Teil 1 der Törnreportage mit der finnischen Hauptstadt Helsinki finden Sie hier!
Bei überwiegend südwestlichen Winden und einer Distanz von 42 Seemeilen ist der Kurs nach Estland und seiner Hauptstadt Tallinn in der Regel kein nautisches Hexenwerk. Doch Vorsicht ist geboten: Das Wetter sollte stets aufmerksam beobachtet werden. Unterwegs gibt es keine Landabdeckung, und wenn Tiefdruckgebiete mit kräftigen Böen durchziehen, kann sich die See schnell steil und unangenehm aufbauen.
Der Finnische Meerbusen war über Jahrhunderte eine wichtige Handelsroute – und auch heute kreuzen hier zahlreiche Fähren, Container- und Tankerschiffe. Schon nach wenigen Meilen zeichnet sich am Horizont das flache Profil der estnischen Küste ab. Sie erstreckt sich über rund 250 Seemeilen von der russischen Grenze im Osten bis hinunter nach Lettland im Süden.
Vor der Westküste liegen mehrere große und kleine Inseln, die ein zum Teil geschlossenes, geschütztes Revier bilden – beinahe binnenartig. Die nördliche Küstenlinie hingegen ist bewaldet und geprägt von Sand- und Steinstränden. Für Yachten mit viel Tiefgang gibt es hier allerdings nur wenige sichere Ankermöglichkeiten, die Wassertiefen reichen meist nicht aus.
Als nächste Landmarke erkennen wir das Leuchtfeuer auf der Insel Naissaar. Von hier sind es nur noch wenige Meilen bis Tallinn – direkt hinein in die Old City Marina. Der moderne Hafen liegt unmittelbar an der Altstadt, rundherum wird an modernen Bürogebäuden und Apartments gebaut. Gut geschützt vor Wind und Wellen bietet er einen sicheren Liegeplatz.
Nur wenige Schritte trennen Hafen und Altstadt – schon sind wir mittendrin in einer Hauptstadt, die auf faszinierende Weise Mittelalter und Moderne verbindet. Die Altstadt von Tallinn, UNESCO-Welterbe, verzaubert mit hanseatischen Giebelhäusern, gepflasterten Gassen, gotischen Kirchen und bunten Kaufmannshäusern. Rund um den Rathausplatz entfaltet sich eine bilderbuchhafte Atmosphäre – hier steht auch das älteste Rathaus Nordeuropas.
Vom Rathausplatz sind es nur wenige Schritte hinauf zur Alexander-Newski-Kathedrale. Ihre Zwiebeltürme glänzen in russisch-orthodoxer Pracht, während die Aussichtspunkte auf dem Domberg einen atemberaubenden Blick über Stadt und Meer eröffnen. Hier thront auch das Toompea-Schloss, das über Jahrhunderte Sitz wechselnder Machthaber war – von Ordensrittern bis zur Zarenzeit. Heute tagt hier das estnische Parlament, der Riigikogu.
Wer Kunst und Kultur liebt, besucht das KUMU, das moderne Kunstmuseum Estlands, oder das kreative Viertel Telliskivi. Hier treffen Streetart, kleine Boutiquen und Cafés auf alte Industriekulissen. Direkt daneben liegt das alternative Fotomuseum Fotografiska mit spannenden Wechselausstellungen und einem Restaurant auf dem Dach.
Die Altstadt erzählt vom mittelalterlichen Erbe – mit Türmen, Mauern und Gassen, die Geschichten aus längst vergangenen Jahrhunderten bewahren. Und doch sind es von hier aus nur wenige Schritte bis ins pulsierende Herz einer jungen, digitalen Metropole. Zwischen Start-ups, Designläden, französischen Cafés und Streetfood-Märkten zeigt sich Tallinn weltoffen und experimentierfreudig.
„Hier tragen Leute Sneaker zum Anzug und reden über Ideen statt nur über Umsätze“, erklärt uns Mati Rabane, 21 Jahre alt. Er kellnert in einem der schicken italienischen Restaurants – doch im richtigen Leben studiert er Marketing und Kommunikation an der Tallinn University.
Nach Feierabend übernimmt er die Rolle des Stadtführers und zeigt uns „sein“ Tallinn: kreative Viertel wie Kalamaja oder Telliskivi mit Ateliers, Secondhand-Läden, Mikrobrauereien und urbaner Kulinarik. Tallinn ist kompakt, grün, schnell zu Fuß erkundet – oder natürlich mit den App-gesteuerten E-Rollern, die an fast jeder Ecke bereitstehen.
Einst U-Boot-Werk, heute angesagte Kulturküste: Im Norden Tallinns besichtigen wir Noblessner – ein ehemaliges Industrie- und Hafenareal, das sich in den vergangenen Jahren zu einem der spannendsten Stadtviertel der estnischen Hauptstadt entwickelt hat.
