Martin Finkbeiner
· 18.07.2022
Vor über einem Jahr segelten Finkbeiners über den Atlantik. Die Saison verbrachten sie in der Karibik – und stehen nun vor einer tiefgreifenden Entscheidung
Das perfekte Boot gibt es bekanntermaßen nicht. Lebensraum geht häufig zulasten der Segeleigenschaften, und ein Schiff für die Tropen ist oftmals nur bedingt ideal für die hohen Breiten und umgekehrt. Wenig Tiefgang und ein großes Cockpit sind toll am Anker, jedoch nicht unbedingt bei 40 Knoten Wind und vier Meter Welle auf hoher See.
Dass wir Segeleigenschaften zugunsten von Lebensraum opfern, ist uns beim Verkauf unserer "Aracanga" und beim Kauf der "Snowgoose", eines 37-Fuß-Katamarans von Prout, klar. Aber dass 30 Fuß mit Kleinkind auf Dauer zu eng sind, ist uns auch klar geworden. Die Prout gilt als sehr hochseetüchtig und sicher, was in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Reisen rund um den Globus bewiesen wurde. Also warum nicht ein Katamaran?
Wir kratzen all unser Erspartes zusammen, müssen uns etwas Geld von der Familie leihen und starten in ein neues Abenteuer, das zur selben Zeit auch einen neuen Lebensabschnitt für uns bedeutet: Weg von der Reise, hin zum Lebensentwurf (auf Zeit). Das bisschen Geld, das wir noch auf der hohen Kante haben, fließt ins Boot. Boot statt Haus, Mobilie statt Immobilie, Wasser statt Land. Wir sind glücklich mit unserer Entscheidung.
Das erste Jahr mit unserem neuen Zuhause soll uns durch die Karibik führen. Reviere wie die Bahamas klingen reizvoll. Das ideale Boot für dieses Flachwasserrevier haben wir jetzt; mit unseren 90 Zentimeter Tiefgang stehen uns Buchten und Ankerplätze offen, von denen wir bislang nur träumen konnten. Nach einigen Monaten Hurrikansaison, Bootsarbeit und Enttäuschungen, Freudenmomenten und einem Lockdown dürfen und können wir endlich ablegen.
An Grenadas Westküste nach Norden
Sobald die Ausgangsbeschränkungen es zulassen, sagen wir Goodbye zu unserem Ankerplatz vor Hog Island, wo wir ein halbes Jahr verbracht haben, und segeln langsam nach Norden. Für den Moment beschließen wir, in kurzen Etappen an der Westseite Grenadas zu segeln und einige Stopps auf dem Weg einzulegen.
Zunächst geht es nach St. George’s, der Hauptstadt Grenadas. Eine verklemmte Rollgenua macht die kurze Fahrt zur Motor- statt Segelpartie. Das Problem lässt sich schnell beheben, das Segel ist am falschen Fall gesetzt. Auch in den nächsten Tagen setzen wir kaum die Segel, da der Wind nur sehr schwach weht.
Nur wenige Meilen nördlich liegt der Underwater Sculpture Parc, an dem wir vor ein paar Monaten schon einmal waren. Hier stehen in wenigen Metern Wassertiefe lebensgroße Skulpturen verschiedener Künstler, die als Grundgerüst für ein neues Riff dienen sollen. Die spezielle Struktur der Oberfläche wird von den Polypen gern angenommen und man kann deutlich erkennen, dass aus Augen, Ohren und Nasen, auf Köpfen, Schultern und Armen neue Korallen wachsen. Es ist ein toller, magischer Ort, eine Symbiose aus Kunst und gelebtem Naturschutz. Und vor allem ist es ein kleiner Lichtblick, dass Anstrengungen wie der Skulpturenpark Früchte tragen.
Man bedenke, sollten wir nichts grundlegend und radikal ändern, sondern so weitermachen wie bisher, wird in den nächsten 30 Jahren der größte Teil aller Korallen weltweit gestorben sein. Als Familie mit einem und bald zwei kleinen Kindern ist diese Erkenntnis besonders schmerzlich. Den Kindern die Schönheit der Welt zu zeigen und ein möglichst breites Bewusstsein für genau diese zerbrechliche Schönheit zu schaffen ist ein Ziel unserer Reise.
