KanalinselnInsel Jersey - eine kleine Welt für sich

Christian Tiedt

 · 23.12.2024

Hafeneinfahrt von Saint Helier mit dem Kontrollturm.
Foto: Christian Tiedt
Jersey ist die größte Kanalinsel, britischer Kronbesitz, aber dennoch eigenständig. Es ist aber nicht nur diese Kombination, die Jersey interessant macht.

Wir überqueren die Seegrenze nach Jersey, oder genauer: zur Bailiwick of Jersey. Denn zu deren Territorium gehören auch die bei Flut bedeckten Felsen der „Minkies“. Die Südküste der Hauptinsel Jersey ist natürlich längst in Sicht. Relativ mittig, eingerahmt von zwei weiten Buchten, Saint Aubin Bay im Westen und Saint Clement’s Bay im Osten, liegt der Hauptort Saint Helier mit seinem großen Fährhafen. Vier helle Hochhäuser dienen als deutliche Landmarke.

Ankunft auf Jersey: Saint Helier Marina

Unser Ziel ist die Saint Helier Marina, das innerste Becken. Auch hier ist alles mächtig und wuchtig zum Schutz vor dem Meer. Mit Elizabeth Castle an Backbord laufen wir ein, passieren den Turm der Verkehrszentrale (UKW 14) und die Einfahrt zur Marina. Das Ampelsignal am sill zeigt zweimal grün, einmal weiß: Achtung bei der Einfahrt! Sofort kommt das Aluboot der Marina längsseits und weist einen Liegeplatz zu.

Das Becken ist rechteckig, die acht Meter hohen Wände aus großen Granitblöcken zusammengefügt. An den Fahnenmasten oben an der Mauerkante erkennt man die internationale Herkunft der derzeitigen Gäste: Deutschland, Frankreich, Niederlande, USA. Auch die Briten sind hier Gäste und bekommen ihren Union Jack. Alles hier ist solide und technisch auf bestem Stand, die Serviceräume sauber, die Hinweisschilder höflich. Das Office der Marina ist einem alten Lagerhaus aus den Tagen Queen Victorias untergebracht, gleich neben dem Maritime Museum, das wir uns morgen anschauen wollen.

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Denn wie ein großer Bildschirm bestätigt, wird das Wetter der nächsten Tage wenig sommerlich: Nordwest 6 bis 7 sind angesagt, anhaltend, zwischendurch sogar 8, dazu ordentliche Welle. Für uns ist das zu viel – und das obendrein noch aus der falschen Richtung. Denn im Nordwesten liegt unser nächstes Ziel, Guernsey. Statt einem zweitägigen Aufenthalt werden es am Ende vier Tage werden – auch wenn wir das bei der Ankunft noch nicht ahnen. Zeit haben wir zum Glück. Erstmal einklarieren, auf Jersey online möglich, oder gleich am PC im Office der Marina. Eine persönliche Kontrolle gibt es nicht, schön in diesen Zeiten.

Saint Helier: Freiheit steht hoch im Kurs

Da die Sonne herauskommt, geht es gleich an Land. Saint-Helier gibt sich unauffällig: Graue Wohn- und Geschäftsgebäude, dafür mit polierten Schildern an den Eingängen: ob die zu Briefkastenfirmen gehören? Abgebogen, dann über Seaton Place und Seale Street, ein bisschen London, dritte Reihe. The Parade hinauf, wo es belebter wird, zu den Parade Grounds mit dem Denkmal für General Don, der wirklich so hieß. Als Gouverneur bewahrte er Jersey vor dem Zugriff Napoleons. Richtung Broad Street und King Street wird es dann wirklich hübsch, mit kleinen Shops und Restaurants. Das Royal Yacht Hotel erzählt vom Ruhm alter Zeiten, Flaggengirlanden flattern über dem Fußweg, einmal Vereinigtes Königreich, einmal Jersey: das rote Andreaskreuz mit den drei Löwen des Inselwappens.

