Das hier ist eindeutig eine Sackgasse, wenngleich eine der schönsten, die man sich vorstellen kann: Voraus liegt steil und hoch der graue Fels und an Backbord eine bis zum Himmel aufragende Wand aus Granit und Gneis. Nur nach Steuerbord öffnen sich die glatt polierten Felsen zu einem Flusstal, an dessen Mündung etwas grüne Wiese leuchtet, ein paar belaubte Bäume stehen und dazu einige Häuser mit Schieferdach und dicken Holzbrettern verkleidet, hell leuchtend durch den weißen Anstrich. Es ist das Dörfchen Eidfjord, vor Jahrhunderten am gleichnamigen Fjord erbaut.
Die Betonmole, an die ich mein Boot binde, ist winzig; überhaupt wirkt hier alles klein und bedeutungslos im Schatten der monumentalen Berge in dem östlichsten Winkel des norwegischen Hardangerfjordes. Was mache ich nur hier irgendwo im Nirgendwo? Ich hole einen Segelfreund vom Bus ab.
Überall gibt es spannende Aussichten auf Berge, Gletscher und Wasserfälle. Das Revier überrascht und wird nie langweilig
Die Reichsstraße No. 7 schlängelt sich kilometerlang direkt zu Füßen der Steilhänge am Fjord entlang, und so ist der rot-weiße Bus, in dem mein neuer Pax sitzt, schon von Weitem sichtbar, wie er Richtung Eidfjord kurvt. Minuten später steht er tatsächlich auf der Pier, mit kleinem Gepäck und großem Geschenk von hoher Liquidität für den Skipper, das wir sogleich zum gemeinsamen Anstoßen nutzen: „Skål Timo og velkommen til Hardangerfjord!“
Timo Lantzsch ist für eine Woche mein Mitsegler auf dem weltweit drittlängsten Fjord und hierfür aus dem südnorwegischen Risør angereist. Der Bootsbaumeister aus Fehmarn und mit kleiner Werft in Kappeln an der Schlei macht im Sommer gern lange Törns mit seinem hölzernen Folkeboot, zum wiederholten Male ist er von Schleimünde aus zum Holzbootfestival in Risør gesegelt. Mit einem knapp acht Meter langen Boot ohne selbstlenzendes Cockpit keine Kaffeesegelei, weshalb er auch den Langfahrtpreis 2023 vom Freundeskreis Klassische Yachten erhalten hat.
Nun möchte er sich eine Woche lang von den Strapazen des Skagerraks erholen und mit mir zusammen Fjorde, Berge und Wasserfälle erkunden: von Eidfjord bis zur Westküste nach Haugesund. Der Törn erscheint mit etwa 100 Seemeilen in einer Woche für Fahrtensegler unseres Kalibers etwas unterdimensioniert, wären da nicht die zahlreichen naturgegebenen Schönheiten beidseits des Kurses.
„Wie viel Aktivität vertragen wir?“, frage ich Timo am nächsten Morgen bei Kaffee im Cockpit, der als Antwort nur ein Achselzucken parat hat. Verständlich, wo sollen wir bei der Vielzahl an Möglichkeiten anfangen? Nur wenige Kilometer vom Liegeplatz in Eidfjord entfernt stürzen die Wassermassen des Wasserfalls Vøringsfossen 182 Meter in die Tiefe, um die Ecke im Sørfjorden ragt spektakulär das Felsplateau von Trolltunga in luftiger Höhe über das Tal, und auf der anderen Seite des Fjordes zeigt der eis- und schneebedeckte Gletscher Folgefonna seinen weißen Buckel. Weiter westlich im Ytre Samlafjorden, der geografischen Mitte des Hardangerfjordes, geht es mit den Naturwundern weiter, dort ist die Bucht von Norheimsund und die Heimat einer Museumswerft sowie ein weiterer berühmter Wasserfall, der Steinsdalfossen.
Wir fühlen uns wie kleine Kinder, die zum ersten Mal in einem gigantischen Freizeitpark stehen und sich nicht zwischen Achterbahn, Riesenrutsche und Zuckerwatte entscheiden können.