Kurze Werbung am Rande: Aus diesem Grund und über dieses Thema haben wir in den letzten Jahren ein Kinderbuch geschrieben, eine fiktive Geschichte mit allzu wahrem Hintergrund über die spannende Reise eines Klabautermannes: "Elmo und das geraubte Blau".
Wir verbringen eine Nacht an einer der Bojen des Sculpture Parks und segeln am nächsten Tag wenige Meilen weiter. Das Ziel heißt Halifax Harbour, ein geschützter Naturhafen mit ein paar Wracks und schönen Stränden im Westen Grenadas. Der Anker fällt auf zweieinhalb Meter Wassertiefe in einer kleinen Bucht mit einem wunderschönen schwarzen Sandstrand. Wir fühlen uns wie im Urlaub. Es ist so schön, nach einem halben Jahr am selben Platz wieder unterwegs zu sein.
Von Halifax Harbour zieht es uns zu der unbewohnten Insel Ronde Island und weiter nach Carriacou. Die ersten Meilen sind rau mit viel Strömung und einer kurzen, steilen Welle gegenan. Je weiter wir uns jedoch von Ronde entfernen und Carriacou nähern, desto ruhiger wird es.
Carriacou
Carriacou ist ruhig und entspannt. Die Insel ist bekannt für ihre Riffe und das türkisfarbene Wasser, auf das wir uns so lange gefreut haben. Drei Tage sind wir hier und treffen eine gute Bekannte von uns: Die kleine, rote "Aracanga", unser altes Boot. Gemeinsam segeln wir um die Ecke nach Sandy Island, einer aus nicht viel mehr als Sandstrand und ein paar Palmen bestehenden Insel. Sandy Island ist das, was man sich unter Karibikkitsch vorstellt: eine flache Insel mit weißem Strand auf der einen und einem wunderschönen Korallenriff auf der anderen Seite. Hinter dem Strand wachsen einige Kokospalmen, das Wasser schimmert in hellem Türkis und Pelikane, Seeadler und Fregattvögel ziehen ihre Kreise und stürzen sich auf der Jagd nach Fisch ins Meer.
Das ganze Gebiet um Sandy Island und Sister Rock ist Meeresschutzgebiet, das heißt, dass weder gefischt oder harpuniert noch geankert werden darf. Auf der Leeseite der Insel sind ein paar Bojen ausgebracht, an denen wir festmachen und bleiben dürfen. Wir verbringen etwa eine Woche an einer Boje vor Sandy Island und genießen es, zu schwimmen und zu schnorcheln, abends am Strand ein Feuer zu machen, Brot über der Glut zu backen und zu grillen, wir feiern Geburtstag am Strand und sammeln leider auch jeden Tag eine Tüte voller Müll auf der kleinen Insel ein. Zum Teil Angeschwemmtes, zum großen Teil Liegengelassenes. Umweltschutz ist noch bei Weitem nicht in allen Köpfen angekommen.
Mittlerweile ist es nicht mehr zu übersehen, dass Kira in ein paar Monaten ein Geschwisterchen bekommen wird. Wir müssen für einen Check-up noch einmal zurück nach Grenada. Von Sandy Island segeln wir die etwas mehr als 30 Seemeilen an einem halben Tag. Der Wind bläst von schräg achtern – so macht Katamaransegeln wirklich Spaß.
Der Arzt meint, dass alles gut und gesund aussieht. Wir freuen uns und passen unsere Pläne den Gegebenheiten an. Es gibt zwei Optionen: zur Geburt nach Hause zu fliegen oder in der Karibik zu bleiben. Und es gibt tausend Faktoren, die mit reinspielen: Familie und Finanzen, Sicherheit und Versicherung und nicht zuletzt die aktuelle Covid-Lage auf beiden Seiten des Atlantiks. Wir freuen uns riesig auf unser neues Crewmitglied und darauf, mit der Rasselbande die nächsten Jahre die Weltmeere zu erforschen. Wie bereits erwähnt, wir müssen uns ernsthaft fragen, ob Kira und ihr zukünftiges Geschwisterchen sinnbildlich für die nächste Generation Wale und Haie, Walhaie und Haifische, Korallenriffe und Rifffische noch zu sehen bekommen oder diese nur von Bildern und aus Erzählungen kennen werden.