Die Crew trifft sich im Troubadour wieder, an der Bar gibt das Bier von hier: Liberation. Die Befreiung von Deutscher Besatzung am Ende des Zweiten Weltkrieges, die Okkupation selbst, muss tiefe Spuren hinterlassen haben, dass sie überall präsent ist: Liberation Square, Liberation Station mit Liberty Bus, der Freedom Tree an der Promenade, jetzt Liberation Ale. Obwohl, kein Grund für Ironie. Mal sehen, ob wir der Geschichte morgen etwas näherkommen. Im Museum ist auch der Occupation Tapestry zu sehen, ich bin gespannt. Als die Sonne weg ist, wird es schnell kalt. Auf dem Rückweg bleibt mein Blick an einer gravierten Bodenplatte hängen. Es ist die letzte einer Reihe zu den einzelnen Stufen der Beaufort-Skala: „Hurricane – Yacht crews decide to take up golf.“

Im Südwesten von Jersey: La Corbière

Am nächsten Morgen ist es im Schutz des tiefen Hafenbeckens verdächtig friedlich. Oben auf der Mauer weht jedoch ein anderer Wind – im wahrsten Sinne. Wie angekündigt lässt der Nordwest die Flaggen knallen. Was das mit der See macht, wollen wir selbst sehen: am Leuchtturm von La Corbière. Immerhin 30 Jersey-Pfund kostet das Taxi zur Südwestspitze der Insel, der Fahrer gibt uns dafür etwas Einblick: Dass Jersey people von England oder von Europa sprechen, je nachdem, in welche Richtung sie die Insel verlassen. Und dass man sich, trotz aller Eigenständigkeit mit eigener Sprache und eigener Währung, als Kronbesitz der britischen Krone (und ihrem jeweiligen Träger) nach wie vor verbunden fühlt.

Es geht an Saint Aubin Bay entlang, durch das ausgestorbene Örtchen gleichen Namens, ein Stück durch Wald, auf und ab, durch Wohngebiete, bis die Häuser schließlich verschwinden und die schmale geteerte Straße nach einigen Windungen am Parkplatz eines Hotels endet. Hoch oben sind wir hier am Rand der Steilküste, das Meer ist voller Schaumkronen – und direkt voraus, keinen Kilometer entfernt, erhebt sich der weiße Turm auf wilden Felsen. Was für ein dramatisches Panorama! Weiter draußen ist wirklich was los: Gerade kommt die Englandfähre in Sicht. Das große Schiff muss in der See ordentlich arbeiten, bis zur Brückennock fliegt die Gischt.

Bei Niedrigwasser zum Leuchtturm

Doch der Weg zu dem 150 Jahre alten Bauwerk ist jetzt trocken, breite Betonplatten führen hinüber, die so sicher wirken, wie eine Straße an Land. Nur der nasse Sand und die kleinen Tümpel zu beiden Seiten erinnern daran, dass die Landschaft zweimal am Tag für mehrere Stunden am Grund des Meeres liegt und die Wellen frei darüber hinwegrollen können. Ein neues blaues Schild warnt arglose Fußgänger vor der Gefahr; eine Sirene ertöne, kurz bevor der causeway überschwemmt würde.

Eine alte Tafel dagegen zeigt die möglichen Folgen von Unachtsamkeit: Sie erinnert an Peter Edwin Larbalestier, Gehilfe des Leuchtturmwärters, der am 28. Mai 1946 sein Leben verlor, als er versuchte, einen von der steigenden Flut überraschten Besucher zu retten. Take heed, all ye who pass by! Erst an der Turmbasis selbst erreicht man wieder sicheren Boden, ein horizontaler Streifen entlang der braunen Felsen markiert die Hochwasserlinie. Zugänglich ist der Turm nicht, auch ein Café gibt es nicht. Eine kleine Aussichtplattform und eine Bank im Windschatten müssen für die Pause reichen, bevor es wieder zurückgeht. Ein eindrucksvoller Ort.