Wir fühlen uns wie kleine Kinder, die zum ersten Mal in einem gigantischen Freizeitpark stehen und sich nicht zwischen Achterbahn, Riesenrutsche und Zuckerwatte entscheiden können. Wir wählen zunächst die geografisch naheliegendste Möglichkeit, laufen die knapp 300 Meter durchs Dorf und landen im „Kafé og Kremmeri“, schlagen uns den Bauch voll mit köstlichem selbst gebackenen Kuchen und genießen von einem Barista zubereiteten Espresso. Auch dieser Ort gehört im Grunde schon zu den Wundern des Hardangerfjordes, denn wer erwartet schon eine erlesene Patisserie in der nordisch-kargen Fjelllandschaft am Ende eines Meeresarmes?
„Leinen los und raus auf den Fjord“, ruft Timo, die Entscheidung für eine Stippvisite in den Sørfjorden ist gefallen. Und weg sind wir, bevor die großen Kreuzfahrtschiffe den Blick auf die Landschaft versperren und ihre Fracht von Tausenden selfiesüchtigen Sehleuten im kleinen Ort löschen.
Von der Mitte des Fjordes sehen die Felswände und Gesteinsbrocken noch gigantischer aus, dazu spiegeln sich jetzt im dunklen Wasser die weißen Wolken vom Himmel. Die Tücher sind nun alle oben, doch hier unten in der aus Gletschern gefrästen Wasserfurche weht kaum ein Lüftchen. Der Wetterbericht hat uns deutlich mehr versprochen.
„Segeln im Fjord ist durchaus möglich. Die Großwetterlage bringt gewisse Voraussetzungen, allerdings ist die Windrichtung schwer vorherzusagen, und auch bei der Windstärke liegen die meteorologischen Modelle meist daneben“, wird uns später Ragnar von der Hafencrew in Norheimsund in bestem Englisch erklären. „Die lokalen geomorphen Besonderheiten sind zu variantenreich, um die Wetterlage eines Mikrorevieres zu definieren.“
Aha, klingt doch irgendwie logisch, doch sicherheitshalber frage ich nach: „Es kommt also, wie es kommt?“ Ragnar bestätigt mit einem kurzen Nicken. Er hat einige Semester Meteorologie und Ozeanografie in Oslo studiert, ist dann aber bei einem Ferienjob hier hängen geblieben. Die Illusion eines vorhersagbaren norwegischen Windgenerators ist uns spätestens jetzt genommen worden.
Nachdem wir einige Zeit keinen Zentimeter vorangetrieben sind, wird die Maschine gestartet, und der Takt der hämmernden Kolben hallt von den Felswänden wider. „Falls es hier Elfen gibt, sind die nun alle wach oder taub“, kommentiert Timo das Dieselkonzert, während wir sanft in den Sørfjorden geschoben werden. Wir können unseren Augen kaum trauen, entlang der Flanken des Fjordes sehen wir riesige Obstplantagen! Ein Anblick, der am Bodensee keine besondere Beachtung findet, hier im hohen Norden und nur wenige Kilometer vom eisigen Gletscher des Jostedalsbreen aber – zumindest bei uns – für große Verwunderung sorgt. „Wir haben das Beste aus zwei Welten“, erklärt Olav Bleie. „Einen milden Winter durch das östliche Binnenklima, und die Regenschauer aus dem Westen werden von den Bergen gestoppt.“
Bleie ist Apfelanbauer in der Nähe von Lofthus, seit 1864 bewirtschaftet seine Familie einen Apfelhof. Aus dem Obst wird dann der weltweit exklusivste Apfelschaumwein und Apfelsaft gewonnen. Der Cider ist quasi der Champagner der Fjorde. „Wir haben ein Mikroklima, das die Äpfel lieben“, freut sich der Obstbauer. Doch neben den Äpfeln sind es auch die Touristen aus dem eigenen Land und der ganzen Welt, die sich für die gemäßigten Temperaturen in dieser Region begeistern.
Unser Zwischenstopp in Lofthus am Sørfjorden wird noch mit einer Cidre-Verköstigung begossen, am nächsten Tag kreuzen wir dann auf dem Indre Samlafjorden nach Westen, das Gewässer bietet genug Fläche für längere Schläge. Jetzt wollen wir nach Norheimsund, der Ort ist bekannt für seine große Museumswerft mit Workshops für das traditionelle Bootsbauhandwerk und Festivals mit klassischen Yachten.