St. Vincent and the Grenadines
Am nächsten Tag möchten wir nach Union Island segeln. Die zu St. Vincent and the Grenadines gehörende Nachbarinsel ist zwar nur vier Meilen von Carriacou entfernt, aber in Covid-Zeiten ist alles etwas komplizierter. Wir gehen auf Risiko und klarieren, ohne die Ergebnisse zu kennen, direkt nach dem PCR-Test aus. Unsere Visa sind bis auf den letzten Tag ausgereizt, und wir möchten vermeiden, Gebühren für einen weiteren Monat zu zahlen. Sobald uns die wie erhofft negativen Testergebnisse vorliegen, machen wir uns auf den Weg nach Union Island, wo wir die gelbe Flagge, der Buchstabe Q wie Quarantäne des Flaggenalphabetes, setzen und an eine der offiziellen Bojen gehen.
Kurz darauf kommt ein etwas rundlicher, sympathischer und geschäftstüchtiger Mann in seinem kleinen Speedboat längsseits, stellt sich als Buddha vor und verkauft uns, einmal nicht aufgepasst, völlig überteuertes Bananabread. Aber er meldet uns auch gleich an und sorgt dafür, dass wir früh am nächsten Tag einklarieren können. Somit hat sich der teure Preis für das lokale Gebäck wieder etwas relativiert. Und lecker war’s außerdem. Die Einreise geht schnell und einfach vonstatten. Die Kosten eines weiteren PCR-Tests und das damit verbundene unvergleichliche Gefühl, als ob einem das Gehirn durch die Nase gezogen würde, bleiben uns nach einmal Fiebermessen glücklicherweise erspart. Die gelbe Flagge geht runter, und unter der Steuerbordsaling weht jetzt die Gastlandflagge von SVG.
Reunion auf Union
"Wo bleibt der denn?" – "Der kommt doch immer im Dunkeln an." Stimmt. Ob Marokko, Kanaren, Kapverden oder Senegal, der "Streuner" kommt immer kurz nach Sonnenuntergang an. Und auch dieses Mal ist es wieder so. Kurz nach Dunkelheit tuckert plötzlich ein kleines, uns wohlbekanntes Boot neben uns in die Lagune. Großes Wiedersehen! Drei Jahre nach unserem ersten Treffen in Rabat, Marokko, und zwei Jahre, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, heißt es jetzt Reunion auf Union Island. Nachdem André am nächsten Tag ebenfalls einklariert ist, werfen wir die Leinen los und segeln um die Ecke zu dem ruhigen und schönen Ankerplatz hinter Frigate Island.
Der Anker fällt auf etwa eineinhalb Meter glasklarer Wassertiefe, und außer uns sind nur zwei andere Boote vor Anker: ein französisches Pärchen und – tada – die kleine rote "Aracanga". Und so treffen sich nicht nur die Crews, sondern auch die Boote, die auf der anderen Seite des Atlantiks in Afrika so viel Zeit gemeinsam verbracht haben, wieder. Tage und Abende vergehen mit Kaffee bei Sonnenschein, Rumpunsch bei Mondschein und damit, die Erlebnisse der vergangenen zwei Jahre zu bequatschen.
Von Frigate Island segeln wir um die Westspitze der Insel in die malerische Chatham Bay. Die Buchten werden immer karibischer, der Sandstrand weißer und die Palmen mehr. Auch hier bleiben wir zwei Nächte. Wie fast immer fällt etwas Arbeit an, diesmal ist es ein undichter Simmerring unseres Wassermachers, der getauscht werden muss, und das Unterwasserschiff, das wieder einmal von Bewuchs befreit werden möchte.
