Astro-NavigationVon der Kerbe im Holz zur Computer-App

Leon Schulz

 · 15.11.2023

Das Astrolabium war eines der ersten Hilfsmittel zur Ermittlung des Höhenwinkels der Sonne
Foto: YACHT/K. Andrews
Wie sich die Kunst der Navigation mit Hilfe der Sterne seit den Anfängen der Seefahrt bis heute entwickelt hat – Meilensteine

Dass der Schatten am Schiffsmittag den Breitengrad der eigenen Position verrät, wussten schon die Wikinger. Diese schnitzten sich eine Kerbe auf die Ruderbank, wo das Ende des Schattens vom Süllrand hinfiel, wenn der Schatten des Tages am kürzesten war. So konnten sie den Breitengrad eines Ortes wie Shetland, Island oder Grönland wiederfinden. Der Schatten ist natürlich nicht nur breitengrad-, sondern auch jahreszeitenabhängig. Im Winter ist der Schatten bekanntlich länger als im Sommer. Aber wer jährlich im Juni von Norwegen nach Island aufbricht und jeweils im August wieder zurücksegelt, braucht nur zwei Kerben für die Ruderbank: eine für die Hin-und eine zweite für die Rückfahrt.

Prinzipiell nicht viel anders funktionierte die Navigation bis tief ins 18. Jahrhundert. Mit zunehmend präziseren Instrumenten (Sextant) sowie einem stets genaueren “Nautischen Jahrbuch“ für die Ermittlung des Breitengrades der Sonne (Deklination) konnte der eigene Breitengrad immer besser bestimmt werden.

Aber eben nur der Breitengrad! Schiffe segelten beispielsweise wie die von Kolumbus von den Kanarischen Inseln stur gegen Süden oder Südwesten, bis der gewünschte Breitengrad mittels Sonnenbeobachtung gefunden wurde. Dann wurde nach Westen gedreht und einfach abgewartet, bis irgendwann Land in Sicht kam. Über die Schiffsgeschwindigkeit konnte der Navigator dabei zumindest grob einschätzen, wann das der Fall sein müsste.

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Chronometer vs. Lunar-Distanz-Methode

Einen Quantensprung der Astronavigation erreichte John Harrison. 1736 entwickelte er seinen ersten Chronometer, der so genau war, dass eine Position nicht nur mit Breiten-, sondern auch mit einem Längengrad ermittelt werden konnte. Es gab aber auch andere Wege, den Längengrad zu bestimmen, beispielsweise mit Hilfe der Lunar-Distanz-Methode: Hier wurde der Winkelabstand zwischen Mond und anderen Himmelskörpern gemessen.

Die Theorie war schon 1524 aufgestellt worden, aber erst viele Jahre nach Harrisons Entwicklung des genauen Chronometers, ab 1763, waren die Tabellen für die Mond-Methode so weit ausgereift, dass sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurden. Eigentlich ist die Lunar-Methode die robustere, denn kein teurer und empfindlicher Chronometer musste an Bord mitgeführt werden. Aber: Die Berechnungen waren sehr kompliziert und konnten nicht an allen Tagen im Monat angestellt werden.

Heute wohl kaum vorstellbar, aber Ende des 18. Jahrhunderts machte der Preis für einen Harrison-Chronometer stolze 30 Prozent des gesamten Schiffswertes aus! Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die Produktionskosten eines Chronometers so weit gesunken waren, dass die Lunar-Methode schließlich ganz verdrängt wurde.

Die HO249-Methode

Bis zum Zweiten Weltkrieg mussten Segler sich danach mit schwerfälligen Logarithmentafeln quälen, die sich übrigens bis heute nicht ganz aus den Klassenzimmern der Astronavigation verdrängen ließen. Wer den SHS geschafft hat, weiß ein Lied davon zu singen. Aber wieso so kompliziert, wenn es doch einfacher geht?

