Auch für den letzten Tag des Wochenendes ist strahlendes Wetter vorhergesagt, schwachwindig und ohne Wolken, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit der beste Tag der ganzen Reise. Doch als ich gegen fünf Uhr im Halbschlaf durch das Rumpffenster schaue, sehe ich nur grau. Noch vom Schlaf umnebelt, denke ich: “Mist, doch bewölkt.” Erst als dann später der Wecker klingelt, merke ich: Die nahe Granitwand hat mir einen verhangenen Himmel vorgegaukelt.
Tatsächlich brät die Sonne schon, als ich um kurz nach neun an Deck komme. Ein Bad wäre verlockend, aber dafür wird es später sicher noch Gelegenheit geben. Um kurz nach zehn schließlich rütteln wir unseren Felsenhaken frei, holen das Dingi an Bord und lösen auch die restlichen Leinen. Tagesziel sind die knapp 16 Seemeilen südlich liegenden Väderöarna.
Was uns dort erwarten wird, wissen wir allerdings nicht. Einmal um die Ostseite von Ursholmen herum gehen wir auf Südkurs, der nächste Wegpunkt ist schon zu erkennen: der rund vier Seemeilen entfernte Leuchtturm von Ramskär. Ein Seehund nimmt uns näher in Augenschein. Ein zweiter Kopf entpuppt sich dagegen kurz darauf als verlorener Fender. Näher zum Festland zieht ein großes Rib mit mindestens 40 Knoten vorbei. Eine Flottille aus drei norwegischen Motoryachten ist in perfekter Kiellinie auf Gegenkurs unterwegs, der direkte Weg zum Oslofjord.
Auch das wäre vor wenigen Tagen wegen des Wetters völlig unmöglich gewesen. Aus der Distanz verschmelzen die Schären vor der Küste mit dem höher gelegenen, bewaldeten Land dahinter und erzeugen den Eindruck einer durchgehenden Steilküste. Bald wird der Leuchtturm passiert, dessen kleiner Archipel von Möwen, Kormoranen und sonnenbadenden Seehunden bevölkert wird.
Väderöarna – die Wetterinseln – sind der westlichste Außenposten Schwedens. Ein Leuchtfeuer wie auf Nordkoster und Ursholmen gibt es hier zwar nicht, dafür aber einen alten Aussichtsturm auf Ramnö, dem kleineren südlichen Teil der Doppelinsel. Am Übergang zur größeren, nördlichen Hälfte Storö liegen gut geschützt die drei Naturhäfen mit allen Gebäuden der alten Lotsensiedlung. Außerdem gibt es Plätze am Fels im schmalen Strömsund, der Storö im Nordwesten von der Insel Stora Hejen trennt – unsere Ausweichoption, falls es mit dem angepeilten Östra Hamnen nicht klappen sollte.
Denn eins wird schnell deutlich, als wir uns von Norden nähern: Wir müssen die Popularität der Väderöarna unterschätzt haben. Mit uns halten noch zwei weitere Segelyachten auf die Zufahrt zu. Überall sind auch hier draußen nun schon Boote am Felsen zu erkennen, und eine dichte Reihe von Mastspitzen zeigt, dass auch der Strömsund bereits gut besucht zu sein scheint. Klar, es ist Sonntag, dazu mit Traumwetter, aber die Szenerie, die uns erwartet, als wir die letzten Felsen runden und den Hafen erreichen, verschlägt uns fast die Sprache.
Dutzende Boote mit und ohne Mast liegen an den Felsen rund um den Bredbogen, die zentrale Bucht, die mit ihrer Holzpier als Anleger für die Ausflugsdampfer dient. Drei davon sind gerade hier, schnelle Schiffe mit breitem Heck für möglichst große Stabilität bei Überfahrten mit schwerem Wetter.
Im Wasser und am Wasser ist alles voller Menschen, Schwimmer und Stand-up-Paddler, Sonnenbadende auf den warmen Felsen und Schattensuchende unter den knallblauen Pripps-Blå-Schirmen auf der Terrasse vor dem “Värdshus”. Von der Pier springen die Kinder zur Abkühlung ins klare Wasser, die Erwachsenen greifen dafür in die Kühlbox. Jeden Vergleich mit Ursholmen kann man gleich vergessen, das hier ist mehrere Nummern größer, wir haben voll ins Schwarze getroffen.
Die Sache hat nur einen Haken: Noch haben wir keinen Liegeplatz. Die schmale und beidseitig von Beton flankierte Einfahrt zum Östra Hamnen erinnert an ein Schleusentor, auch die grüne Ampel links davon. Drinnen sieht man die Yachten schon im Zweierpäckchen liegen, die Fahrrinne neben ihnen ist aber noch ausreichend breit – zumal bei diesen Badewannenverhältnissen auch auf engem Raum sicher manövriert werden kann. Und grün bedeutet schließlich grün, oder?
