Auf dem Tisch neben mir steht ein Glas Cranberrysaft. Offen. Ohne Deckel, ohne Kardanik. Schon seit Tagen stelle ich es dort ab. Das liegt nicht etwa daran, dass wir auf einem Katamaran unterwegs sind oder das Glas auf der Tischplatte fest "gesikaflext" ist. Nein, es liegt daran, dass der Atlantik gerade ruhig daliegt, wie ein Dorfteich an einem windstillen Sommertag. Bleiern und schwer.
Seit sechs Tagen sind wir nun unterwegs über den Atlantik, und seit fünf Tagen stecken wir in einem großen Hochdruckgebiet fest, einem Bermudas-Hoch. Was wir bereits vermutet haben, hat sich gestern mit dem Empfang einer Wetterkarte über Kurzwellenradio bestätigt. Es war zwar nicht viel zu erkennen, weil der Empfang ziemlich schlecht war, doch als unser Seegebiet durch den Äther piepte, wurde das Bild kurzzeitig klar und zeigte ein großes "H", in dessen Mitte wir uns gerade befinden. Immerhin, die Hälfte ist geschafft. Wir sind halb durch.
Während wir es die letzten Tage immer noch irgendwie geschafft haben, 80er-Etmale zu laufen (zum Teil dadurch, dass wir jeden Tag ein paar Stunden den Motor angeworfen haben, um aus dem stationären System herauszukommen … ), ging gestern gar nichts mehr. Absolute Windstille. Ich war kurz davor, die Segel zu bergen und über Nacht statt der Dreifarbenlaterne das Ankerlicht zu setzen. Vielleicht sogar den Anker zu werfen. Hach, wenn ich doch Karikaturen zeichnen könnte, wie Mike Peyton. Es wäre ein tolles Bild, wie wir hier liegen. Mitten auf dem Atlantik, und der Anker baumelt in 70 Meter Tiefe unter dem Boot am Ende der Kette.
Vor Jahren bin ich tatsächlich ein paarmal gefragt worden, ob wir denn mitten auf dem Atlantik nachts immer den Anker werfen. Nachdem ich die Frage ein paarmal mit "nee, das ist zu tief" abgetan habe, hat es mich doch interessiert, das Ganze mal auszurechnen.
Hier unter uns ist das Wasser mehr als 5000 Meter tief. Wenn wir jeden Abend den Anker werfen und das nötige, aber absolute Minimum an Kette stecken würden (dreifache Wassertiefe), wären das 15.000 Meter Kette. Ich erinnere mich, dass das Paket mit unserer Ankerkette etwa 90 Kilo gewogen hat, ein Meter unserer 8-Millimeter-Kette etwa 1,3 Kilo. Wir müssten also in der Lage sein, 19,5 Tonnen an Kette zu stauen. Natürlich möglichst, ohne das Schiff buglastig zu machen. Wir lassen dabei unbeachtet, dass die Kette bei einem derart großen Schiff sehr viel dicker und schwerer sein müsste als unsere für ein 33-Fuß-Schiff ausgelegte.
Unsere Ankerwinsch ist mit ihren 1000 Watt für ein Boot dieser Größe schon sehr ordentlich bemessen und kann pro Minute etwa 30 Meter Kette einholen. Um die ganze Ankerkette einzuholen, wären das 650 Minuten – oder fast 11 Stunden. Wir müssten also schon nach Mitternacht mit dem Einholen beginnen, um nach einem sehr späten Frühstück wieder Segel setzen zu können. Wieder lassen wir außer Acht, dass die Wisch bereits bei einer Zuglast von 550 Kilo an ihre Grenzen kommt und etwa 90 Ampere zieht. Die Lichtmaschine des Motors liefert selbst mit dem Sterling-Ladebooster nur 55 Ampere. Selbst wenn sie die Ankerwinsch dauerhaft versorgen könnte, würden wir pro Ankereinhol-Manöver etwa 16,5 Liter Diesel verheizen und würden nur neunmal ankern können, bevor unsere Dieselvorräte am Ende sind.
Für manchen Leser könnte sich nun der Eindruck ergeben, dass die viele Sonne hier auf dem Atlantik unserem Verstand schaden könnte (zweifellos!) oder die Weite und Langeweile mich langsam zu einem Mathe-Nerd macht … Aber es gibt auch im Moment wirklich nicht viel anderes zu tun, außer im Schatten zu liegen, zu lesen und auf Wind zu warten.
Dafür ist um uns herum viel los. Gerade kreisen drei große Barracudas ums Schiff, und ein paar kleine Fische liegen im Schatten unter unserem Rumpf. Sie lassen sich mit unseren Küchenabfällen (Kartoffelschalen, usw.) füttern. Außerdem treiben gerade viele portugiesische Galeeren an uns vorbei.
Als wir gestern für drei Stunden den Motor laufen ließen (in der Hoffnung, ein paar Meilen aus dem Hoch heraus zu machen), ruft Cati: "Guck mal, da ist was im Wasser. Was großes!" Direkt vor dem Bug zwei lange schwarze Flächen. Noch bevor ich "Sieht aus wie zwei Wale" sagen kann, prusten zwei Wasserfontänen vor uns hoch. "Kursänderung!" Cati hat panische Angst vor Walen, weil sie schon viele Geschichten anderer Segler gehört hat, die mit Walen kollidiert sind. Ich selbst habe vor zehn Jahren mal in St. Lucia eine schwedische Najad liegen sehen, deren Skeg fehlte – abgebrochen, und die Welle hing s-förmig aus dem Rumpf. Was passiert ist, erzählte mir ein Werftarbeiter: "Das Schiff ist auf der Atlantiküberquerung zwischen einen Wal und sein Junges gesegelt. Da hat die Mutter auf die Yacht eingeprügelt." Seitdem bestaunen wir die Tiere immer aus der Entfernung.
Noch immer haben wir 2200 Seemeilen bis zu den Azoren vor dem Bug und erst 520 Meilen geschafft. Heute hatten wir unseren Negativ-Rekord von nur 53 Meilen in 24 Stunden. Aber spätestens am Samstag soll der Wind zurückkehren. Bis dahin zuppeln wir weiter an den Segeln und versuchen, die größtmögliche Fahrt aus dem Schiff rauszuholen. Aber wir genießen auch die Ruhe und dieses unendliche Blau um uns herum. Und machen das Beste aus der Zwangspause. Gestern Abend beispielsweise gab es mitten auf dem Atlantik eine originale deutsche Bratwurst, Aldi in West Palm Beach und einem guten Kühlschrank sei’s gedankt. Da war die Flaute kurz vergessen, und zu unserer Freude kam dann mit Einbruch der Dunkelheit auch noch leichter Wind auf, sodass uns die Windsteueranlage mit 2,5 Knoten durch die Nacht geschoben hat. Nach der Flaute der letzten Woche war das schon Rauschefahrt …
Unseren Tracker mit den täglichen Positionen können Sie auf www.zu-zweit-auf-see.de verfolgen.