Keine Insel ohne maritimes Museum

Zurück in Saint Helier nutze ich den Rest des Nachmittags für den Besuch im Maritime Museum direkt an der Marina. Eine übersichtliche aber abwechslungsreiche Ausstellung – oft überraschend persönlich. Selbst bei den Schiffsmodellen, etwa von HMS „Swallow“. Es zeigt jenen Moment, als der Dreimaster am 2. Juli des Jahres 1767 eine namenlose Insel in den Weiten des Pazifiks entdeckte. Die Aufregung an Bord ist selbst im Maßstab 1:50 zu spüren, denn jedes Besatzungsmitglied ist nachgebildet, dichtgedrängt auf dem Vorschiff, in den Wanten, auf den Rahen. Genauer gesagt war es ein 15-jähriger Fähnrich, der das Eiland sichtete: Robert Pitcairn. Seinen Namen trägt es noch heute. Pitcairn, das als Fluchtort nach der Meuterei auf der „Bounty“ schon bald zu zweifelhaftem Ruhm gelangte. Der Kapitän der „Swallow“, Philip Carteret, stammte von Jersey.

Wie ein weiter Skipper von der Insel, den das Fernweh packte, wenn auch zwei Jahrhunderte später: David Sandeman. Seine „Sea Raider“ ist ebenfalls perfekt nachgebildet, von der Selbststeueranlage über die Avon-Rettungsinsel bis zur Segelnummer 53. Als 17-Jähriger überquerte er 1976 mit der 35-Fuß-Slup als bislang jüngster Mensch einhand den Atlantik. 43 Tage benötigte er für die Passage von Jersey nach Newport in Rhode Island. Sein Rekord hatte bis 2002 bestand.

Ein Teppich erzählt Geschichte

Im Gebäude des Museums ist auch der Occupation Tapestry untergebracht. Kriege können vielfältig historisch zugänglich gemacht werden. Hier hat man einen so kunstvollen Ansatz gewählt: Den handgewebten Teppich. Ähnlich wie bei seinem berühmten Vorbild, dem Teppich von Bayeux, stellt er einen Gesamtverlauf dar, von der Einnahme und Besatzung der Insel durch die Wehrmacht Ende Juni 1940 bis zur Befreiung im Mai 1945. Die ursprünglich zwölf, inzwischen dreizehn Paneele im Panoramaformat sind jeweils 90 Zentimeter hoch und doppelt so breit.

In kräftigen Farben und im Stil der Sechzigerjahre zeigen sie unterschiedliche Aspekte, vom alltäglichen Leben der Insulaner bis zum Schicksal der zum Festungsbau eingesetzten Zwangsarbeiter. In seinem abgedunkelten Saal, dreisprachig erklärt, ist der Teppich ein besonderes Erlebnis. Die ersten zwölf Bilder wurden von den zwölf Gemeinden Jerseys in siebenjähriger Arbeit geschaffen und am 9. Mai 1995 – zum 50. Jubiläum der Befreiung – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das dreizehnte Paneel kam 2015 anlässlich des 70. Jubiläums hinzu. Sein Thema: Erinnerung – und Versöhnung.

Mit dem Bus in den Osten: Gorey

Am zweiten Tag sparen wir uns das Taxi für die Erkundung. Ziel ist diesmal der Osten der Insel: Gorey, ein kleiner Hafenort. Unser Bus der Linie 2 kurvt über enge Straßen, zum Teil von hohen Hecken begrenzt (entsprechend kompakt ist das Fahrzeug). Eine knappe halbe Stunde dauert die Fahrt, durch die Dörfer Grouville und La Ville-ès-Renauds, dann haben wir unsere Haltestelle erreicht: Gorey Pier. Ein schmucker kleiner Wendeplatz mit einer blumenumpflanzten Segeljolle in der Mitte, anschließend eine Promenade mit Palmen und dann die Waterfront mit einer Reihe alter Häuser und der von einer Pier begrenzten Bucht, die als Hafen dient – nur gerade komplett ohne Wasser. Darüber thronen Mauern und Zinnen von Mont Orgeuil Castle, eine Burg wie aus dem Bilderbuch.

Wir steigen die Hafentreppe hinab und laufen einmal mehr am Grund entlang zwischen Besucher-Murings, einem Gewirr von Ketten, offenen Fischerbooten und einem auf der Seite liegenden kleinen Trawler. Über den Sand, dann Richtung Castle; einige Türme haben die Deutschen hinzugefügt, clever getarnt in Baustil und Material: Sie beherbergten Entfernungsmessgeräte der Kriegsmarine). Wir klettern auf die Pier, wo es windig ist Dingis aufgereiht stehen, wie Bücher im Regal. Dafür gibt es einen endlosen Blick die Küste entlang nach Süden, bis sich der weiß strahlende Sandstrand in der Ferne verliert. So habe ich mir Jersey vorgestellt, den sonnigsten Ort der britischen Inseln – wenn der Wind nicht wäre.