Also los – und siehe da, hinten ums Eck ist noch ein Platz frei längsseits an einem älteren Kajütboot mit einem netten jungen Pärchen aus Norwegen an Bord, das sofort unsere Leinen annimmt. Wie wir erfahren, ist es heute sogar leer, verglichen mit anderen Tagen: „Dann liegen die Päckchen über die gesamte Breite“, erklärt Lina. Das funktioniere nur, weil um zehn Uhr am nächsten Morgen alle gemeinsam wieder ablegen und den Hafen verlassen müssten. Wer bleiben wolle, könne danach wieder einlaufen. Warum die Väderöarna so beliebt sind? „Weil es der schönste Ort in Schweden ist“, sagt sie, als wenn keine andere Antwort denkbar wäre. Nach dem, was wir bis jetzt gesehen haben, könnte sie recht haben …
Jedenfalls verschwende ich keine Zeit, die Insel zu erkunden, die immerhin etwa anderthalb Kilometer lang ist – ohne, dass es richtige Wege gäbe. Auch die Väderöarna sind Naturreservat, ein kleines Stück rund um die Häfen ist aber ausgenommen.
Der Pfad führt zunächst zum Västra Hamnen, wo die Felsen sanft zum Ufer hin abfallen. Die Farben des Steins, das klare, tiefblaue Wasser und zwei Segelyachten, die bewegungslos über ihren Ankern schweben, ergeben eine mediterrane Szenerie. Nur, dass die zahlreichen Stimmen nordisch klingen – wobei das am Mittelmeer natürlich auch nur vom Urlaubsort abhängt.
Weiter geht es nun etwas höher über die Felsen, die geädert und gemustert sind wie auf Ursholmen und von Flechten in Hellgrün und Weiß bemalt. Gräser und Sträucher wachsen aus Rissen und Gräben, in kleinen Tümpeln steht sogar Schilf. Dazwischen breiten sich trockene Teppiche aus dunkelroter Heide. Der Weg, mit Pflöcken gekennzeichnet, durchquert ein mit mannshohem Buschwerk bestandenes Tal, in seiner Mitte eine Kreuzung. Die Pfeile des ausgeblichenen Wegweisers führen zum Kompassberget, zur Kyrkan und zur Grottan, und zum Hafen – die Richtung, aus der ich komme.
Mein Weg führt wieder heraus aus dem Tal und über felsige Wellen im Gelände, dann blicke ich hinab auf den Strömsund. Auf einer Länge von etwa 200 Metern liegen hier, im Schutz des steinernen Riegels der Insel Stora Hejen, rund zwei Dutzend Fahrtenyachten einzeln längsseits am Stein und in Zweier- und Dreierpäckchen an den Holzstegen. Auch hier sind Dingis unterwegs, und es wird gebadet. Was für eine Insel für Bootsleute!
Würde ich noch weiter nach Norden wandern, käme ich zu einer alten Kirche, zu einer Höhle und zum Näckhöljen, dem größten See der Väderöarna. Doch ich habe noch einen zweiten Ort, den ich besuchen muss: den Lotsenturm auf Ramnö. Zuerst erklimme ich auf dem Weg dorthin den Kompassberget. An seiner Spitze haben frühere Seefahrer vor langer Zeit zwei Kompassrosen in den Stein gemeißelt.
Dann hinunter in die Siedlung, wo schon die Terrasse des Cafés mit dem Schatten der blauen Sonnenschirme lockt. Vorbei am Restaurant, das aber erst um 18 Uhr öffnet, und dann die Stufen zum Lotsutkiken hinauf, einem Gerüst aus vier mächtigen Stahlstreben, komplett verkleideter Leiter und mit einer winzigen rot gestrichenen Hütte obenauf, umgeben von einer Galerie.
Hier haben die Lotsen also Ausschau gehalten in Zeiten, als es noch keinen Funk gab. Zusammen mit dem weitaus höheren Gittermast mit Radar- und Fernmeldeantennen im Tal nebenan bildet der archaische Turm ein so ungleiches wie markantes Paar. Die Aussicht von hier ist tatsächlich grandios, kein Segel bleibt verborgen. Auf dem Rückweg zum Boot fällt mir dann noch ein Schild am Värdshus auf: andas in … andas ut … njut … – einatmen, ausatmen, genießen!
Zurück an Bord kommt der Fotorucksack runter, dafür wird das Handtuch unter den Arm geklemmt. Hut und Sonnenbrille auf und ab zur Badestelle am Hafen! Ein Selfie dokumentiert, dass dieser Tag ein entspanntes Ende hat. Das Wasser ist wie gestern – herrlich. Gerade getrocknet, wartet der Skipper schon im Café, zwei Pripps Blå stehen auf dem Holztisch.
Keine Frage, es ist der Höhepunkt der Reise. Und diese Insel wäre uns fast durch die Lappen gegangen – eigentlich hatten wir für diese Tage die Inseln des Ytre-Hvaler-Nationalparks auf der norwegischen Seite der Seegrenze vorgesehen. Selten war ich froher über eine spontane Planänderung. Am Abend gönnen wir uns im Restaurant dann die „Symfonie“. Nicht billig dieses Geschmackskonzert des Meeres mit 360 Kronen, aber exzellent. Und dieser Moment unter weißem Sonnensegel im tief stehenden Licht ist es wert.
So ein Tag fordert einen gebührenden Ausklang: Zum Sonnenuntergang sitzen wir noch einmal oben beim Lotsenturm mit vielen anderen Fernsüchtigen und verfolgen das fantastische Farbenspiel der untergehenden Sonne – mit großer Andacht. Aber auch mit einem Lächeln im Gesicht.