Von Union Island sind es wieder nur wenige Seemeilen zur Nachbarinsel Mayreau. Die kurze Überfahrt ist rau und ruppig und der Bug beziehungsweise die beiden Buge donnern immer wieder krachend in die Welle. Kira steht an ihrem Lieblingsplatz neben dem Steuerrad, hat ihren Spaß und ruft bei jeder Welle "Bumm!". Das Krachen der Wellen ist ein Geräusch, das uns seit dem Kauf des Katamarans wohlbekannt geworden und immer noch sehr suspekt ist. Ein paar "Bumms" später schlägt die Müdigkeit zu und die große Dame bringt die kleine Dame in die Koje zum Mittagsschlaf.
Noch ein paar "Bumms" später ein Rundumblick, ein Routineblick in die Kajüte und ein leises "Oh, Sch…". Obwohl nur geflüstert, ist Riki gleich alarmiert, kommt aus der Koje geschossen und blickt mich an. Ich blicke auf den Kajütboden. Wir blicken beide auf den Kajütboden: Im Salon schwimmt das Wasser etwa zwei Zentimeter hoch. Ein schneller Blick in die beiden Rümpfe: trocken. Gedanken schießen durch den Kopf: "Süßwasser? Salzwasser? Ein Riss im Laminat? Kommt das Wasser von vorn ins Brückendeck?" Riki probiert: "Salzwasser." Dann noch mal: "Schmeckt komisch, ist aber Süßwasser." Dann hören wir die Druckwasserpumpe brummen und schalten sofort die entsprechende Sicherung aus. Das Süßwasser ist vom Tank über eine geplatzte Schlauchverbindung in den Salon gepumpt worden. Ärgerlich! Aber alles halb so schlimm, wir kümmern uns darum, wenn wir da sind.
Mayreau
Den alten Teppich im Salon wollten wir sowieso irgendwann rausreißen, also machen wir das gleich. Das ist schnell passiert, aufwändiger sind die vielen Klebereste, mit denen der Teppich auf dem Holzboden befestigt ist. Wir arbeiten, bis Kira aufwacht, machen dann eine Pause am Strand, und am Abend geht es weiter, bis schließlich alle Klebereste entfernt sind. Glücklicherweise regnet es in der Nacht heftig, und am nächsten Tag ist der Tank schon wieder fast halb voll mit Regenwasser.
Mayreau bietet mit der Saline Bay und der Salt Whistle Bay zwei malerische Ankerbuchten. Wir bleiben eine Woche in der ersten und über zwei Wochen in letzterer. Mit unseren 90 Zentimeter Tiefgang können wir fast bis an den Strand fahren und im flachen Wasser liegen. Hinter den Kokospalmen an der schmalsten Stelle der Insel sehen wir von unserem supergeschützten, glasklaren und türkisfarbenen Ankerplatz die sich am Riff brechenden Wellen auf der Luvseite der Insel.
Wenige Seemeilen weiter liegen die Tobago Cays, die wohl bekanntesten Steinhaufen der östlichen Karibik. Ein Traum. Als wir ankommen, liegen außer uns nur zwei andere Boote in der Salt Whistle Bay. Da es sehr windig ist, sind wir jedoch nicht die Einzigen, die sich in die ruhige Bucht verkriechen. In der zweiten Nacht liegen an dem Ankerplatz, von der der Cruising Guide sagt, dass sie mit einem Dutzend Booten voll ist, außer uns 24 andere Boote vor Anker. Aber nicht kleine Boote wie wir oder der "Streuner". Es sind allesamt riesige Katamarane mit 50 bis 75 Fuß Länge, dicken Subwoofern und den unterschiedlichsten Musikgeschmäckern. Fast immer mit an Bord: Mr "Schaut meine eingeölten Muskeln an" und Miss "Tiefer-Ausschnitt-Instagram-Selfie".
