Text von Andreas Auras
Am 1. Juli dieses Jahres um 21.42 Uhr passiert es: Etwas nördlich von Nidda in Litauen laufen wir mit unserer „Boe“ auf den Strand der kurischen Nehrung auf. Ich schlucke kurz und schaue aufs Echolot. Das zeigt 84 Meter Wassertiefe an. Dann blicke ich wieder aufs Display des Tablets, das wir zur Navigation nutzen und das uns eben noch am Ufer verortete. Doch obwohl kaum zwei, drei Sekunden verstrichen sind, bewegen wir uns nun bereits im litauischen Hinterland nahe Šilute.
Und schnell sind wir, 54,6 Knoten über Grund – wow! Wortlos reiche ich meinem Mitsegler Felix das Tablet und starte auf meinem Handy eine andere Navi-App. Es dauert eine Weile, bis sie hochgefahren ist und eine Position ermittelt hat. Als es so weit ist, das Gleiche: litauisches Festland. Und immer noch mehr als 50 Knoten Fahrt im Schiff. Über Land!
Nur sind wir weder mit einem Amphibienfahrzeug unterwegs, noch haben wir uns um mehr als 100 Seemeilen versegelt. Um uns herum ist freies Wasser. Felix schaut vom Tablet zu mir auf und sagt dann: „Darauf sind wir doch vorbereitet.“ Ich nicke. Oder?
Rückblick. Eine Woche zuvor in Stralsund. „Wo wollt ihr hin?“ – „Nach Litauen.“ – „Ihr seid doch verrückt!“ Ich zucke nur die Schultern. Doch der Mann im Lokal am Nebentisch, ebenfalls Segler, legt nach: „Das ist doch da gefährlich! Ich würde das nicht machen.“ Ich bin es leid, mich und unser Vorhaben zu erklären. In den letzten Tagen hatte ich diese Warnungen immer wieder zu Ohren bekommen. Erst in Kiel, wo ich meine Lebensgefährtin auf die Fähre nach Klaipeda verabschiedete – sie konnte die Anreise per Segelboot aus gesundheitlichen Gründen nicht mitmachen. Dann in Rostock, dem Heimathafen unserer „Boe“. Vorgestern in Greifswald und jetzt hier in Stralsund erneut.
Selbstverständlich hatte ich das Risiko abgewogen, wieder und wieder. Doch ein Teil meiner Familie lebt in Litauen. Ich habe sie lange nicht gesehen. Und das Seegebiet vor Kaliningrad, der russischen Exklave zwischen Polens und Litauens Ostseeküste, ließe sich ja schließlich umsegeln. Diese russische Exclusive Economic Zone (EEZ; zu deutsch: ausschließliche Wirtschaftszone) zieht sich etwa von mittig des Frischen bis mittig des Kurischen Haffs und reicht 70 Seemeilen weit auf die Ostsee hinaus. Auch wenn die Wirtschaftszone keine Staatsgrenze darstellt, sollte man sich als ausländischer Segler von ihr frei halten. Die Russen verstehen keinen Spaß, wenn man ihrem Gebiet zu nahe kommt.
Dennoch, erst einige Tage zuvor war Arved Fuchs mit der „Dagmar Aaen“ in Klaipeda angekommen. Gestartet war er mit seinem Haikutter von Swinemünde aus und hatte die russische EEZ umfahren. Wir dagegen wollten von weiter nördlich, von Utklippan aus, den langen Schlag nach Osten machen. Auf diese Weise würden wir, so der Plan, von vornherein nördlich der EEZ bleiben.
Bis es los geht, ist jedoch Geduld gefragt. Zwei Tage später liegt „Boe“ immer noch in Stralsund. Der Windmesser zeigt stramme 22 bis 25 Knoten an, in Böen über 30 Knoten. Ich binde das zweite Reff ins Groß. In gut einer Stunde trifft Felix ein. Zu zweit wollen wir uns auf Weg machen.
Nachmittags soll es abflauen, doch es wird dann 19.15 Uhr, bis wir ablegen. Erst da lässt der Wind langsam nach. Felix steht mit sichtlicher Freude am Ruder. Trotz gereffter Segel prescht „Boe“ mit siebeneinhalb Knoten von Stralsund nordwärts und ins geschützte Hiddensee-Fahrwasser. Später rauschen wir entlang der Nordküste Rügens in die Nacht und nehmen schließlich Kurs auf Bornholm.
Am nächsten Morgen stehen wir an der südöstlichen Ecke des Windparks „Baltic Eagle“. Totenflaute. Als wir bereits die Maschine starten, fordert uns das Wachschiff „Merkur“ höflich, aber bestimmt auf, das Gebiet zu verlassen. Zu nahe sind wir ihnen am ersten Windrad. Zugegeben, die vorgeschriebene halbe Seemeile Abstand ist das nicht mehr. Rasch drehen wir ab.