Regen ohne Ende. Na und?

Das dichtgeballte Grau des dritten Tages sorgt dafür, dass die meisten Crews im Hafen unter Deck bleiben. Auf der großen Aluminiumketsch aus Hoek van Holland, die gestern eingelaufen ist und jetzt bei uns im Päckchen liegt, haben sie das salzverkrustete Ölzeug in den Regen gehängt. Immer wieder peitschen Schauerböen über Saint Helier hinweg. Gegen halb elf klart es etwas auf. Jetzt ist Zeit für Elizabeth Castle, das den Hafen auf seiner Gezeiteninsel seit dem 16. Jahrhundert bewacht. Ähnlich wie La Corbière ist es nur bei Niedrigwasser zu erreichen.

Hinunter zum Strand. Der Weg ist erstaunlich matschig und auch jetzt muss noch ein kleines Rinnsal auf ausgelegten Trittsteinen überquert werden. Doch nach einer guten Viertelstunde ist unsere kleine Gruppe an der gepflasterten Rampe, die zum Tor hinaufführt. Wir lassen dem hochbeinigen Schwimmbus Platz, der hier pendelt, und wollen hineingehen, da sehe wir das Preisschild: 15,95 Pfund. Plötzlich haben wir alle drei keine Lust mehr auf eine eingerüstete Burg vor grauem Himmel. Das Geld kann man auch besser ausgeben, zum Beispiel am Abend auf dem Royal Square im Cock & Bottle – für cumberland sausage pinwheels und coastal cheddar mit ale chutney.

Der Rückweg in der Dämmerung führt dann allerdings durch einen weiteren Wolkenbruch. Trotzdem wird es immer lauter vor uns, immer mehr Leute drängen sich auf der Straße: Das Festival auf dem Weighbridge Place hat eröffnet! Schreckliches Wetter und junge Insulaner, denen das überhaupt nichts ausmacht. Musik wummert und Lichter orgeln. Viel Lärm, viel Haut und dünne Sommerkleider, die flattern wie nasse Flaggen. Immerhin hat der Himmel ein einsehen. An einer Bude holen wir eine Runde Stinky Bay und warten, dass der Wind uns trockenföhnt.

Der letzte Tag auf Jersey: La Rocque

Der letzte Tag! Aufgeklart hat es bereits und ab dem Nachmittag soll auch der Wind abnehmen, zumindest etwas. In La Rocque steige ich aus dem Bus. Der Ort liegt an der Südostspitze Jerseys, von hier aus erstreckt sich wie ein großer Keil aus Felsen die Violet Bank ins Meer, anderthalb Seemeilen lang und zwei Seemeilen breit an der Basis. Auch dieses Riff fällt nahezu vollständig trocken und enthüllt – ähnlich wie auf den Îles Chausey – eine chaotische Welt aus Felssäulen, Sandbänken, Lagunen und Rinnsalen. Wie jetzt gerade. In frühen Zeiten, als der Meeresspiegel niedriger lag, sollen hier Neandertaler gelebt haben.

Weit draußen, an der Niedrigwasserlinie: der Seymour Tower. Gebaut wurde er Ende des 18. Jahrhunderts zur Verteidigung der Insel und ist nicht nur zu Fuß erreichbar, sondern bietet auch einfache Möglichkeiten zur Übernachtung. Das wäre etwas gewesen: Eine Nacht auf der Burg statt an Bord! Ich sehe Spaziergänger, die sich gerade auf den Weg gemacht haben. Bald geraten sie hinter einem Felsen außer Sicht. Ich gehe zum Strand stattdessen hinunter, wo einige Urlauber im Schatten der hohen Seemauer sitzen. Hier ist es nahezu windstill, richtig hochsommerlich. Ich mache Fotos von Booten auf dem Trockenen, von der himmelhohen Mole und vom felsengespickten Horizont. So werde ich Jersey in Erinnerung behalten.


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