Mit dem Wissen, dass die Kats sämtlich am nächsten Tag wieder ablegen, ist es für uns hauptsächlich amüsant, das Treiben zu beobachten. Durch unseren geringen Tiefgang liegen wir etwas abseits des "Gefahrenbereichs", und nur zweimal müssen wir andere Boote, die Bordwand an Bordwand mit uns ankern, höflich bitten, die Wahl ihres Ankerplatzes nochmals zu überdenken. "Das geht schon, wir können doch Fender ausbringen" ist die Antwort. Manchmal haben wir den Eindruck, dass bei einigen Zeitgenossen eine "Me first" und eine "Ich kann, denn ich bin versichert"–Mentalität herrscht. Leute, bitte nehmt Rücksicht aufeinander. Wer zuletzt kommt, der muss eben weiter draußen ankern oder in die in diesem Fall nur eine Meile entfernte Nachbarbucht ausweichen.
Aber wie prophezeit, am nächsten Tag ist der Spuk vorbei und die weiteren Nächte sind es meist nur eine Handvoll Boote, die mit uns in der Bucht vor Anker liegen. Zumindest ein Boot ist in die Nachbarbucht ausgewichen und kommt tags drauf in die leergefegte Salt Whistle Bay: Es ist François Gabart mit seiner Familie auf Urlaubssegeltörn. Er ist der erfolgreichste Einhandsegler, Vendée-Globe-Gewinner und mit 42 Tagen schnellster Solo-Weltumsegler. Wir hätten ihn nicht erkannt, aber Freunde von uns machen uns darauf aufmerksam.
Etwas später paddeln wir mit unseren SUPs an den Strand, Kira zeigt auf die anderen Kinder, die einige Meter weiter am Strand spielen, ruft freudig: "Da, Kinder", und rennt auf sie zu. So lernen wir den französischen Ausnahmesegler treffen, der Kira gleich eine Schaufel in die Hand drückt, sich als François vorstellt und meint, dass er irgendwann auch gern mit der Familie auf einem Boot leben möchte, bis dahin aber noch ein paar Jahre arbeiten müsse. Wir lassen uns nicht anmerken, dass wir ihn kennen, und buddeln alle gemeinsam mit den Kindern im Sand.
Von Mayreau segeln wir mit einem Übernachtungsstopp auf Canouan weiter nach Bequia. In der Nacht soll es windig und regnerisch werden, weswegen wir den Zwischenstopp einlegen. Noch ein Blick auf den Wetterbericht, dann geht es ab in die Koje. Kurz darauf ziehen die ersten Böen durch und Strömung, Regensqualls und Fallwinde lassen uns immer wieder im Kreis um den Anker drehen. Viel Schlaf gibt es nicht in dieser Nacht, die vielen Winddreher und Verwirbelungen hinter dem vorstehenden Kap haben wir so nicht erwartet. Als dann gegen zwei Uhr morgens im strömenden Regen der Anker zu slippen beginnt, geht es schnell: Maschine an, Vorwärtsgas, Anker hoch. Und wo wir jetzt eh wach sind, können wir auch gleich nach Bequia weiterfahren.
Weihnachten 2021 auf Bequia
Nach sechs ungemütlichen Stunden fällt der Anker wieder. Wir machen Kaffee und springen ins Wasser. Willkommen in der Admirality Bay in Bequia. Alles hier macht den Eindruck einer kleinen, süßen, romantischen, fast kitschig-intakten Welt. Ein Freund, den wir hier wiedertreffen, bemerkt treffend: "Das ist ja wie Bullerbü in der Karibik." Bequia ist ein beliebter Ort, um Weihnachten und Silvester zu feiern. Kira lernt ihren kleinen Kumpel Sam kennen, und gemeinsam toben sie jeden Tag am Strand. Schon bald redet Kira von nichts anderem als von Sam und davon, dass sie jetzt unbedingt und superdringend zum Strand schwimmen muss, um mit Sam im Sand zu spielen. Uns ist das recht, denn wir freunden uns gut mit den halb hiesigen, halb schottischen Eltern an und feiern Weihnachten gemeinsam am Strand.
An der lokalen Strandbar gibt es einfaches, aber leckeres Essen, das auf einem extra für Weihnachten grob zusammengenagelten Tisch mit Hockern aus Sandsäcken serviert wird. Kira bekommt einen aufblasbaren Fisch, ein Malbuch und ein paar Duplosteine. Den restlichen Abend ist sie damit beschäftigt, gemeinsam mit Sam auf den Rücken des Fisches zu klettern und mit Geschrei in den Sand zu springen.