Wo einst Kriegsschiffe gebaut wurden, treffen heute maritimer Charme, kreative Energie und urbaner Lifestyle aufeinander. Die historischen Fabrikhallen wurden modernisiert und beherbergen heute unter anderem ein innovatives Kunstzentrum, trendige Galerien, das PROTO-Erfinderfabrik-Museum sowie eine Craft-Brauerei mit Pub.
Auch für Skipper ist Noblessner interessant, eine moderne Marina liegt zwischen dem Minen- und dem Wasserflugzeughafen, geschützt durch einen neuen 70-Meter-Wellenbrecher. Vier Schwimmstege bieten 30 Plätze für Gäste. In den kommenden Jahren soll die Kapazität auf mehr als 200 Liegeplätze erweitert werden (Hafenmeister +372 5688 882, port@noblessner.ee).
Dank EU-Fördermitteln wurde in Estland in den vergangenen Jahren stark in die maritime Infrastruktur investiert. Im Vergleich zu den anderen baltischen Staaten verfügt das Land über eine große Zahl an Häfen, besonders entlang der Westküste und auf der Insel Saaremaa. Viele Marinas sind modern ausgestattet und bieten einen hohen Standard – bei Hafengebühren, die deutlich unter dem Niveau in Deutschland oder Dänemark liegen.
Eine weitere Marina bei Tallinn ist der Port of Kalev Yacht Club in Pirita östlich des Stadtzentrums, nur etwa zehn Minuten mit dem Bus. Der Hafen ist ein Ort mit sporthistorischer Bedeutung: 1980 war Pirita Austragungsort der olympischen Segelwettbewerbe – damals noch in der Zeit, als Estland Sowjetrepublik war. Der Hafen mit großem Gästesteg ist etwas in die Jahre gekommen, verfügt aber über eine sehr gute Infrastruktur: Ersatzteile für Yachten, Boote und Motoren sowie Funktionsbekleidung und nautische Ausrüstung. Auch kleinere Wartungsund Reparaturarbeiten können direkt im Hafen durchgeführt werden.
Wir sind inzwischen mit Mati auf den alten Burgmauern angekommen, der Blick geht nach Norden, über den Finnischen Meerbusen. Zum Greifen nah liegt das finnische Festland – für die Eltern unseres jungen Begleiters war das zu Sowjetzeiten ein unerreichbarer Ort. Der Junior hingegen war schon oft in Helsinki, das mit Schnellfähre nur rund zwei Stunden entfernt ist. Doch auswandern möchte er nicht.
„Meine Stadt ist wie ein Stehaufmännchen im Laufe der Jahrhunderte. Beherrscht von Dänen, Deutschen, Schweden und Russen – aber jetzt haben wir endlich die Chance, selbst mitzugestalten!“ Während unten in der Stadt noch ausgelassen gefeiert wird, sinken wir hundemüde in unsere Kojen – mit der glücklichen Erkenntnis, in einem Europa der Vielfalt zu leben. Und das auf beiden Seiten des Finnischen Meerbusens nicht etwa Angst vor dem Nachbarn im Osten dominiert, sondern Gelassenheit, Lebensfreude und Aufbruchsstimmung.
Teil 1 der Törnreportage mit der finnischen Hauptstadt Helsinki finden Sie hier!
Die beste Zeit ist die der „weißen Nächte“ von Mitte Mai bis Ende Juli – dann wird es nur für wenige Stunden dunkel, das Klima ist gemäßigt mit wenig Regen und einer maximalen Temperatur von 26° C. Finnland hat heiße Sommer und sehr kalte Winter. Der Wind weht im Sommer schwach bis mäßig, Starkwind ist selten. Auch in Tallinn ist es zwischen Juni und August mit Temperaturen zwischen 18 und 22° C am wärmsten bei nur geringem Niederschlag. Das Revier nördliches Estland hat meist moderate Südwestwinde zwischen 5 und 20 Knoten.
Finnland und Estland sind Mitglieder der EU, die Einreise ist für EU-Bürger problemlos; in beiden Ländern wird mit Euro bezahlt, fast überall mit Kreditkarten.
Der Finnische Meerbusen ist Teil der Ostsee und bildet die natürliche Grenze zwischen Finnland und Estland. Im Westen liegt die offene Ostsee, im Osten Russland (Sankt Petersburg). Die See kann sich hier sehr schnell aufbauen – ohne schützende Küste sollten Crews darauf stets vorbereitet sein. Besonders im Frühjahr und Spätsommer tritt häufig Nebel auf, der am Morgen die Sicht stark einschränken kann.
NV Charts Pilot 1, „Planungskarte Ostsee – Kristiansand bis Helsinki“, Finnische Bootsportkarten A, Hafenhandbuch „The Gulf of Finland/Suuri Satamakirja III“ – über 170 Häfen von Hanko bis Virolahti sowie ausgewählte estnische Küstenregionen. NV Charts Baltic Serie 6, „Polen – Litauen – Lettland, Tallinn and Approaches“, Charts of Estonia 3. Alle Karten und Handbücher bei hansenautic.de
„Mare Balticum, Ostseelandschaften unter Segeln“, Nico Krauss, Delius Klasing 2024