Die große Bucht vor der Stadt ist bestens geschützt durch eine vorgelagerte Insel und bietet guten Ankergrund, auch an den Liegeplätzen in der komfortablen Marina sind die Yachten sicher bei allen Windrichtungen. Weiße Holzhäuser, grüner Rasen und rote Rosen sind eine schöne Abwechslung in der ansonsten granitgrau geprägten Landschaft. Ein paar Kilometer im Landesinneren stürzt sich der Steinsdalfossen das Fjell hinab, der Clou hier ist der Pfad zwischen Felsen und Wassermassen, die uns einen spektakulären Einblick hinter die Wassersäule gewähren.
Wir haben in Fjord-Norwegen auf wenigen Meilen schon einiges gesehen, was aber auf unserer Wunschliste eindeutig noch fehlt: „Ein Gletscher!“ Timo drängelt schon ungeduldig seit seiner Ankunft, dass er hinauf ins Fjell möchte, nah an einen Gletscher, bevor die menschengemachte Klimaerwärmung das letzte uralte Eis von den Bergen schmilzt. Die mächtigen Eiskuppen des Folgefonna-Gletschers haben wir auf unserem Fjordtörn schon seit Tagen vor Augen, weithin sichtbar liegen sie eingebettet auf der Plattform der Folgefonna-Halbinsel. Es führen viele Wege vom Hardangerfjord zum norwegischen Festlandeis, wir nehmen Kurs auf den Maurangerfjord und machen in Sundal fest, einem kleinem Ort mit Campingplatz, Kaianlage und Schwimmsteg. Die Saison hier oben währt nur kurz, das rechtfertigt die einfache Ausstattung der maritimen Anlagen. Und was brauchen Fahrtensegler in Norwegen außer Trinkwasser, Elektrizität und ab und zu einer warmen Dusche? Wir sind wegen der grandiosen Naturerfahrung gekommen und nicht, um in schicken Marinas ins Nachbarcockpit zu glotzen.
Wir sind wegen der grandiosen Naturerfahrung gekommen und nicht, um in schicken Marinas ins Nachbarcockpit zu glotzen.
„Da geht’s lang“, ruft Timo und deutet das Bondhusdalen-Tal hinauf, direkt hinter unserer Mastspitze ist die Gletscherzunge des Folgefonna sichtbar. Wir machen uns klar für die Tour, ziehen Wanderschuhe an und schultern den Rucksack. Dann endlich geht es hinauf auf dem alten „Eisweg“ von 1863, auf dem die Eisbrocken vom Gletscher mit Pferd und Kutsche zum Fjord hinuntergebracht und bis ins Ausland exportiert wurden. Wo einst das Eis des Folgefonna endete, ist heute der große eiskalte Bergsee Bondhusvatnet. Bis hierher zu kraxeln ist noch ein Kinderspiel ohne Wadenkrampf und Muskelkater. Doch wer weiter hinauf und über den Gletscher wandern möchte, sollte sich einer Seilschaft anschließen und zusammen mit Bergführern die historische Wanderroute von Sundal nach Odda begehen, über Norwegens drittgrößten Festlandsgletscher.
Wir drehen hier um und laufen zurück hinunter zum Boot. „Wir sind verdammt weit weg vom Heimathafen, haben viel schlechtes Wetter und oft Gegenwind oder gar keinen, zahlen für ein Bier zehn Euro und liegen in kleinen Häfen mit viel Schwell. Ist dieser Törn die reine Unvernunft oder der Hauptgewinn für eine unvergessliche Reise?“, resümiere ich. Timo schaut hinunter auf den grau-blauen Fjord und über die eiszeitlich geformten glatten Felsen und antwortet: „Es ist der Jackpot.“
Weniger durch die Eiszeitkräfte geformt als von menschlicher Muse und Gestaltungsdrang geprägt, präsentieren sich etwa 15 Seemeilen südwestlich die Region und das Dorf Rosendal. Die Felswände des Fjells, die den Folgefonna-Gletscher wie in einer Umarmung halten, fallen hier steil ab und eröffnen eine weite offene Landschaft, in der auch der Fjord jetzt eine andere Gestalt offenbart und mit kleinen Inseln, Buchten und guten Ankergründen den Wassersportler willkommen heißt.