Auf nach Martinique
Am zweiten Weihnachtsfeiertag bietet sich ein gutes Wetterfenster, die etwa 100 Meilen nach Martinique zu segeln, wo unser Kumpel André mit Damenbesuch auf seinem "Streuner" mit einer defekten Zylinderkopfdichtung festsitzt. Bei Ostwind mit wunderbaren 15 Knoten geht es für uns los. Wir segeln vorbei an St. Vincent und Saint Lucia, und nach dem vielen Gegenwind der letzten Wochen ist es ein Genuss, bei Halbwind und mit wenig Welle unterwegs zu sein. Unsere "Aracanga 2" macht ihre Sache wunderbar und steuert sich über weite Strecken von selbst. Endlich macht das Segeln auf dem Katamaran Spaß. Zwischen den Inseln segeln wir mit sechs bis sieben Knoten Speed, im Windschatten der Inseln jedoch müssen wir zeitweise den Motor anschmeißen, um das kurze, gute Wetterfenster auszunutzen. Denn für den nächsten Tag ist zunächst Flaute und dann sind wieder 20 Knoten gegenan vorhergesagt.
Martinique
Und plötzlich sind wir wieder dort, wo unsere Reise 2018 begonnen hat, in Frankreich. Zwischen Weihnachten und Silvester kommen wir nach einer wunderschönen Überfahrt im Morgengrauen in der großen Bucht von Le Marin auf Martinique an. Die zur EU gehörige Insel liegt etwa mittig in den kleinen Antillen und ist die bevölkerungsreichste des Inselbogens. Und nicht nur Menschen, auch Boote sind hier zahlreich vertreten. Kira schläft noch, als wir im Morgengrauen langsam in die Bucht einlaufen. Zunächst erblicken wir nur drei Masten, hier muss also der Ankerplatz sein. Kurze Zeit später finden wir uns in einem Gewimmel von Hunderten und Aberhunderten Ankerliegern wieder und haben das Gefühl, keinen Ausweg aus dem Labyrinth an Booten zu finden.
Kurzfristig beschließen wir, nicht hier vor Saint-Anne im äußeren Bereich der Bucht zu ankern, sondern die kurze Strecke bis nach Le Marin weiterzufahren, wo der Damenbesuch und die defekte Zylinderkopfdichtung warten. Gegen sechs Uhr, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, liegen wir neben dem kleinen, türkisfarbenen Boot am Anker. "Schön ist was anderes" ist der erste Eindruck, aber es ist trotzdem schön, hier zu sein. Kurze Zeit später geht die Sonne glühend am Horizont auf und schickt die ersten warmen Strahlen an Bord.
Wir bleiben drei Tage in Le Marin. Es ist nicht schön, aber praktisch hier. Lebensmittel sind im Vergleich zu den anderen Inseln der Antillen auf Martinique sehr günstig, und auch ansonsten findet man viel, wonach man in der restlichen Karibik vergeblich sucht. Der erste Gang zum Einkaufen ist ein kleiner Kulturschock, sind wir doch von den vielen Monaten in Grenada und Saint Vincent eher Kioske als Supermärkte gewohnt. Plötzlich zahlen wir wieder mit Euros, obwohl wir mitten in der Karibik sind, bekommen Baguette und Croissants beim Bäcker um die Ecke und telefonieren mit unserer deutschen Handynummer. Wüssten wir nicht, dass wir viele Meilen über den Atlantik hierher gesegelt sind, wir würden uns irgendwo in Südfrankreich am Mittelmeer wähnen.