Der Funkkontakt führt uns vor Augen, dass die Besatzungen der Wachschiffe hier draußen ihren Job machen. Den werden sie seit den Anschlägen auf die Nordstream-Pipeline sowie auf Strom- und Datenkabel, die am Grund der Ostsee verlaufen, gegenwärtig sicherlich ernster nehmen als vielleicht noch in Zeiten vor dem Ukraine-Krieg.
Wir motoren zwischen „Baltic Eagle“ und „Wikinger“ gen Norden und finden alsbald den Wind wieder. Der bringt uns bis nach Bornholm. Ziemlich genau 24 Stunden nach Abfahrt in Stralsund laufen wir in Allinge im Norden der Insel ein. Etappe eins ist geschafft.
Vier Tage später. Bornholm liegt achteraus. Allerdings sind wir erst gestern Mittag von dort aufgebrochen. Der Wind hatte nicht mitspielen wollen, daher ist auch aus dem geplanten Schlag nordwärts nach Utklippan nichts geworden. Also haben wir direkten Kurs Ostnordost auf Klaipeda genommen. Anfänglich machen wir gute Fahrt, doch während der Nacht verabschiedet sich die zuvor stete Brise. Viel Segelarbeit. Schmetterling mit ausgebaumter Genua, dann wieder Auflösen und auf raumen Kurs gehen, weil wir sonst zu weit südlich geraten. Und das Ganze wieder von vorn.
Auch jetzt, als es in die zweite Nacht geht, ist wieder fast kein Wind. Die Windsteueranlage schafft es gerade noch so, uns bei 1,5 bis 1,8 Knoten Fahrt einigermaßen auf Kurs zu halten. Doch gefallen will mir das nicht. Und dann, um 21.42 Uhr, als ich auf dem Tablet unsere Position prüfen will, traue ich meinen Augen nicht. Laut der Navigations-App segeln wir mit rasantem Speed über Land. Das GPS-Signal ist ganz offensichtlich massiv abgelenkt.
»Lange her, dass ich die Schiffsposition koppeln musste. Das war, bevor es GPS gab. Jetzt bin ich froh, dass ich es noch kann.«
Unsere letzte verifizierte Position ist 55°51,35‘ Nord und 18°24,30‘ Ost, 18 Seemeilen westlich der russischen EEZ. Wir haben gleich ab Allinge stündlich mitgekoppelt. Die dänischen Segler waren zwar viel entspannter, was unser Ziel betraf, warnten uns aber, dass die GPS-Störungen mitunter bis Bornholm reichen würden. So erschien uns die gute alte Kartenarbeit nicht nur ein prima Training, sondern vom Start weg sinnvoll zu sein. Jetzt ist es also so weit.
In einer halben Stunde geht die Sonne unter. Kurz vor Ende meiner Wache checke ich den letzten Wetterbericht und entscheide: „Ganz wenig Wind ist zwar nicht vorhergesagt. Aber es soll erst zum Morgen wieder mehr werden. Lass uns die Maschine starten. Ich will eine klare, kontrollierbare Geschwindigkeit zum Mitkoppeln. Wir müssen nun ja doch dicht an die EEZ ran und dann obenrum. Da will ich nicht unkontrolliert herumdümpeln.“
Felix nickt, ist schon am Motorpanel, glüht vor, startet den Diesel, schaut nach dem Kühlwasser und stellt sich hinters Steuerrad. Ich rolle die Genua weg, hole das Groß dicht, das wir als Stützsegel stehen lassen, gehe dann unter Deck und schalte die Positionslampen sowie das Dampferlicht an. Erst jetzt spüre ich meine Anspannung.
Wie lange ist es her, dass ich mich nur auf möglichst präzises Koppeln verlassen musste? Verflixt lange! Als es noch kein GPS gab. Ich erinnere mich zwar, dass auch später mal das GPS ausgefallen war. Aber damals waren wir in Landnähe, konnten Kreuzpeilungen machen und auf diese Weise unser Ziel finden. Ich schaue auf die eingezeichnete Position in der Seekarte. Nur ein Kreuz. Ohne Kreis. Ich habe ein bisschen gerechnet. Eine Dreiviertelstunde mit 1,7 Knoten plus 15 Minuten mit 5,5 Knoten. Wir sind auf 50 Grad gegangen, um uns etwas mehr vom nördlichen Zipfel der russischen EEZ freizuhalten als ursprünglich geplant. Auf diesem Kurs heben sich Kartenmissweisung und Kompassdeviation gegeneinander auf, was gerade sehr praktisch ist. Ich notiere einen kurzen Vermerk: „Achtung bei Kurswechsel!“
Strom- und Windversatz sind zu vernachlässigen. Während ich noch überlege, ob ich an alles gedacht habe, fällt mein Blick auf das Display unseres Funkgeräts. Wir haben eines mit integriertem GPS. Die angezeigte Position stimmt fast auf die Sekunde mit der überein, die ich gerade in die Seekarte eingetragen habe. Ist der Spuk schon vorbei? Doch in der App des Tablets brettern wir nach wie vor durchs litauische Binnenland, ebenso in der anderen App auf dem Smartphone.
