker ausgespuckt und entwickelt. Sie kostet 15 Euro pro Farbe.
Einst brüsteten sich Seekarten mit zahlreichen Tiefenangaben als gut vermessenes Gebiet. Weiße Flecken galten als nicht untersucht. Die redaktionelle Arbeit heute bedeutet dagegen beinahe radikales Weglassen. Waren die einzelnen Lotungen auf Lotstrecken auf den ersten Karten noch leicht nachverfolgbar, gab es mit Beginn der Echografen plötzlich ein Überangebot an Daten, das die Vermesser in den Kartenredaktionen ablieferten. Bei Landkarten gelten stark generalisierte und dazu möglicherweise noch besonders bunte Karten als Anfänger-Schnickschnack. Seekarten nach aktueller Sichtweise sind da weit plakativer und wollen gar nicht den Grund so detailliert wie ein Land-Messtischblatt abbilden, sie bieten heute ein weit reduzierteres Kartenbild.
Ebenfalls im Gegensatz zur Landes-Topografie, bei der in den Höhenlinien gemittelt wird, muss nun bei den Tiefen die jeweils höchste Erhebung gefunden werden, der Rest ist nebensächlich und wird entfernt. Dabei helfen den Kartografen zunehmend Ausdrucke der enorm umfangreichen Lotreihen, bei denen jeweils gleiche Tiefenzahlen in gleichen Farben erscheinen. Außerdem erhalten sie noch Angaben von Wasser- und Schifffahrtsämtern, die mittlerweile mit Fächerecholoten im Dezimeterabstand Daten erheben. Aus 100 solcher Daten schafft es nur die höchste Erhebung am Grund in die redaktionelle Auswahl, davon wiederum nur ein ganz kleiner Teil in die Karte. Die Folge ist, dass die Blätter übersichtlicher werden, im Vergleich mit früheren Ausgaben also deutlich leerer. Das Augenmerk soll nur noch auf den Gefahrenpunkten liegen. Weiße Flecken bedeuten heute demnach, dass das Gebiet tiefer als die umliegenden Tiefenangaben ist. Auch das Land hinter den Küsten wird immer weiter reduziert auf tatsächlich von See sichtbare Punkte. Höhenlinien und Schummerung, früher Standard, sind ebenfalls nicht mehr zu finden.
Dabei galten sie 1986 noch als Sensation. In einer Festschrift anlässlich 125 Jahren amtlicher deutscher Hydrographie ist nachzulesen: „Die hohe Qualität und Anschaulichkeit dieser Schummerungsausführung waren ein Leistungsstandard der deutschen Kupferstecher, der nur im deutschen Seekartenwerk erreicht wurde und die deutschen Seekarten zu den besten überhaupt machte.“ Die europäischen Seevermessungsämter tauschen mittlerweile ihre Daten aus, sodass keine Vermessungsschiffe mehr vor fremden Küsten arbeiten. Aufgrund internationaler Kartenstandards machen auch Seekarten von Gebieten außerhalb der eigenen Küsten immer weniger Sinn.
Das BSH fährt sein Kartenprogramm seit Jahren immer mehr zurück. Günstiger werden sie dennoch nicht. Von 1903 bis 1920 wurden zwar 1,2 Millionen Karten verkauft, davon 872 553 an die Reichsmarine. Bis zum Ende dieses Zeitraums waren jedoch auch 664 Karten herausgebracht worden. Pro Jahr und Ausgabe waren das also meist unter 100 Stück – nicht gerade Bestseller. Kleine Auflagen aber bedingen hohe Preise. Dabei wollte man ursprünglich aber ja genau das Gegenteil: „Die Preise für die Seekarten werden äußerst niedrig gehalten, um ihre Benutzung für die gesamte deutsche Schiffahrt und Hochseefischerei zu ermöglichen“, stand 1921 in den „Beiträgen zur deutschen Kartographie“.
Den alten, künstlerischen und detailverliebten Kartenbildern mag mancher nachtrauern. In der Praxis gehört selbst auf den akribisch restaurierten Kartentisch eines hundert Jahre alten Lotsenkutters ein aktuelles Blatt. Die Mühen seiner Entstehung sieht man dem heute kaum noch an. Auch in den Vermessungsämtern ist Nostalgie kaum wahrnehmbar: Außer historischen Exemplaren und archivierten Logrollen ist dort kaum etwas über die noch gar nicht so alte Kupferstecherei zu ermitteln. Ein Vermessungsingenieur der Hamburger Hafenbehörde sagt freimütig: „Klar, wir haben noch so ein Handlot an Bord. Aber im letzten Jahr haben wir das vielleicht ein- oder zweimal benutzt.“
Älter als die Seekarten sind die Seehandbücher oder Segelanweisungen, die 400 vor Christus freilich noch nicht im wöchentlichen Rhythmus verbreitet wurden wie heute. Ab Ende des 13. Jahrhunderts führte die Entwicklung des Kompasses zu den ersten Seekarten, Portolane genannt. Sie weisen noch kein Gradnetz auf. Kennzeichnend für sie ist vielmehr ihr charakteristisches Strahlenbild, das eher theoretisch die Kurse zwischen den Häfen benennt. Im Mittelmeer zum Beispiel bestachen sie jedoch durch überraschend genaue Darstellungen des Küstenverlaufs.
Ab etwa dem 16. Jahrhundert entstehen dann zwar Karten mit Gradnetz, wirklich zum Navigieren geeignet ist aber erst die Mercator-Projektion von 1569. Seinerzeit erschienen tatsächlich Kurse von A nach B auch auf der Karte korrekt als gerade Linie (siehe dazu auch „500 Jahre Mercator“, YACHT 17/12). Etwa im 19. Jahrhundert wurde die Landvermessung immer mehr als staatliche Aufgabe angesehen und zugleich durch verbesserte Geräte immer genauer: Der 15 Kilometer lange Gott - hard-Eisenbahntunnel wurde 1880 mit lediglich 33 Zentimeter seitlichem Versatz und fünf Zentimeter Höhenunterschied mit einer Triangulation über den Gotthardpass durchstochen.
Auch die Küstenlinien und der Seeraum davor fanden ein ständig exakteres Abbild in den Seekarten. Außerhalb der Sichtweite des Landes ermöglichten allerdings erst die astronomische Navigation mithilfe des Sextanten, in späterer Zeit dann mit Decca und Loran, eine immer höhere Genauigkeit – bis hin zum heutigen Differenzial-GPS.