An Silvester schleppen wir zunächst unsere Freunde mit unserem Dingi nach Saint-Anne und fahren dann ebenfalls die kurze Strecke zu dem zwar ebenso überfüllten, aber doch weitaus schöneren Ankerplatz. Dann wird für den Abend vorbereitet, es werden Salate gemacht, Saucen angerührt und Nachspeisen zubereitet. Am Abend kommen mehrere Freunde an Bord. Der Grill brutzelt. Kira, deren Lieblingsbeschäftigung es ist, Getränke aus dem Kühlschrank zu verteilen, füllt uns alle in den nächsten Stunden nach Strich und Faden ab. Um acht Uhr gibt es ein großes Feuerwerk aus nächster Nähe, das für viele "Ohs" und "Ahs" sorgt und das kleinste Crewmitglied mit weit aufgerissenen Augen und Mund staunen lässt. Die Zeit bis zwölf Uhr geht schnell rum, auf Bier folgt Wein, folgt Rum und von Feuerwerk zum Jahreswechsel keine Spur. Macht aber nichts, so wie es war, war es perfekt, für alle ein super Abend und ganz speziell für Kira ein bleibendes und beeindruckendes Erlebnis.
In den Tagen nach Silvester machen wir uns viele Gedanken über die kommenden Monate. Wir sind nach Martinique gesegelt mit dem Plan, hier zur Geburt von Kiras Geschwisterchen zu bleiben. Aber zu 100 Prozent haben wir uns doch noch nicht festgelegt, vieles spricht fürs Hierbleiben, vieles spricht fürs nach Hausefliegen. Nach einigem Hin und Her überlegen entscheiden wir uns dann doch dafür, Flüge nach Deutschland zu buchen und für drei Monate nach Hause zu fliegen. Einerseits fällt es uns schwer, das Boot so lange allein auf Martinique zu lassen und von der karibischen Wärme in den süddeutschen Winter zu reisen, andererseits, und das andererseits überwiegt schwer, freuen wir uns riesig auf Familie und Freunde.
Heimaturlaub: kalt, aber schön! Es ist schön, viele Freunde und natürlich allen voran die Familie wiederzusehen. Gleichzeitig freuen wir uns aber auch schon wieder sehr auf unser beschauliches Leben auf unserem kleinen schwimmenden Zuhause. Kira geht es genauso. Sie genießt die Tage, spielt stundenlang mit ihren Cousinen und lernt neue Freunde kennen. Am Abend aber, wenn dann der Akku leer ist, schlägt das Heimweh zu. Lustigerweise bedeutet Heimweh für Kira das Gegenteil von dem, was es bei uns wäre. Für Kira ist es Heimweh nach dem Boot. Nach einem langen Tag voller Landabenteuer liegt sie im Bett und erzählt von der "Aracanga", vom Schwimmen oder davon, dass Kira morgen mit dem Dingi an den Strand fahren möchte.
Und plötzlich sind wir zu viert. Ja, obwohl so eine Schwangerschaft neun Monate dauert und man meinen sollte, neun Monate seien genügend Zeit, sich auf das Bevorstehende einzustellen, passiert dann alles ganz plötzlich. Anfang April halten wir unsere Tochter Naia im Arm. Der Name Naia hat mehrere Herkünfte und Bedeutungen, die jedoch alle eine Gemeinsamkeit haben: das Wasser. Im Hawaiianischen bedeutet der Name Naia Delphin, im Baskischen Welle, und aus dem Griechischen sind die Najaden, die Wassernymphen, ein Begriff. Wir haben den Namen zum ersten Mal an Weihnachten auf Bequia gehört, die Tante von Kiras kleinem Kumpel Sam heißt so.
Der Heimaturlaub ist schnell vorüber, und wir machen uns auf den langen Weg zurück auf unser Boot. Obwohl wir durch unseren reisenden Lebensstil durchaus gewohnt sind, Abschied zu nehmen, fällt dieser Abschied besonders schwer.
Zurück an Bord
Nach einer abenteuerlichen Reise mit Zug, Flieger, Taxi und Dingi kommen wir wohlbehalten zurück in Martinique an. Die nächsten Tage richten wir uns ein an Bord. Einkaufen, Wassertanks füllen, einräumen, aufräumen, Beiboot aufpumpen. Wir müssen uns alle wieder an das Bordleben und die Hitze gewöhnen. Es ist schön, wieder auf dem Boot zu sein, es ist wunderbar, jetzt zu viert hier sein zu können, aber es ist auch eine Herausforderung mit zwei kleinen Kindern.