Ich schaue wieder aufs Funkgerät. Da steht quasi meine errechnete Position, die Nachkommastellen verändern sich leicht. Einen Kreis durch die gekoppelte Position zu zeichnen, wage ich aber nicht. Ich schreibe einen weiteren Vermerk in die Positionsliste: „Eventuell zeigt VHF korrekt an – beobachten!"
Schlaf finde ich in dieser Nacht kaum. „Was machst du denn schon hier?“, fragt Felix mich, als ich bereits um kurz nach Mitternacht aus der Achterkabine komme. „Ausgeschlafen“, antworte ich. Er sitzt am Kartentisch und zeichnet weiter. Den Motor hat er ausgekuppelt, wir treiben. Es wird Zeit, dass ich den elektrischen Autopiloten endlich installiere. Der liegt seit vier Jahren ungenutzt in einem Schapp. Wir haben ihn nie vermisst, seit die Windfahne das Heck ziert.
Doch heute Nacht wäre er hilfreich. Mein Kopf fängt schon an zu rechnen: zehn Minuten treiben plus 50 Minuten Maschinenfahrt, als Felix meinen Gedanken unterbricht. Er sagt: „Das Funkgerät scheint die ganze Zeit die richtigen Positionen anzuzeigen. Auch die Apps haben zwischendurch glaubhafte Positionen und Kurse angezeigt. Jetzt fahren wir aber angeblich gerade bei Kaliningrad herum.“
„Hmm“, murmele ich. Da ergänzt Felix: „Ach, und das polnische Kriegsschiff meldet sich weiterhin jede halbe Stunde.“ Seit einigen Stunden schon fordert die Funkoffizierin des polnischen Kreuzers alle Seefunkstellen auf, sämtliche „verdächtigen Beobachtungen“ an sie auf Kanal 73 zu melden. Sie würden für „Freedom of Navigation“ kämpfen. Felix fragt: „Willst du dich nicht doch bei denen melden?“
»Ein polnisches Kriegsschiff fordert auf, verdächtige Beobachtungen zu melden. Man würde für Freedom of Navigation kämpfen.«
Ich schüttele nur den Kopf, kann keinen Sinn in unserer Meldung erkennen. Außer Aufregung. „Und du, bist du müde?“ frage ich ihn. „Schon, ja“, antwortet er. „Dann lass uns den Wachplan auf lokale Zeit schieben. Das passt doch gerade gut. Ich bin jetzt fit. Dann kannst du dich früher in die Koje hauen.“ Felix akzeptiert zögernd, freut sich aber. Ich streife mir eine Jacke über und nehme im Cockpit Platz. Bevor ich den Motor wieder einkupple, rufe ich noch nach unten: „Vielleicht segeln wir ja zu deiner Wache schon wieder!“
Und tatsächlich, es ist Viertel vor zwei in der Nacht, wir haben die russische EEZ gerundet und fahren gerade in die litauische ein, als Wind aufkommt. Welch eine Begrüßung! Ich kupple aus, rolle die Genua aus, dann stoppe ich die Maschine. Nachdem das Motorgebrumm verstummt ist, breitet sich diese unnachahmliche Atmosphäre aus, die es so nur beim Segeln gibt: das Rauschen der See und das Plätschern der Wellen am Rumpf, ein leises Ächzen irgendeiner Schot an einem Umlenkblock, das Säuseln der Brise im Rigg und das sanfte Gurgeln unseres Heckwassers. Sonst nichts. Zehn bis zwölf Knoten aus Südsüdwest, wir mit 100 Grad – ein wunderbarer Halbwindkurs. Ich fiere noch um einiges auf und lasse „Boe“ laufen.
Dann aktiviere ich die Windfahnensteuerung und setze die Gastlandflagge, gelb über grün über rot. An Steuerbord sind die Lichter eines unbekannten Schiffes innerhalb der russischen EEZ auszumachen. Ich nehme das Fernglas zur Hand. Jetzt weiß über grün und das weiße Licht klar achterlich. Wie die Spitze der EEZ, so haben wir auch dieses mysteriöse Schiff umfahren. Auf dem AIS ist es nicht zu sehen. Vermutlich ein Wachboot der Russen.