Das beschauliche Dorf beherbergt Skandinaviens kleinstes Schloss – die Baronie Rosendal aus dem Jahre 1665 mit prachtvollem Renaissancegarten, berühmt für seine vielen Rosen. Und nach kalten Tagen auf dem Fjord kann sich die menschliche Seele hier wieder erwärmen, denn Rosendal bietet im Sommer ein beachtliches Kulturprogramm mit Konzerten, Burghoftheater und Kunstausstellungen.
Ein Wochentörn Hardangerfjord liegt jetzt im Kielwasser. Wir segeln nach Westen, und die Welle wird spürbar länger. Der Wind strotzt vor Kraft, und die Spray, die auf die Lippen fliegt, ist würzig wie Salzlake: Wir spüren und schmecken jetzt den Atlantik. Unweit der Einfahrt zum Hardangerfjord liegt die alte Handels- und Werftstadt Haugesund mit prächtigen weißen Holzhäusern und einer reichhaltigen Historie von Wikingern, Königen und Reichsgründern. Doch das ist eine andere Geschichte, denn diese Reise endet nun so wie jede Begegnung irgendwann: mit einem Abschied. Timo steigt in den Bus nach Risør, er fährt zurück zu seinem Folkeboot. Mein Boot und ich werden noch ein paar Meilen an der norwegischen Westküste bleiben. Nahe den Fjorden, denn nirgendwo könnte es jetzt schöner sein.
Mit der eigenen Yacht von Kiel–Kristiansand–Stavanger–Rosendal ca. 260 Seemeilen. Bareboatcharter ist in Norwegen eine Rarität und kostspielig. Scansail z. B. vermittelt eine kleine Auswahl an Yachten ab Stavanger oder Bergen; meist mit Skipper, ab ca. 4.000 Euro/Woche. SCANSAIL.COM/DE
Dank des Golfstroms herrscht in Norwegen ein wärmeres Klima als in anderen Orten gleichen Breitengrades wie beispielsweise Alaska oder Sibirien. Was noch keine tropische Wärme bedeutet: Die Durchschnittstemperaturen von Juni bis August liegen bei 16 Grad Celsius, natürlich gibt es auch sonnige Tage mit Temperaturen um 25 Grad Celsius. Selbst im Sommer kann das Wetter schnell umschlagen und Wind und Regen bringen, Letzteres geschieht statistisch an sechs Tagen während der Sommermonate. Die Wassertemperatur liegt im Sommer zwischen 13 und 18 Grad Celsius. Der Wind weht meist mäßig bis frisch, in den inneren Fjorden kommt es zu Flauten.
Marinas, Anleger und Häfen sind oftmals Schwimmstege, die nur in den Sommermonaten ausgebracht werden, und kommunale Kaianlagen oder Fähranleger. Dabei darf man auf alles vorbereitet sein: Festmachen an Heckbojen, in Boxen, längsseits an Stegen oder rustikalen Molen. Ankern ist im Fjord an einigen wenigen Stellen möglich, am besten in Mündungsgebieten von Flüssen oder zwischen Inseln und in Buchten. Schnellfähren und Freizeitboote verursachen Schwell, der sich an den engen Fahrwassern aufschaukeln kann. Umsicht ist geboten bei Liegeplätzen am Felsen und vor Anker, auch Fallwinde und Düseneffekte sind möglich. Zur Ausrüstung gehören Heckanker, Fenderbrett, große Kugelfender, extralange Leinen zum Festmachen an Felshaken und Keile. Die Fahrwasser sind klar betonnt und Untiefen gekennzeichnet, ansonsten herrschen ausreichende Wassertiefen. Die Welle kann sich bei heftigem Wind besonders in engen Passagen ungemütlich aufbauen, der Tidenstrom ist zu vernachlässigen, der Hub liegt bei ca. 0,5 Metern. Mobilfunk ist fast im gesamten Revier gut abgedeckt.