Glücklicherweise verfliegen die leisen Zweifel, die in den ersten vom Chaos beherrschten Tagen manchmal leise anklopfen, schnell wieder, und wir finden uns gut zurecht. Es ist eine Einstellungsfrage, der Fokus hat sich ganz klar auf die Kinder verschoben.
Ein Kat für ein Jahr
Ein Jahr haben wir unser neues Boot nun, und um ganz ehrlich zu sein, ist der Katamaran für uns nicht das Boot, mit dem wir auf Dauer glücklich sind. Er ist ein tolles Boot, er bietet Platz und eröffnet Orte, die uns mit unserer alten "Aracanga" verschlossen geblieben wären.
Trotzdem, was das Segeln angeht, werden wir mit einem Katamaran nicht warm. Uns fehlen die weichen Bewegungen des Einrumpfers, wenn das Boot in die Welle eintaucht, einfach das Gefühl zu segeln. Außerdem möchten wir in den nächsten Jahren nicht nur warme, sondern auch kältere Gegenden ansteuern, wofür wir Dinge wie eine entsprechende Dieselkapazität benötigen, auch um eine Heizung betreiben zu können. Aus diesen Gründen haben wir uns dazu entschlossen, den Kat zu verkaufen und uns wieder nach einem Mono umzusehen. Und wenn wir diesen Schritt tun, dann macht es nur Sinn, ihn gleich zu tun. Denn sobald wir einmal die Karibik in Richtung Pazifik verlassen haben werden, wird es mau und teurer auf dem Bootsmarkt.
Noch in Deutschland schreiben wir unsere "Aracanga 2" zum Verkauf aus. Nach etwa zwei Wochen auf Martinique segeln wir in einem Rutsch zurück nach Grenada, wo wir bereits einen Monohull im Auge haben. Der Wetterbericht verspricht eine ruhige und entspannte Überfahrt – 15 Knoten Wind und ein bis eineinhalb Meter Welle –, ein Wetterfenster, das wir gerne nutzen. Vormittags segeln wir aus der großen Bucht von St.-Anne im Süden Martiniques heraus und nehmen Kurs 200 Grad. Im Lee der Inseln St. Lucia, St. Vincent und der Grenadinen segeln wir bei guten Bedingungen nach Süden. Lediglich an den Nord- und Südspitzen der größeren Inseln ist etwas mehr Strömung und eine unangenehmere Welle, aber alles in allem sind die 155 Seemeilen nach Grenada, für die wir etwas mehr als einen Tag benötigen, angenehm zu segeln. Im Morgengrauen sind wir querab von Canouan, und im Laufe des Vormittages kommt die Silhouette Grenadas in Sicht. Die letzten Meilen im Windschatten der Insel starten wir den Motor, und um 16 Uhr liegen wir an einer Boje vor Saint George’s, der Hauptstadt Grenadas.
Glücklicherweise benötigen wir zur Einreise keine Covid-Tests mehr, sodass das Einklarieren am nächsten Vormittag schnell und unkompliziert vonstattengeht.
Zurück in Grenada
Jetzt sind wir wieder dort, wo wir vor einem Jahr waren: zurück in Grenada. Und wieder verkaufen und kaufen wir ein Boot, doch diesmal nicht des Platzes, sondern des Segelns halber. Wir sind die Exotenfamilie, die von einem Kat auf einen Monohull wechselt. Andere Familien, die wir kennen, gehen den umgekehrten Schritt mit dem Platz- und Komfortargument: "Man verbringt 90 Prozent der Zeit am Ankerplatz, da kommt es nicht auf die Segeleigenschaften an."
Wir kennen und verstehen das Argument, gewichten das Gegenargument jedoch stärker: "Wir verbringen nur zehn Prozent mit Segeln, dann sollen diese so unvergesslich wie möglich sein." Ja, der Kat war eine gute Zeit, eine gute Erfahrung, und er ist definitiv ein gutes Boot, das wir ins Herz geschlossen haben. Aber wie gesagt, für uns ist er nicht das Boot auf Dauer.
Weitere Infos, Bilder und Artikel zur Reise der "Aracanga" unter Ahoi.blog