Schließlich gehe ich unter Deck, um Tee zu kochen. Während ich auf das heiße Wasser warte, ist es Zeit für unsere stündliche Position. Das integrierte GPS im Funkgerät hat sich die ganze Zeit nicht beirren lassen und plausible Angaben geliefert. Hersteller Navico kann später selbst nicht sagen, weshalb. Auch die Apps haben immer wieder mal ordentlich gearbeitet, bis wir neuerlich vermeintlich auf die Küste brummten. Jetzt gerade segeln wir angeblich durch Kaunas.
Ich frage mich, was dieser Mumpitz soll. Die vermeintlichen Positionen und damit verbundenen Geschwindigkeiten sind derart unsinnig, dass niemand annehmen kann, sich dort zu befinden. Viel gefährlicher wären doch geringe Abweichungen von der tatsächlichen Position. So ist das alles nur nervig. Aber womöglich geht es genau darum: zu nerven und zu verunsichern.
Nachmittags um kurz nach fünf stehen wir vor der Hafeneinfahrt von Klaipeda. „Port Control, Port Control. Here is sailing vessel Boe, sailing vessel Boe, Delta Hotel two nine three zero. Do you read me?“ Stunden vorher hatte uns der Wind abermals verlassen. Als wir so langsam wurden, dass die Gefahr bestand, erst bei Nacht in den fremden Hafen einzulaufen, starteten wir erneut die Maschine. Jetzt haben wir ausgekuppelt, um in Ruhe funken zu können. Der Motor ist unter Deck ziemlich laut. Und so treiben wir mit Restfahrt südlich des Ansteuerungs-Fahrwassers.
„Sailing vessel Boe, here Port Control. Was wollen Sie hier?“, kommt eine energische Frauenstimme am Funk. „Lãbas vãkaras. Wir erbitten Einfahrt in den Hafen“, antworte ich und hoffe, dass mein bisschen Litauisch gut ankommt. „Sailing vessel Boe. Buchstabieren Sie Bootsnamen und nennen Sie Rufzeichen und MMSI!“ Ich komme der Aufforderung nach. Es dauert eine Weile, bis sich die Frau wieder meldet: „Eine gute Einfahrt. Melden Sie sich bei der Küstenwache auf Kanal 77! Lãbas vãkaras.“ Also dann auch die Küstenwache. Das Ganze wiederholt sich. Ich soll alles zweimal buchstabieren. Wegen eventueller Widersprüche? Ich bin nervös. Dann: „Wie viele Personen befinden sich an Bord, was sind die Aufgaben an Bord, welche Nationalität haben sie? Und was sind Ihre Absichten hier?“
Als ich angebe, dass Felix Schweizer Staatsbürger ist, fürchte ich, jetzt könnte es noch kompliziert werden. Daher füge ich rasch hinzu: „Und wir sind hier, um meine Schwiegergroßeltern zu besuchen. Die leben in Melnrage, und morgen Abend ist Grillfest.“ Das hilft offenbar. „Na dann eine gute Zeit und willkommen in Litauen. Melden Sie sich, wenn Sie wieder abfahren!“
Als wir am Hafenkai längsseits anlegen, erwarten uns schon meine Partnerin und eine gute Freundin mit ihrem Sohn zu einem überschwänglichen Willkommen. Und morgen feiern wir ein Familiengrillfest!
Epilog. Wir haben eine unbeschwerte Zeit in Litauen verlebt. Auf dem Rückweg sind wir in Karlskrona noch mit den letzten Festmacherleinen beschäftigt, als sich strammen Schrittes die schwedische Küstenwache nähert, zu viert, bewaffnet. Auch hier werden wir befragt: Nationalität, woher wir kommen, was wir dort gemacht haben, wie lange wir bleiben. Erst als die Frage zu Haustieren an Bord kommt, lockert sich die Situation. Ein Stoffhase sitzt bei uns an Deck, wir haben ihn in Klaipeda aus dem Hafenbecken gefischt. „Nur der hier“, antworte ich und zeige auf den Hasen. Da grinst endlich auch die Abordnung der Küstenwache und verabschiedet sich.
Felix und ich schauen ihnen nach, wohl beide das Gleiche denkend. Die Anspannung in der östlichen Ostsee ist spürbar, die Bedrohung für die Menschen hier sehr real. Als Segler können wir uns dem nicht entziehen. Vom Segeln abhalten sollte es uns aber nicht.