Die US-Amerikaner waren es, die Mitte der Dreißiger „Tables of Computed Altitude and Azimuth 1936–1945“ als „H. O. Pub. No. 214“ veröffentlichten. Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Astronavigation. Die US-Langstreckenbomber brauchten eine rasche Standortbestimmung, und so entstanden schließlich die genialen HO249-Tafeln „for Air Navigation“ in nur drei Bänden, die bis heute gern auch von Seglern genutzt werden, die keine Lust auf Logarithmentafeln haben. Es gibt zwar daneben die genaueren nautischen Tafeln HO224, bestehend aus ganzen sechs Bänden; für Segler reichen aber die weniger umfangreichen Tafeln für die Fliegerei völlig aus.

Was aber ist so genial daran? Nun, statt mit Hilfe von Logarithmentafeln selbst rechnen zu müssen, sind für eine schier unvorstellbar große Anzahl von Positionen der dort zu messende Höhenwinkel zur Sonne (Hc) sowie die Richtung zur Sonne (Azimut) schon in Voraus berechnet worden. Beide Werte können einfach aus den Büchern abgelesen werden. Die Berechnung ist also für den Nautiker bereits erledigt!

Wenn sich der Segler nun zufällig an einem dieser Rechenorte befände, müsste er den dort abgedruckten Höhenwinkel (Hc) am eigenen Sextanten ebenfalls messen. Das wäre natürlich ein riesiger Zufall, und so wird in der Praxis ein anderer Winkel als der Sollwinkel des Rechenortes beobachtet. Daher muss nun der eigene Beobachtungswinkel am Sextanten (Ho) mit dem aus der HO249-Tafel (Hc) verglichen werden. Es gilt gewissermaßen, den Unterschied zwischen Ist-und Soll-Wert zu finden. Die Differenz zwischen Hc und Ho gibt dann an, wie weit man vom Rechenort entfernt ist (Intercept). Man beweist also quasi, dass man sich eben nicht am Rechenort befindet, sondern man errechnet vielmehr die genaue Abweichung von diesem. In die Seekarte wird erst der Rechenort und danach die ermittelte Abweichung entweder zur Sonne hin oder von der Sonne weg entlang des Azimuts eingezeichnet. Das Resultat ist schließlich eine Standlinie.

Elektronische Astronavigation

Einer der Ersten, die die in den achtziger Jahren gerade auf den Markt gekommenen programmierbaren Taschenrechner für die Astronavigation geschickt einzusetzen wussten, war Bobby Schenk. Vorteil: Wer seinen Hc und Azimut per Taschenrechner für einen x-beliebigen Ort selbst errechnen kann, braucht überhaupt keine Tafeln mehr!

Heute gibt es moderne Apps, die genau das machen, was Bobbys „Astro Classic“ auch schon konnte: die Richtung zur Sonne (Zn, Azimut) sowie den an der gegissten Position (EP, Estimated Position) zu erwartenden Höhenwinkel zur Sonne (Hc) per Knopfdruck zu ermitteln. Einige Apps sind wunderschön illustriert und berechnen für zwei aufeinanderfolgende Messungen und die Versegelung dazwischen direkt eine Position. Das erspart sogar das Zeichnen.

Die Nutzung von Astro-Programmen ist selbstverständlich zweckmäßig und bequem. Wenngleich man von der Stromversorgung für den Computer, das Tablet oder Smartphone abhängig bleibt. Die meisten verstehen bei der Anwendung einer App ohnehin kaum den Hintergrund der Berechnungen. Sie freuen sich stattdessen einfach übers Resultat. Eingegeben werden zwei zirka zwei bis drei Stunden auseinandergelegene Sonnenhöhen mitsamt genauer Beobachtungszeit sowie die gesegelte Strecke dazwischen. Die App spuckt sodann die Schiffsposition aus!

Die persönliche Befriedigung bei der Nutzung von Sextant und Computer ist infolgedessen nicht sehr groß. Wer zur Astronavigation ein Computerprogramm benötigt, kann eigentlich auch gleich mit GPS, Galileo oder anderen Satellitensystemen navigieren. Wer hingegen auf die elektronischen Hilfsmittel verzichtet und zu seinem Ziel findet, wird sich ungleich mehr über das eigene Wissen und Können freuen. In den kommenden YACHT-Webinaren erhalten interessierte Segler Gelegenheit, genau dieses Wissen aufzufrischen oder überhaupt erst zu erlangen.



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