Seit Januar 2023 sucht der frankospanische Meeresbiologe Renaud De Stephanis mit Unterstützung der spanischen Behörden das Rätsel der Orcas und die Ursachen der mysteriösen Attacken auf Yachtruder zu ergründen. Renaud De Stephanis erforscht seit den neunziger Jahren das Verhalten von Delphinen und Walen und hat über 100 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht. Er ist Gründer und Direktor der Forschungsgruppe Circe (Erhaltung, Information und Studie über Wale), die sich dem Schutz und der Erforschung der Cetaceen (Wale und Delphine) in der Straße von Gibraltar widmet.
Ausgestattet mit zwei Segelyachten sowie Schlauchbooten, fährt er vor der südspanischen Küste jeden Tag hinaus zur Hot Zone, wo verhaltensauffällige Orcas mit Rudern interagieren. Sein Ziel: Orca-Daten im Zusammenhang ihrer Interaktionen mit Booten zu sammeln. Im Interview spricht Renaud De Stephanis über den augenblicklichen Stand seiner Forschung, bisherige Ergebnisse und die aktuell optimalen Verhaltensregeln für Segler.
Renaud De Stephanis: Wir gehen heute nicht nur von einer Gruppe, sondern von zwei Gruppen aus. Das ist bislang eine Hypothese, aber unsere Beobachtungen weisen stark in diese Richtung. Eine Gruppe ist vor dem Fischerort Barbate nordwestlich der Straße von Gibraltar aktiv an Ruderblättern dran, die andere Gruppe ist zurzeit vor Frankreich aktiv.
Vor der Gascogne nördlich der Pyrenäen gab es in den letzten Tagen zwei Interaktionen, die mit beschädigten Ruderblättern endeten. Was das Rudel vor Barbate angeht, gehen diese Tiere mittlerweile auch bis ans östliche Ende der Straße von Gibraltar. Wir haben mittlerweile auch Interaktionen vor La Linea nördlich Gibraltar.
Wir wollen drei Themen klären: Wir wollen die Anzahl der Interaktionen reduzieren. Und dann die Anzahl beschädigter Ruder verringern. Es soll weniger Schäden geben. Drittens arbeiten wir an Erklärungen, wie es den Orcas gelingen konnte, bislang drei Yachten zu versenken, um weitere Verluste an Booten zu vermeiden.
Wir denken in dieselbe Richtung. Ein beschädigtes Ruderblatt führt niemals zum Sinken einer Yacht. Ein beschädigter Rumpf schon. Wir raten deshalb dringendst von einer Verstärkung des Ruderblattes ab, das würde eine Yacht definitiv in ernsthafte Gefahr bringen. Wir arbeiten auch an technischen Lösungen, um die Zerstörung von Ruderblättern zu vermeiden. Pinger, also Lärm-emittierende Sender, sind nach allem, was wir bis jetzt ausprobiert haben, meist wirkungslos. Unsere Idee ist, eine technische Lösung zu finden.
Da ist zum einen die Initiative vieler Webseiten und WhatsApp-Gruppen, den Aufenthaltsort interagierender Orcas zeitnah für alle Skipper zu veröffentlichen. Wir arbeiten daran, noch schneller den augenblicklichen Standort von Orcas in Apps, auf Webseiten und elektronischen Seekarten sichtbar zu machen. Anders als in den letzten zwei Jahren wissen wir heute, dass “Maschine aus” und “Stillliegen” genau die falschen Reaktionen sind. Mit dem Stillliegen signalisiert man den Orcas ja: “Hier hast du dein Spielzeug. Nimm es!” Wir empfehlen stattdessen, sofort unter Motor von der Herde wegzulaufen und die 20-Meter-Linie aufzusuchen. Wir haben das jetzt etwa 70-mal ausprobiert – nur einmal endete diese Taktik mit einem zerstörten Ruder. Das spricht für sich.
Bis April stiegen die Zahlen. Seit April bewegen sie sich signifikant nach unten.
Bis auf wenige Ausnahmen bewegen sich fast alle Yachten auf der 20-Meter-Linie eng an der Küste. Selbst vor Barbate. Das hat die Zahl beschädigter Ruder deutlich nach unten gebracht.
Kurz gesagt: jederzeit wissen, wo die Orcas sind. Und dann ganz nah an der Küste entlang segeln auf der 20-Meter-Tiefenlinie. Dort ist man sicher.
Da habe ich ehrlich gesagt nicht die leiseste Ahnung. Wenn die Segelyachten weiter nah an der Küste bleiben, werden die Zahlen in diesem Jahr weiter fallen.